Es könnte ein wegweisendes Urteil für die Klimapolitik der europäischen Staaten und für weitere Klimaklagen sein: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem Urteil vom Dienstag anerkannt, dass der Klimawandel die Menschenrechte bedroht – und mangelnder Klimaschutz sie gefährdet. Es gab einer Klage Schweizer Bürgerinnen gegen die Politik ihres Landes statt, lehnte aber weitere Klagen ab.
Weil Staaten verpflichtet sind, die grundlegenden Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger zu schützen, lässt sich daraus eine staatliche Pflicht zum Klimaschutz ableiten.
Im Einzelnen befindet der Gerichtshof:
Das Gericht moniert, es fehle der Schweiz an einem CO₂-Budget oder klaren Obergrenzen. Allerdings schreibt das Klimaschutzgesetz der Schweiz vom vorigen Jahr solche Minderungsziele für 2040 (minus 75 Prozent) und 2050 (Netto-Null) durchaus vor – und formuliert dazwischen Durchschnittswerte für die Jahre und Sektoren. Dazu gibt es die Möglichkeit, Negativemissionen anzurechnen. Das Gesetz kam hier offenbar für das Gericht zu spät, das vorher verhandelte – und es setzt die Obergrenzen erst ab 2030 fest.
Es war die erste Klimaklage überhaupt, die vor dem EGMR verhandelt wurde. Formal bindet das Urteil zunächst nur die Schweiz. Aber es dürfte darüber hinaus eine Signalwirkung für die Gerichte in ganz Europa entfalten. Der EGMR gehört zum Europarat und ist für die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention zuständig, damit sind seine Urteile relevant für alle Mitgliedstaaten des Europarats.
Die Schweizer Seniorinnen hatten gegen den Schweizer Staat geklagt, weil dieser nicht genügend gegen die Erderwärmung tue. Aufgrund ihres Alters seien sie gesundheitlich besonders von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen.
Zwei weitere Klimaklagen wies der EGMR jedoch ab. Damien Carême, ein grüner Europapolitiker, der seine Menschenrechte wegen des steigenden Meeresspiegels beeinträchtigt sah, sei nicht persönlich durch die Auswirkungen des Klimawandels betroffen. Deshalb sei seine Klage nicht zulässig. Der Mann lebt nicht mehr in seinem ursprünglichen Heimatort am Ärmelkanal.
Eine Gruppe portugiesischer Jugendlicher und junger Erwachsener, die gegen sämtliche Mitgliedstaaten des Europarats geklagt hatten, wurde ebenfalls abgewiesen. Ihr Klagerecht beschränke sich auf ihren Heimatstaat Portugal, befand das Gericht – und dort hätten sie vor der Anrufung des EGMR zunächst den Rechtsweg zu Ende gehen müssen.
“Diese Entscheidung ist definitiv ein Wendepunkt“, sagt Corina Heri, Menschenrechtsexpertin der Universität Zürich, zu Table.Briefings. Sie bedeute, dass “die Auswirkungen der globalen Erwärmung auf Menschen sehr wohl unter die Menschenrechte fallen, und bestätigt, dass diese Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gebracht werden können”.
Die Zulassung der Klage durch den Verein zeige, dass das Gericht signalisiere, dass es gebündelte Klimafälle bevorzuge, so Heri weiter. Mit seiner Entscheidung habe der EGMR den Weg für zukünftige Klimaklagen in Europa gewiesen: Man gehe zuerst zum nationalen Gericht und reiche eine Klage als Organisation ein, erklärte Heri.
Die Schweizer Regierungspartei SVP reagierte erzürnt auf das Urteil. In den europäischen Gerichtspalästen herrsche “Ideologie und Realitätsverweigerung”, teilte die Partei mit. Es handele sich um eine “dreiste Einmischung in die Schweizer Politik”, die für ein souveränes Land inakzeptabel sei. Die SVP fordert daher den Austritt der Schweiz aus dem Europarat.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), wonach die Schweizer Klimaschutzpolitik gegen das Menschenrecht auf Leben und Gesundheit verstößt, könnte nach Einschätzung von Umwelt-Juristen auch wichtige Konsequenzen für Deutschland haben. Denn zum einen liegt beim EGMR derzeit auch ein deutscher Fall: Nachdem eine Verfassungsbeschwerde gegen die unzureichenden Klimaschutzpläne im Juni 2022 vom Bundesverfassungsgericht nicht angenommen wurde, hatten die Kläger Beschwerde beim EGMR eingereicht. Beschwerdeführer ist der 20-jährige Klimaaktivist Linus Steinmetz.
“Dieser Fall ist eher mit dem erfolgreichen Schweizer Fall zu vergleichen”, sagte Remo Klinger, der diese von der Deutschen Umwelthilfe unterstützte Klage führt. Denn in Deutschland wurde – wie in der Schweiz und anders als bei der abgewiesenen Klage aus Portugal – der nationale Rechtsweg bereits ausgeschöpft, was eine Voraussetzung für die Klageberechtigung vor dem EGMR ist.
Unklar ist dagegen, ob der deutsche Fall die zweite Hürde nimmt, nämlich die unmittelbare Betroffenheit der Klagenden. Denn bei den aktuell entschiedenen Fällen war die einer Organisation – der Schweizer Klimaseniorinnen – erfolgreich, während die Klagen von Einzelpersonen abgewiesen worden, weil deren besondere Betroffenheit nicht belegt werden konnte. Die deutsche Beschwerde wird aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls von Einzelpersonen geführt.
Allerdings folge daraus nicht automatisch, dass sie ebenfalls abgewiesen wird, denn die deutsche Klage bezieht sich nicht auf die Gefährdung von Leben und Gesundheit, sondern auf die Verletzung von Freiheitsrechten, wo die Betroffenheit anders sei, erläutert Klinger. Auch Beschwerdeführer Steinmetz gibt sich darum eher hoffnungsvoll. “Dass eine unzureichende Klimapolitik die künftigen Freiheitsrechte der jungen Generation einschränken würde, können wir sehr klar nachweisen”, sagte er Table.Briefings.
Zum anderen könnte das Urteil künftige weitere Verfahren beeinflussen. “Es wird auf jeden Fall Auswirkungen auf den deutschen Rechtsraum haben”, meint Umwelt-Juristin Roda Verheyen, die bei den jüngsten Prozessen in Straßburg als Streithelferin beteiligt war. So müssten künftig Klagen von Organisationen zulässig sein, die in Deutschland bisher abgewiesen wurden. Wichtig ist aus Verheyens Sicht zudem, dass der EGMR die Beweislast umgekehrt habe, sagte sie Table.Briefings. “Künftig muss der Staat begründen, dass seine Politik ausreichend ist.” Für die Durchsetzung entsprechender Urteile seien dann wieder die nationalen Gerichte zuständig.
Auch die Organisation Client Earth, die die aktuellen Verfahren mit einem sogenannten Amicus-curie-Brief unterstützt hatte, geht von weitreichenden Folgen in ganz Europa aus. “Da das Urteil des Gerichtshofs bindend ist, haben die Unterzeichnerstaaten nun eine klare rechtliche Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass ihre Klimamaßnahmen ausreichen, um die Menschenrechte zu schützen”, erklärte Vesselina Newman. “Richterinnen und Richter in ganz Europa werden diese neuen Grundsätze auf die wachsende Zahl der ihnen vorliegenden Klimafälle anwenden müssen.”
Die Bundesregierung reagierte gelassen auf die Entscheidung aus Straßburg. Dies sei “nicht was ganz Neues”, sagte Außenministerin Annalena Baerbock bei einer Pressekonferenz mit Verweis auf das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts. “Wir sehen eben, dass die Klimakrise in anderen Ländern auf dieser Welt, auch in allen europäischen Ländern, eine der Haupt-Sicherheitsgefahren ist und dass sich deswegen Gesellschaften auch aus Sicherheitsgründen diesen stellen müssen.” Zusätzlichen Handlungsbedarf sieht sie aber offenbar nicht. “Das tun wir als deutsche Bundesregierung mit unseren Klimaschutzmaßnahmen”, sagte Baerbock.
Ein Sprecher des von Robert Habeck geführten Bundeswirtschaftsministeriums erklärte auf Anfrage, die Verfahren “unterstreichen die Tragweite der Klimakrise und die Schutzpflichten des Staates im Kontext der Klimakrise”. Auch nach Ansicht des BMWK erfüllt Deutschland diese aber bereits. “Für die Bundesregierung ist entscheidend, dass die deutschen Klimaziele bis 2030 tatsächlich erreicht werden”, so der Sprecher. “Die entsprechenden derzeitigen Prognosen legen das nahe.” Im Gegensatz dazu hatte der Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen kürzlich erklärt, dass Deutschland seinen fairen Anteil an einem 1,5-Grad-kompatiblen CO₂-Budget bereits überschritten habe und die Emissionen darum sehr viel stärker senken müsse.
Es könnte ein wegweisendes Urteil für die Klimapolitik der europäischen Staaten und für weitere Klimaklagen sein: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem Urteil vom Dienstag anerkannt, dass der Klimawandel die Menschenrechte bedroht – und mangelnder Klimaschutz sie gefährdet. Es gab einer Klage Schweizer Bürgerinnen gegen die Politik ihres Landes statt, lehnte aber weitere Klagen ab.
Weil Staaten verpflichtet sind, die grundlegenden Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger zu schützen, lässt sich daraus eine staatliche Pflicht zum Klimaschutz ableiten.
Im Einzelnen befindet der Gerichtshof:
Das Gericht moniert, es fehle der Schweiz an einem CO₂-Budget oder klaren Obergrenzen. Allerdings schreibt das Klimaschutzgesetz der Schweiz vom vorigen Jahr solche Minderungsziele für 2040 (minus 75 Prozent) und 2050 (Netto-Null) durchaus vor – und formuliert dazwischen Durchschnittswerte für die Jahre und Sektoren. Dazu gibt es die Möglichkeit, Negativemissionen anzurechnen. Das Gesetz kam hier offenbar für das Gericht zu spät, das vorher verhandelte – und es setzt die Obergrenzen erst ab 2030 fest.
Es war die erste Klimaklage überhaupt, die vor dem EGMR verhandelt wurde. Formal bindet das Urteil zunächst nur die Schweiz. Aber es dürfte darüber hinaus eine Signalwirkung für die Gerichte in ganz Europa entfalten. Der EGMR gehört zum Europarat und ist für die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention zuständig, damit sind seine Urteile relevant für alle Mitgliedstaaten des Europarats.
Die Schweizer Seniorinnen hatten gegen den Schweizer Staat geklagt, weil dieser nicht genügend gegen die Erderwärmung tue. Aufgrund ihres Alters seien sie gesundheitlich besonders von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen.
Zwei weitere Klimaklagen wies der EGMR jedoch ab. Damien Carême, ein grüner Europapolitiker, der seine Menschenrechte wegen des steigenden Meeresspiegels beeinträchtigt sah, sei nicht persönlich durch die Auswirkungen des Klimawandels betroffen. Deshalb sei seine Klage nicht zulässig. Der Mann lebt nicht mehr in seinem ursprünglichen Heimatort am Ärmelkanal.
Eine Gruppe portugiesischer Jugendlicher und junger Erwachsener, die gegen sämtliche Mitgliedstaaten des Europarats geklagt hatten, wurde ebenfalls abgewiesen. Ihr Klagerecht beschränke sich auf ihren Heimatstaat Portugal, befand das Gericht – und dort hätten sie vor der Anrufung des EGMR zunächst den Rechtsweg zu Ende gehen müssen.
“Diese Entscheidung ist definitiv ein Wendepunkt“, sagt Corina Heri, Menschenrechtsexpertin der Universität Zürich, zu Table.Briefings. Sie bedeute, dass “die Auswirkungen der globalen Erwärmung auf Menschen sehr wohl unter die Menschenrechte fallen, und bestätigt, dass diese Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gebracht werden können”.
Die Zulassung der Klage durch den Verein zeige, dass das Gericht signalisiere, dass es gebündelte Klimafälle bevorzuge, so Heri weiter. Mit seiner Entscheidung habe der EGMR den Weg für zukünftige Klimaklagen in Europa gewiesen: Man gehe zuerst zum nationalen Gericht und reiche eine Klage als Organisation ein, erklärte Heri.
Die Schweizer Regierungspartei SVP reagierte erzürnt auf das Urteil. In den europäischen Gerichtspalästen herrsche “Ideologie und Realitätsverweigerung”, teilte die Partei mit. Es handele sich um eine “dreiste Einmischung in die Schweizer Politik”, die für ein souveränes Land inakzeptabel sei. Die SVP fordert daher den Austritt der Schweiz aus dem Europarat.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), wonach die Schweizer Klimaschutzpolitik gegen das Menschenrecht auf Leben und Gesundheit verstößt, könnte nach Einschätzung von Umwelt-Juristen auch wichtige Konsequenzen für Deutschland haben. Denn zum einen liegt beim EGMR derzeit auch ein deutscher Fall: Nachdem eine Verfassungsbeschwerde gegen die unzureichenden Klimaschutzpläne im Juni 2022 vom Bundesverfassungsgericht nicht angenommen wurde, hatten die Kläger Beschwerde beim EGMR eingereicht. Beschwerdeführer ist der 20-jährige Klimaaktivist Linus Steinmetz.
“Dieser Fall ist eher mit dem erfolgreichen Schweizer Fall zu vergleichen”, sagte Remo Klinger, der diese von der Deutschen Umwelthilfe unterstützte Klage führt. Denn in Deutschland wurde – wie in der Schweiz und anders als bei der abgewiesenen Klage aus Portugal – der nationale Rechtsweg bereits ausgeschöpft, was eine Voraussetzung für die Klageberechtigung vor dem EGMR ist.
Unklar ist dagegen, ob der deutsche Fall die zweite Hürde nimmt, nämlich die unmittelbare Betroffenheit der Klagenden. Denn bei den aktuell entschiedenen Fällen war die einer Organisation – der Schweizer Klimaseniorinnen – erfolgreich, während die Klagen von Einzelpersonen abgewiesen worden, weil deren besondere Betroffenheit nicht belegt werden konnte. Die deutsche Beschwerde wird aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls von Einzelpersonen geführt.
Allerdings folge daraus nicht automatisch, dass sie ebenfalls abgewiesen wird, denn die deutsche Klage bezieht sich nicht auf die Gefährdung von Leben und Gesundheit, sondern auf die Verletzung von Freiheitsrechten, wo die Betroffenheit anders sei, erläutert Klinger. Auch Beschwerdeführer Steinmetz gibt sich darum eher hoffnungsvoll. “Dass eine unzureichende Klimapolitik die künftigen Freiheitsrechte der jungen Generation einschränken würde, können wir sehr klar nachweisen”, sagte er Table.Briefings.
Zum anderen könnte das Urteil künftige weitere Verfahren beeinflussen. “Es wird auf jeden Fall Auswirkungen auf den deutschen Rechtsraum haben”, meint Umwelt-Juristin Roda Verheyen, die bei den jüngsten Prozessen in Straßburg als Streithelferin beteiligt war. So müssten künftig Klagen von Organisationen zulässig sein, die in Deutschland bisher abgewiesen wurden. Wichtig ist aus Verheyens Sicht zudem, dass der EGMR die Beweislast umgekehrt habe, sagte sie Table.Briefings. “Künftig muss der Staat begründen, dass seine Politik ausreichend ist.” Für die Durchsetzung entsprechender Urteile seien dann wieder die nationalen Gerichte zuständig.
Auch die Organisation Client Earth, die die aktuellen Verfahren mit einem sogenannten Amicus-curie-Brief unterstützt hatte, geht von weitreichenden Folgen in ganz Europa aus. “Da das Urteil des Gerichtshofs bindend ist, haben die Unterzeichnerstaaten nun eine klare rechtliche Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass ihre Klimamaßnahmen ausreichen, um die Menschenrechte zu schützen”, erklärte Vesselina Newman. “Richterinnen und Richter in ganz Europa werden diese neuen Grundsätze auf die wachsende Zahl der ihnen vorliegenden Klimafälle anwenden müssen.”
Die Bundesregierung reagierte gelassen auf die Entscheidung aus Straßburg. Dies sei “nicht was ganz Neues”, sagte Außenministerin Annalena Baerbock bei einer Pressekonferenz mit Verweis auf das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts. “Wir sehen eben, dass die Klimakrise in anderen Ländern auf dieser Welt, auch in allen europäischen Ländern, eine der Haupt-Sicherheitsgefahren ist und dass sich deswegen Gesellschaften auch aus Sicherheitsgründen diesen stellen müssen.” Zusätzlichen Handlungsbedarf sieht sie aber offenbar nicht. “Das tun wir als deutsche Bundesregierung mit unseren Klimaschutzmaßnahmen”, sagte Baerbock.
Ein Sprecher des von Robert Habeck geführten Bundeswirtschaftsministeriums erklärte auf Anfrage, die Verfahren “unterstreichen die Tragweite der Klimakrise und die Schutzpflichten des Staates im Kontext der Klimakrise”. Auch nach Ansicht des BMWK erfüllt Deutschland diese aber bereits. “Für die Bundesregierung ist entscheidend, dass die deutschen Klimaziele bis 2030 tatsächlich erreicht werden”, so der Sprecher. “Die entsprechenden derzeitigen Prognosen legen das nahe.” Im Gegensatz dazu hatte der Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen kürzlich erklärt, dass Deutschland seinen fairen Anteil an einem 1,5-Grad-kompatiblen CO₂-Budget bereits überschritten habe und die Emissionen darum sehr viel stärker senken müsse.