2030, 2050 und teils 2100 – in der Klimakrise wird häufig mit Jahreszahlen hantiert, die fälschlicherweise signalisieren, die Klimakrise liege noch in ferner Zukunft. Andere Themen scheinen immer aktueller und relevanter. Wenn in Europa russische Bomben explodieren, hat es die Klimakrise – verständlicherweise – schwer, auf die Titelseiten zu gelangen.
Dabei ist der gedankliche Sprung von der Gas-Abhängigkeit zum Klimawandel kein weiter. Doch statt einen grünen Ausweg hin zu mehr Erneuerbaren zu suchen, investieren die Staaten weltweit in die Gasförderung und -infrastruktur. Das Netto-Null-Ziel bis 2050 wird dadurch massiv gefährdet, wie Bernhard Pötter aufzeigt.
Doch die Klimafakten zeigen ein deutliches Bild. Gestern wurden auf der COP “10 neue Erkenntnisse der Klimawissenschaft” vorgestellt: Gesundheitsgefahren nehmen zu, der Klimawandel wird zu einem Thema der nationalen Sicherheit und vertreibt viele Millionen Menschen aus ihrer Heimat. Eine aktuelle Nature-Studie ergänzt: Das grönländische Eisschild schmilzt schneller als gedacht.
Trotz all dieser Gefahren, agieren die Regierungen zu langsam. Sie müssten in den Krisenmodus schalten, statt an kleinen Stellschrauben zu drehen. Wir schauen gespannt auf nächste Woche, wenn es um die politischen Entscheidungen der COP geht.
Viele neue Erkenntnisse bei der Lektüre!
Der geplante weltweite massive Ausbau der Gasindustrie bedroht laut einer neuen Studie die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze im Pariser Abkommen. Wenn alle derzeit geplanten und im Bau befindlichen Anlagen realisiert werden, könnten sie 2030 insgesamt 1,9 Milliarden Tonnen CO2 mehr ausstoßen als für den Pfad zu Netto-Null in 2050 noch tragbar wären. Das ist das Fazit des jährlichen “Climate Action Trackers” (CAT).
Nach diesen Berechnungen würde allein die sprunghaft gestiegene Nachfrage nach fossilem Erdgas insgesamt etwa zehn Prozent des verbleibenden CO2-Budgets bis 2050 aufbrauchen. Laut CAT laufen die bisherigen Planungen auf Kapazitäten für verflüssigtes Erdgas (LNG) hinaus, die schon 2030 insgesamt 680 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr liefern könnten – fünfmal so viel wie Russland nach Europa geliefert hat. Dieses “Überangebot” sei eine “Über-Planung, die heruntergeschraubt werden muss”, heißt es in dem Bericht, der von den Thinktanks Climate Analytics und New Climate Institute erstellt wird.
Durch den Krieg Russlands in der Ukraine, die Sanktionen und Unterbrechungen der russischen Gaslieferungen suchen vor allem viele europäische Staaten – allen voran Deutschland – derzeit händeringend nach neuen Gaslieferungen, etwa in Kanada, dem Nahen Osten oder in Afrika. Außerdem sind Neubauten von LNG-Terminals in Deutschland geplant.
Dieser “Goldrausch nach Gas” laufe dem Pariser Abkommen zuwider, warnt der CAT. “Fossile Brennstoffe, die wirklichen Verursacher der Klimakrise, werfen den Klimaschutz von der politischen Agenda, obwohl Effizienz, Erneuerbare und Elektrifizierung bei weitem die billigste, schnellste und sicherste Option sind”, heißt es.
Niklas Höhne vom New Climate Institute betonte: “Gas ist keine Brückentechnologie.” Im Gegenteil stehe der Brennstoff einer nachhaltigen Versorgung häufig im Weg, weil er den schnellen Ausbau der Erneuerbaren verzögere.
Auch das Versprechen der COP26 in Glasgow zu ernsthaftem Klimaschutz wurde laut CAT bisher nicht erfüllt. Der Prozess, neue und bessere Klimapläne (NDC) vorzulegen, “hat dabei versagt, die dringend nötigen Emissionsreduzierungen zu bringen, die die Regierungen versprochen haben, um die 1,5 Grad zu halten”, bemängelt der Bericht. Deshalb laufe – die Zahlen sind die gleichen wie vor einem Jahr in Glasgow – die globale Erwärmung bis 2100 derzeit auf 2,4 Grad Celsius hinaus. Das heißt, falls die Staaten tatsächlich ihre Klimaziele für 2030 erreichen und dann auf diesem Pfad weitermachen.
Wenn aber nur die bisherigen Maßnahmen weiterlaufen, erhitzt sich der Planet laut CAT-Prognose bis 2100 sogar um 2,7 Grad. Selbst wenn alle Netto-Null-Ziele und Versprechen umgesetzt würden, steigt die Temperatur immer noch auf zwei Grad. Und nur ein sehr optimistisches Szenario landet bei 1,8 Grad – und wäre damit Paris-kompatibel.
Dabei sei in der Klimapolitik 2022 durchaus einiges passiert, gestehen die Autoren zu:
Auch hätten Australien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Norwegen und Thailand ambitioniertere Klimapläne vorgelegt – während etwa die neuen Planungen von Indien, Indonesien, Ägypten oder Großbritannien nicht besser als vorher seien.
Es werde aber nach wie vor “nur in kleinen Schritten gedacht und gehandelt“, sagte Niklas Höhne. “Anders als bei der Corona-Pandemie und der Antwort auf den Ukrainekrieg schalten wir nicht in den Krisenmodus.” Das sei aber dringend nötig, wenn man sehe, dass sich bei bisherigen Trends 2030 doppelt so viele Emissionen abzeichneten wie für die 1,5-Grad-Grenze noch möglich. “Wir müssen raus aus der Komfortzone“, so Höhne.
Auch sonst stellt der CAT der Politik ein schlechtes Zeugnis aus:
Das ist auch das Ergebnis der ersten überarbeiteten GOGEL-Liste, die Umweltverbände am Donnerstag auf der COP vorgestellt haben. Die “Global Gas and Oil Exit List” bietet einen Überblick über fast alle fossilen Planungen weltweit und wie sie (nicht) zum Netto-Null-Szenario der Internationalen Energieagentur IEA passen.
Laut der aktuellen Liste:
Die öffentlich zugängliche Datenbank richtet sich vor allem an die Finanzindustrie. Mögliche Investoren sollen wissen, wo die größten Expansionspläne und die “umstrittensten Formen der Öl- und Gasförderung” zu identifizieren sind. Damit drohten möglicherweise auch Rufschädigungen für die Investoren. Denn darunter seien auch “Projekte, die gewaltsame Konflikte verschärfen, immense soziale oder ökologische Schäden verursachen oder durch Gerichtsverfahren und den Widerstand von Gemeinden angefochten werden”.
Wir können uns nicht unbegrenzt an die Klimakrise anpassen – und mit fortschreitender Erwärmung des Planeten kann unsere Anpassungsfähigkeit an neue Grenzen stoßen, beispielsweise in Form von Konflikten. Das ist ein Ergebnis von insgesamt “10 New Insights in Climate Science”, die ein internationales Konsortium von 65 Forschenden aus 23 Ländern am Donnerstag auf der COP27 vorgestellt hat.
Die zehn “Insights” fassen die wichtigsten Erkenntnisse der Klimawissenschaft aus dem vergangenen Jahr zusammen. Sie können damit als grundlegende Handlungsanweisung für die Klimapolitik gelten – und damit auch für die Delegationen auf der COP. Als Beispiele für die Grenzen der menschlichen Anpassungsfähigkeit nennt der Bericht steigende Meeresspiegel, die Küstensiedlungen überschwemmen könnten, und extreme, für den menschlichen Körper nicht mehr auszuhaltende Hitze.
Schon jetzt seien Menschen an verschiedenen Orten der Welt mit “enormen Auswirkungen” des Klimawandels konfrontiert, sagte Mercedes Bustamante, Professorin an der Abteilung für Ökologie der Universidade de Brasília. Wenn die Erde sich mehr als 1,5 oder zwei Grad erwärme, sei zu erwarten, dass weitere Anpassungsgrenzen gerissen würden.
Laut den “10 Insights” werden im Jahr 2050 drei Milliarden Menschen in Hotspots der Klimakrise leben, doppelt so viele wie heute. Der im vergangenen Februar veröffentlichte IPCC-Sachstandsbericht zur Anpassung bezifferte die Zahl der Menschen, die in gegenüber Klima-Auswirkungen besonders anfälligen Ländern leben, schon jetzt auf 3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen.
Die zehn “Insights” im Einzelnen:
In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist das Grönland-Eisschild laut einer neuen Untersuchung schneller geschmolzen als zuvor. Es fließt mehr Eis in den Ozean und das Abschmelzen der Oberfläche des Schildes nimmt zu, wie aus der Nature-Studie hervorgeht. Laut den Modellen der Forscher könnte allein der Nordostgrönländische Eisstrom bis zum Jahr 2100 zu einem Anstieg des Meeresspiegels um 1,35 bis 1,55 Zentimeter beitragen. Abhängig von den künftigen globalen CO2-Emissionen kalkuliert der IPCC mit einer Erhöhung des globalen Pegels um 50 bis 100 Zentimetern.
Die Nature-Autoren untersuchten, was sich im Landesinneren abspielt. Ältere Modelle hätten das nicht getan, so einer der Forscher. Dadurch ergäbe sich eine ganz andere Projektion zur Masseänderung und dem daraus resultierenden Meeresspiegelanstieg, sagte Erstautor Shfaqat Abbas Khan der Nachrichtenagentur AFP. “Was wir an der Front sehen, reicht weit in das Herz des Eisschildes hinein”.
Ein Hauptfaktor für den künftigen Eisverlust ist demnach der Nordostgrönländische Eisstrom (NEGIS), der durch zwei schnell fließende Gletscher zum Abfluss des Eises ins Meer beiträgt. Im letzten Jahrzehnt hat sich dieser Eisstrom “rapide beschleunigt”, so die Studienautoren verschiedener Universitäten und Forschungseinrichtungen. nib
In einer späten Sitzung einigten sich die Verhandlungsführer aus EU-Parlament, Rat und Kommission vergangene Nacht auf einen gemeinsamen Nenner bei der Verordnung über Landnutzung und Forstwirtschaft (LULUCF). Demnach wird das Ziel für die natürliche Treibhausgas-Senkleistung des Sektors, aufgeteilt auf die EU-Staaten, auf 310 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente ab 2030 festgelegt.
Das Trilog-Ergebnis stand im Wesentlichen schon im Vorfeld fest und entspricht weitgehend dem Kommissionsvorschlag sowie der Position des Parlaments. Aber die Summe ist höher als die im EU-Klimagesetz ursprünglich vorgesehenen 225 Megatonnen. Das Ergebnis ist damit ein wichtiges Signal, auch in Richtung Weltklimakonferenz COP27 in Sharm el-Sheikh. Mit dem offiziellen Abschluss der Verhandlungen kann das EU-Klimaziel de facto auf 57 Prozent CO2-Einsparung bis 2030 angehoben werden. Das dürfte die Verhandlungsposition der EU-Delegation beim Werben für die Erhöhung der Klimaziele anderer Ländern auf der COP stärken.
Ville Niinistö (Grüne), Berichterstatter des EU-Parlaments, zeigte sich zufrieden: “Wir haben jetzt ein ehrgeizigeres Ziel und strengere Berichterstattungsanforderungen sowie mehr Transparenz. Zum ersten Mal werden in dieser Gesetzgebung die biologische Vielfalt und die Klimakrise gemeinsam betrachtet, und die Mitgliedstaaten müssen auch den Grundsatz ‘Do no significant harm’ berücksichtigen”, so der Europaabgeordnete.
Bis 2025 gelten weiterhin die derzeitigen Vorgaben, wonach die Emissionen des LULUCF-Sektors die CO2-Speicherung nicht übersteigen dürfen. Ab 2026 muss die Senkleistung dann höher sein. Dabei werden die EU-Länder verpflichtet, Korrekturmaßnahmen zu ergreifen, wenn die Fortschritte bei der Erreichung ihrer Ziele nicht ausreichen.
Strittig war im Trilog bis zuletzt insbesondere die Frage nach der “Flexibilität” dieser nationalen Ziele, um den großen Schwankungen innerhalb des Sektors gerecht werden, die etwa durch Naturkatastrophen oder Dürren ausgelöst werden und von Land zu Land sehr unterschiedlich sein können. Die Ziele könnten damit geringer ausfallen, als zunächst angenommen, solange die EU-weite Gesamtleistung erreicht wird.
Die Mitgliedsstaaten haben deshalb die Möglichkeit, “Speichereinheiten” untereinander zu handeln. Außerdem können überschüssige Emissionsrechte aus dem Effort Sharing genutzt werden, um die LULUCF-Ziele zu erreichen und umgekehrt. Zuletzt war die Senkleistung des Sektors im Zeitraum 2013 bis 2019 in Folge von Trockenheit, Waldbränden und Schädlingen von 322 auf 249 Millionen Tonnen gesunken und nimmt weiter ab.
Entsprechend ist auch die Landwirtschaft gefordert, die bislang deutlich mehr Treibhausgase ausstößt als speichert. Eigene Unterziele für Ackerböden oder Moore sind allerdings in der LULUCF-Verordnung nicht vorgesehen. Wie genau die Ziele also letztlich erreicht werden sollen, bleibt weiter offen und wird teils auf andere Rechtsakte verlagert. Darunter das geplante Gesetz zur Wiederherstellung der Natur (NRL) und der Rechtsrahmen für die Zertifizierung von CO2-Speicherung. til
Sônia Guajajara ist eine kleine Frau, kaum über 1,50 Meter. Übersehen kann man sie trotzdem nicht so leicht: Sie spricht energisch und überlegt, tritt oft mit traditioneller Federkrone und bunter Kleidung auf. Damit sticht sie aus der brasilianischen Politik heraus. Und auch auf der COP27, wo sie als offizielles Mitglied der brasilianischen Delegation vor einem internationalem Publikum die indigen Anliegen vertritt.
Bei der Wahl in Brasilien wurde Guajajara für die PSOL (Partido Socialismo e Liberdade, ähnlich der deutschen Linkspartei) als Abgeordnete in den Nationalkongress gewählt. “Das ist ein großer Erfolg für die Indigenenbewegung”, sagt sie. “Ich freue mich sehr, dass unsere Stimme jetzt an diesem Ort der Macht gehört wird”. Und wohl auch international: 2022 wählte das Time Magazine sie zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Welt.
In Brasilien wollen indigene Abgeordnete mit Guajajara an der Spitze nach der Wahl von Luiz Inácio Lula da Silva auf mehr Umweltschutz pochen. Der linke Sozialdemokrat hatte am 30. Oktober die Stichwahl ums Präsidentschaftsamt gegen Jair Bolsonaro gewonnen – der wiederum demokratische Strukturen geschwächt hat und eine fatale Umweltbilanz hinterlässt.
Sônia Guajajara heißt mit bürgerlichem Namen Sônia Bone de Souza Silva Santos – indigene Aktivistinnen treten in Brasilien oft mit ihrem Vornamen und dem Namen ihres Volkes auf. Sie ist 48 Jahre alt, stammt aus dem Bundestaat Maranhão im Nordosten von Brasilien und wurde jetzt für São Paulo ins Parlament gewählt.
Im Kongress will Guajajara für die Rechte von Indigenen kämpfen. “Indigene Völker und die Rechte von Indigenen zu schützen, ist einer der besten Ansätze, um der Klimakrise zu begegnen”, sagt sie. “Wir müssen dringend die Umwelt konsequenter schützen und mit diesem ausbeuterischen Wirtschaftsmodell brechen.” Priorität hat für sie die konsequente Ausweisung von indigenen Schutzgebieten: In den letzten 40 Jahren wurden hier gerade mal 2,4 Prozent der Flächen gerodet, im Rest von Amazonien waren es rund 20 Prozent.
Im ersten Wahlgang am 2. Oktober sind fünf Indigene in den brasilianischen Nationalkongress eingezogen – mehr als je zuvor. Mit Joênia Wapichana war 2018 erstmals eine indigene Frau in den Kongress gewählt worden. Sie hat ihren Sitz bei dieser Wahl wieder verloren.
Trotzdem sind Indigene inzwischen stärker in der Politik repräsentiert. “Ich bin froh, dass wir endlich diesen Rassismus der Abwesenheit durchbrechen können”, sagt Guajajara. Schon im Vorfeld der Wahlen hatte sich abgezeichnet, dass immer mehr indigene Brasilianer und Brasilianerinnen einen Platz in der Politik anstreben. Während 2018 insgesamt 134 indigenen Kandidaturen registriert wurden, waren es in diesem Jahr bereits 175.
Es gibt zwar auch eine indigene Abgeordnete, die Bolsonaro unterstützt und sich für industrielle Landwirtschaft und Bergbau in indigenen Gebieten ausspricht. Doch Guajara zeigte sich schon am Tag nach der Stichwahl hörbar erleichtert, dass Lula gewonnen hat. Sie sagt: “Bolsonaro war für uns eine Tragödie.” Lisa Kuner
2030, 2050 und teils 2100 – in der Klimakrise wird häufig mit Jahreszahlen hantiert, die fälschlicherweise signalisieren, die Klimakrise liege noch in ferner Zukunft. Andere Themen scheinen immer aktueller und relevanter. Wenn in Europa russische Bomben explodieren, hat es die Klimakrise – verständlicherweise – schwer, auf die Titelseiten zu gelangen.
Dabei ist der gedankliche Sprung von der Gas-Abhängigkeit zum Klimawandel kein weiter. Doch statt einen grünen Ausweg hin zu mehr Erneuerbaren zu suchen, investieren die Staaten weltweit in die Gasförderung und -infrastruktur. Das Netto-Null-Ziel bis 2050 wird dadurch massiv gefährdet, wie Bernhard Pötter aufzeigt.
Doch die Klimafakten zeigen ein deutliches Bild. Gestern wurden auf der COP “10 neue Erkenntnisse der Klimawissenschaft” vorgestellt: Gesundheitsgefahren nehmen zu, der Klimawandel wird zu einem Thema der nationalen Sicherheit und vertreibt viele Millionen Menschen aus ihrer Heimat. Eine aktuelle Nature-Studie ergänzt: Das grönländische Eisschild schmilzt schneller als gedacht.
Trotz all dieser Gefahren, agieren die Regierungen zu langsam. Sie müssten in den Krisenmodus schalten, statt an kleinen Stellschrauben zu drehen. Wir schauen gespannt auf nächste Woche, wenn es um die politischen Entscheidungen der COP geht.
Viele neue Erkenntnisse bei der Lektüre!
Der geplante weltweite massive Ausbau der Gasindustrie bedroht laut einer neuen Studie die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze im Pariser Abkommen. Wenn alle derzeit geplanten und im Bau befindlichen Anlagen realisiert werden, könnten sie 2030 insgesamt 1,9 Milliarden Tonnen CO2 mehr ausstoßen als für den Pfad zu Netto-Null in 2050 noch tragbar wären. Das ist das Fazit des jährlichen “Climate Action Trackers” (CAT).
Nach diesen Berechnungen würde allein die sprunghaft gestiegene Nachfrage nach fossilem Erdgas insgesamt etwa zehn Prozent des verbleibenden CO2-Budgets bis 2050 aufbrauchen. Laut CAT laufen die bisherigen Planungen auf Kapazitäten für verflüssigtes Erdgas (LNG) hinaus, die schon 2030 insgesamt 680 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr liefern könnten – fünfmal so viel wie Russland nach Europa geliefert hat. Dieses “Überangebot” sei eine “Über-Planung, die heruntergeschraubt werden muss”, heißt es in dem Bericht, der von den Thinktanks Climate Analytics und New Climate Institute erstellt wird.
Durch den Krieg Russlands in der Ukraine, die Sanktionen und Unterbrechungen der russischen Gaslieferungen suchen vor allem viele europäische Staaten – allen voran Deutschland – derzeit händeringend nach neuen Gaslieferungen, etwa in Kanada, dem Nahen Osten oder in Afrika. Außerdem sind Neubauten von LNG-Terminals in Deutschland geplant.
Dieser “Goldrausch nach Gas” laufe dem Pariser Abkommen zuwider, warnt der CAT. “Fossile Brennstoffe, die wirklichen Verursacher der Klimakrise, werfen den Klimaschutz von der politischen Agenda, obwohl Effizienz, Erneuerbare und Elektrifizierung bei weitem die billigste, schnellste und sicherste Option sind”, heißt es.
Niklas Höhne vom New Climate Institute betonte: “Gas ist keine Brückentechnologie.” Im Gegenteil stehe der Brennstoff einer nachhaltigen Versorgung häufig im Weg, weil er den schnellen Ausbau der Erneuerbaren verzögere.
Auch das Versprechen der COP26 in Glasgow zu ernsthaftem Klimaschutz wurde laut CAT bisher nicht erfüllt. Der Prozess, neue und bessere Klimapläne (NDC) vorzulegen, “hat dabei versagt, die dringend nötigen Emissionsreduzierungen zu bringen, die die Regierungen versprochen haben, um die 1,5 Grad zu halten”, bemängelt der Bericht. Deshalb laufe – die Zahlen sind die gleichen wie vor einem Jahr in Glasgow – die globale Erwärmung bis 2100 derzeit auf 2,4 Grad Celsius hinaus. Das heißt, falls die Staaten tatsächlich ihre Klimaziele für 2030 erreichen und dann auf diesem Pfad weitermachen.
Wenn aber nur die bisherigen Maßnahmen weiterlaufen, erhitzt sich der Planet laut CAT-Prognose bis 2100 sogar um 2,7 Grad. Selbst wenn alle Netto-Null-Ziele und Versprechen umgesetzt würden, steigt die Temperatur immer noch auf zwei Grad. Und nur ein sehr optimistisches Szenario landet bei 1,8 Grad – und wäre damit Paris-kompatibel.
Dabei sei in der Klimapolitik 2022 durchaus einiges passiert, gestehen die Autoren zu:
Auch hätten Australien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Norwegen und Thailand ambitioniertere Klimapläne vorgelegt – während etwa die neuen Planungen von Indien, Indonesien, Ägypten oder Großbritannien nicht besser als vorher seien.
Es werde aber nach wie vor “nur in kleinen Schritten gedacht und gehandelt“, sagte Niklas Höhne. “Anders als bei der Corona-Pandemie und der Antwort auf den Ukrainekrieg schalten wir nicht in den Krisenmodus.” Das sei aber dringend nötig, wenn man sehe, dass sich bei bisherigen Trends 2030 doppelt so viele Emissionen abzeichneten wie für die 1,5-Grad-Grenze noch möglich. “Wir müssen raus aus der Komfortzone“, so Höhne.
Auch sonst stellt der CAT der Politik ein schlechtes Zeugnis aus:
Das ist auch das Ergebnis der ersten überarbeiteten GOGEL-Liste, die Umweltverbände am Donnerstag auf der COP vorgestellt haben. Die “Global Gas and Oil Exit List” bietet einen Überblick über fast alle fossilen Planungen weltweit und wie sie (nicht) zum Netto-Null-Szenario der Internationalen Energieagentur IEA passen.
Laut der aktuellen Liste:
Die öffentlich zugängliche Datenbank richtet sich vor allem an die Finanzindustrie. Mögliche Investoren sollen wissen, wo die größten Expansionspläne und die “umstrittensten Formen der Öl- und Gasförderung” zu identifizieren sind. Damit drohten möglicherweise auch Rufschädigungen für die Investoren. Denn darunter seien auch “Projekte, die gewaltsame Konflikte verschärfen, immense soziale oder ökologische Schäden verursachen oder durch Gerichtsverfahren und den Widerstand von Gemeinden angefochten werden”.
Wir können uns nicht unbegrenzt an die Klimakrise anpassen – und mit fortschreitender Erwärmung des Planeten kann unsere Anpassungsfähigkeit an neue Grenzen stoßen, beispielsweise in Form von Konflikten. Das ist ein Ergebnis von insgesamt “10 New Insights in Climate Science”, die ein internationales Konsortium von 65 Forschenden aus 23 Ländern am Donnerstag auf der COP27 vorgestellt hat.
Die zehn “Insights” fassen die wichtigsten Erkenntnisse der Klimawissenschaft aus dem vergangenen Jahr zusammen. Sie können damit als grundlegende Handlungsanweisung für die Klimapolitik gelten – und damit auch für die Delegationen auf der COP. Als Beispiele für die Grenzen der menschlichen Anpassungsfähigkeit nennt der Bericht steigende Meeresspiegel, die Küstensiedlungen überschwemmen könnten, und extreme, für den menschlichen Körper nicht mehr auszuhaltende Hitze.
Schon jetzt seien Menschen an verschiedenen Orten der Welt mit “enormen Auswirkungen” des Klimawandels konfrontiert, sagte Mercedes Bustamante, Professorin an der Abteilung für Ökologie der Universidade de Brasília. Wenn die Erde sich mehr als 1,5 oder zwei Grad erwärme, sei zu erwarten, dass weitere Anpassungsgrenzen gerissen würden.
Laut den “10 Insights” werden im Jahr 2050 drei Milliarden Menschen in Hotspots der Klimakrise leben, doppelt so viele wie heute. Der im vergangenen Februar veröffentlichte IPCC-Sachstandsbericht zur Anpassung bezifferte die Zahl der Menschen, die in gegenüber Klima-Auswirkungen besonders anfälligen Ländern leben, schon jetzt auf 3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen.
Die zehn “Insights” im Einzelnen:
In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist das Grönland-Eisschild laut einer neuen Untersuchung schneller geschmolzen als zuvor. Es fließt mehr Eis in den Ozean und das Abschmelzen der Oberfläche des Schildes nimmt zu, wie aus der Nature-Studie hervorgeht. Laut den Modellen der Forscher könnte allein der Nordostgrönländische Eisstrom bis zum Jahr 2100 zu einem Anstieg des Meeresspiegels um 1,35 bis 1,55 Zentimeter beitragen. Abhängig von den künftigen globalen CO2-Emissionen kalkuliert der IPCC mit einer Erhöhung des globalen Pegels um 50 bis 100 Zentimetern.
Die Nature-Autoren untersuchten, was sich im Landesinneren abspielt. Ältere Modelle hätten das nicht getan, so einer der Forscher. Dadurch ergäbe sich eine ganz andere Projektion zur Masseänderung und dem daraus resultierenden Meeresspiegelanstieg, sagte Erstautor Shfaqat Abbas Khan der Nachrichtenagentur AFP. “Was wir an der Front sehen, reicht weit in das Herz des Eisschildes hinein”.
Ein Hauptfaktor für den künftigen Eisverlust ist demnach der Nordostgrönländische Eisstrom (NEGIS), der durch zwei schnell fließende Gletscher zum Abfluss des Eises ins Meer beiträgt. Im letzten Jahrzehnt hat sich dieser Eisstrom “rapide beschleunigt”, so die Studienautoren verschiedener Universitäten und Forschungseinrichtungen. nib
In einer späten Sitzung einigten sich die Verhandlungsführer aus EU-Parlament, Rat und Kommission vergangene Nacht auf einen gemeinsamen Nenner bei der Verordnung über Landnutzung und Forstwirtschaft (LULUCF). Demnach wird das Ziel für die natürliche Treibhausgas-Senkleistung des Sektors, aufgeteilt auf die EU-Staaten, auf 310 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente ab 2030 festgelegt.
Das Trilog-Ergebnis stand im Wesentlichen schon im Vorfeld fest und entspricht weitgehend dem Kommissionsvorschlag sowie der Position des Parlaments. Aber die Summe ist höher als die im EU-Klimagesetz ursprünglich vorgesehenen 225 Megatonnen. Das Ergebnis ist damit ein wichtiges Signal, auch in Richtung Weltklimakonferenz COP27 in Sharm el-Sheikh. Mit dem offiziellen Abschluss der Verhandlungen kann das EU-Klimaziel de facto auf 57 Prozent CO2-Einsparung bis 2030 angehoben werden. Das dürfte die Verhandlungsposition der EU-Delegation beim Werben für die Erhöhung der Klimaziele anderer Ländern auf der COP stärken.
Ville Niinistö (Grüne), Berichterstatter des EU-Parlaments, zeigte sich zufrieden: “Wir haben jetzt ein ehrgeizigeres Ziel und strengere Berichterstattungsanforderungen sowie mehr Transparenz. Zum ersten Mal werden in dieser Gesetzgebung die biologische Vielfalt und die Klimakrise gemeinsam betrachtet, und die Mitgliedstaaten müssen auch den Grundsatz ‘Do no significant harm’ berücksichtigen”, so der Europaabgeordnete.
Bis 2025 gelten weiterhin die derzeitigen Vorgaben, wonach die Emissionen des LULUCF-Sektors die CO2-Speicherung nicht übersteigen dürfen. Ab 2026 muss die Senkleistung dann höher sein. Dabei werden die EU-Länder verpflichtet, Korrekturmaßnahmen zu ergreifen, wenn die Fortschritte bei der Erreichung ihrer Ziele nicht ausreichen.
Strittig war im Trilog bis zuletzt insbesondere die Frage nach der “Flexibilität” dieser nationalen Ziele, um den großen Schwankungen innerhalb des Sektors gerecht werden, die etwa durch Naturkatastrophen oder Dürren ausgelöst werden und von Land zu Land sehr unterschiedlich sein können. Die Ziele könnten damit geringer ausfallen, als zunächst angenommen, solange die EU-weite Gesamtleistung erreicht wird.
Die Mitgliedsstaaten haben deshalb die Möglichkeit, “Speichereinheiten” untereinander zu handeln. Außerdem können überschüssige Emissionsrechte aus dem Effort Sharing genutzt werden, um die LULUCF-Ziele zu erreichen und umgekehrt. Zuletzt war die Senkleistung des Sektors im Zeitraum 2013 bis 2019 in Folge von Trockenheit, Waldbränden und Schädlingen von 322 auf 249 Millionen Tonnen gesunken und nimmt weiter ab.
Entsprechend ist auch die Landwirtschaft gefordert, die bislang deutlich mehr Treibhausgase ausstößt als speichert. Eigene Unterziele für Ackerböden oder Moore sind allerdings in der LULUCF-Verordnung nicht vorgesehen. Wie genau die Ziele also letztlich erreicht werden sollen, bleibt weiter offen und wird teils auf andere Rechtsakte verlagert. Darunter das geplante Gesetz zur Wiederherstellung der Natur (NRL) und der Rechtsrahmen für die Zertifizierung von CO2-Speicherung. til
Sônia Guajajara ist eine kleine Frau, kaum über 1,50 Meter. Übersehen kann man sie trotzdem nicht so leicht: Sie spricht energisch und überlegt, tritt oft mit traditioneller Federkrone und bunter Kleidung auf. Damit sticht sie aus der brasilianischen Politik heraus. Und auch auf der COP27, wo sie als offizielles Mitglied der brasilianischen Delegation vor einem internationalem Publikum die indigen Anliegen vertritt.
Bei der Wahl in Brasilien wurde Guajajara für die PSOL (Partido Socialismo e Liberdade, ähnlich der deutschen Linkspartei) als Abgeordnete in den Nationalkongress gewählt. “Das ist ein großer Erfolg für die Indigenenbewegung”, sagt sie. “Ich freue mich sehr, dass unsere Stimme jetzt an diesem Ort der Macht gehört wird”. Und wohl auch international: 2022 wählte das Time Magazine sie zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Welt.
In Brasilien wollen indigene Abgeordnete mit Guajajara an der Spitze nach der Wahl von Luiz Inácio Lula da Silva auf mehr Umweltschutz pochen. Der linke Sozialdemokrat hatte am 30. Oktober die Stichwahl ums Präsidentschaftsamt gegen Jair Bolsonaro gewonnen – der wiederum demokratische Strukturen geschwächt hat und eine fatale Umweltbilanz hinterlässt.
Sônia Guajajara heißt mit bürgerlichem Namen Sônia Bone de Souza Silva Santos – indigene Aktivistinnen treten in Brasilien oft mit ihrem Vornamen und dem Namen ihres Volkes auf. Sie ist 48 Jahre alt, stammt aus dem Bundestaat Maranhão im Nordosten von Brasilien und wurde jetzt für São Paulo ins Parlament gewählt.
Im Kongress will Guajajara für die Rechte von Indigenen kämpfen. “Indigene Völker und die Rechte von Indigenen zu schützen, ist einer der besten Ansätze, um der Klimakrise zu begegnen”, sagt sie. “Wir müssen dringend die Umwelt konsequenter schützen und mit diesem ausbeuterischen Wirtschaftsmodell brechen.” Priorität hat für sie die konsequente Ausweisung von indigenen Schutzgebieten: In den letzten 40 Jahren wurden hier gerade mal 2,4 Prozent der Flächen gerodet, im Rest von Amazonien waren es rund 20 Prozent.
Im ersten Wahlgang am 2. Oktober sind fünf Indigene in den brasilianischen Nationalkongress eingezogen – mehr als je zuvor. Mit Joênia Wapichana war 2018 erstmals eine indigene Frau in den Kongress gewählt worden. Sie hat ihren Sitz bei dieser Wahl wieder verloren.
Trotzdem sind Indigene inzwischen stärker in der Politik repräsentiert. “Ich bin froh, dass wir endlich diesen Rassismus der Abwesenheit durchbrechen können”, sagt Guajajara. Schon im Vorfeld der Wahlen hatte sich abgezeichnet, dass immer mehr indigene Brasilianer und Brasilianerinnen einen Platz in der Politik anstreben. Während 2018 insgesamt 134 indigenen Kandidaturen registriert wurden, waren es in diesem Jahr bereits 175.
Es gibt zwar auch eine indigene Abgeordnete, die Bolsonaro unterstützt und sich für industrielle Landwirtschaft und Bergbau in indigenen Gebieten ausspricht. Doch Guajara zeigte sich schon am Tag nach der Stichwahl hörbar erleichtert, dass Lula gewonnen hat. Sie sagt: “Bolsonaro war für uns eine Tragödie.” Lisa Kuner