so geht das, wenn keiner und keine richtig hinguckt: Im März beschlossen der EU-Ministerrat bei einem Treffen in Brüssel neben vielen anderen Themen mal eben so einen neuen Kurs in der Klimapolitik: Statt wie bisher weiter das Aus für alle fossilen Brennstoffe ohne Wenn und Aber zu fordern, heißt es nun: Wenn dafür die bislang unerprobte Technik der CO2-Abscheidung (CCS) eingesetzt wird, wäre das auch in Ordnung. Also haben die Fossilen auch in einer klimaneutralen EU vielleicht doch noch eine Zukunft.
Die gleiche Position vertritt der nächste COP-Präsident Sultan Al Jaber aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Er wird dafür allerdings überall kritisiert wird, während die Europäer damit bisher durchkommen. Als wir das merkten, mussten wir es dringend aufschreiben. Auch dafür sind Klimakonferenzen nützlich, wie wir mit unserem Team in Bonn seit einer Woche merken.
Auch anderswo gibt es spannende Entwicklungen: Etwa die stille Revolution bei der Weltorganisation für Meteorologie WMO: Statt wie bisher auf unzureichende Daten aus vielen Ländern zu vertrauen, sollen die Messungen über Treibhausgase jetzt global organisiert werden. Und die Ukraine fordert nun nach der Zerstörung des Kharkhova-Staudamms, Russland wegen Ökoterrorismus aus der UNO auszuschließen – so sagt es uns im Interview ein hochrangiges Delegationsmitlied in Bonn.
Wir sind auch in der zweiten Woche auf der Klimakonferenz in Bonn. Und bleiben weiter dran.
Behalten Sie einen langen Atem
Die Europäische Union hat sich im Grundsatz bei einem der heißen Eisen der nächsten COP28 auf den gleichen Kurs festgelegt wie die COP-Präsidentschaft aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und andere Ölstaaten: die umstrittene CCS-Technik als Schlupfloch beim Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen zu nutzen. Die EU strebt nun auf der COP28 einen Beschluss an, der diese Formulierung erlauben würde. Das wurde am Rande der Bonner Klimakonferenz deutlich. Unabhängig davon bezeichnet eine neue Beurteilung des Thinktank-Projekts “Climate Action Tracker” die EU-Klimapolitik als “ungenügend“.
Nach einem Beschluss des EU-Ministerrats, der bereits im März gefasst wurde, soll es auf dem Weg zur Klimaneutralität nicht nur möglich sein, Emissionen aus Industrieprozessen, sondern auch aus der Energiewirtschaft abzuscheiden und zu speichern. Die Nutzung für den Energiesektor hatten die Europäer bislang abgelehnt und etwa bei der COP27 ein “Herunterfahren der fossilen Energien” ohne die Erwähnung von CCS gefordert. Die europäische Position verlangt jetzt nur noch ein “Energiesystem, frei von unverminderten fossilen Brennstoffen” – (“unabated fossil fuels”).
Diese Entscheidung, die bisher in der Öffentlichkeit kaum bekannt war, ist nicht nur eine Annäherung an öl- und gasproduzierende Länder wie die VAE oder die USA. Er steht auch im Widerspruch zur deutschen Position. Außenministerin Annalena Baerbock hatte auf dem Petersberger Klimadialog ihren Dissens mit dem nächsten COP-Präsidenten Sultan Ahmed Al Jaber zu diesem Punkt deutlich gemacht: “Wir müssen raus aus den fossilen Energien”, sagte sie – während Al Jaber betonte, die Welt müsse sich mit den Realitäten abfinden. “Fossile Brennstoffe werden auch weiterhin eine Rolle spielen“. Ziel solle es sein, “die Emissionen auslaufen zu lassen”.
Auch Staatssekretärin Jennifer Morgan hatte erklärt, sie glaube nicht, “dass CCS uns ans Ziel bringt”. Und im Wirtschafts- und Klimaministerium von Robert Habeck wird an einer deutschen CCS-Management-Strategie gearbeitet, deren klare Vorgabe lautet: CCS nur für Prozessemissionen aus der Industrie – nicht als Ausweg für die fossilen Brennstoffe im Energiebereich.
Diese Möglichkeit lässt die neue EU-Position nun aber offen. Ein “Energiesystem frei von unverminderten fossilen Brennstoffen” schließt die Anwendung der CCS-Technik als Möglichkeit auch in der Stromerzeugung und für die Verbrennung in der Industrie ein. Der Beschluss ist ein wenig konkreter als Al Jabers “Ende der Emissionen“, denn er verweist auf eine IPCC-Definition von “unabated fossil fuels” und auf einen Höhepunkt der Fossilen deutlich vor 2050. Al Jaber wiederum nutzte auf der Konferenz in Bonn bei einer Rede den EU-Begriff eines Energiesystems “free of unabated fossil fuels”.
Der EU-Kommission ist klar, dass der Beschluss den Fossilen selbst in einer klimaneutralen EU ein Existenzrecht als Brennstoffe zuweist. Ohnehin ist geplant, dass auch beim Netto-Null-Ziel der EU noch Emissionen aus Industrie oder Landwirtschaft in der Natur oder durch CCS gespeichert werden. In den Debatten für eine Öffnung zu “unabated fuels” hätten besonders Länder wie Polen oder Dänemark Druck gemacht, heißt es aus Verhandlungskreisen.
Mit dem Kurswechsel der EU wird ein Kompromiss in dieser umstrittenen Frage bei der COP28 wahrscheinlicher. Denn viele andere einflussreiche Staaten, deren Volkswirtschaften noch in großem Maß an fossilen Energien hängen, streben offen oder verdeckt dieses Ziel an: Die Ölstaaten, die USA, aber auch China oder europäische Länder wie Norwegen und Dänemark, die bereits an CCS-Projekten arbeiten.
Für die Wissenschaftler des “Climate Action Tracker” (CAT) ist CCS allerdings eine “gefährliche Ablenkung”. CCS solle nicht zur Verringerung der Emissionen im Stromsektor eingesetzt werden, weil “weitaus billigere erneuerbare Energien zur Verfügung stehen”, sagt Claire Stockwell von der CAT-Projektorganisation Climate Analytics. In ihrem aktuellen Gutachten auf halbem Weg zur COP28 kommt auch die EU nicht gut weg: Die anhaltenden Investitionen in neue fossile Infrastrukturen, insbesondere in LNG-Terminals und Gaspipelines, “untergraben die Dekarbonisierungsbemühungen der EU”, heißt es. Der CAT bewertet die Klimapolitik der EU insgesamt als “unzureichend”, auch weil die EU ihr bei der UN hinterlegtes Klimaziel (NDC) noch nicht wie versprochen angehoben hat.
Allgemein lauten die Hauptargumente der CCS-Kritiker: Die Technik sei teurer als die Erneuerbaren, weltweit nicht in großem Maßstab erprobt und komme für die nötige Halbierung der globalen Emissionen bis 2030 zu spät. Alden Meyer, Klimaexperte beim Think-Tank E3G, hofft allerdings darauf, dass in einer möglichen Erklärung der COP28 zum Ausstieg mithilfe von CCS immerhin sektorale Ziele definiert würden: Dann sei der Zusatz “unabated” nicht so problematisch, so Meyer. Denn dann sei klar, dass nur die wenigen schwer zu dekarbonisierenden Sektoren auf Techniken wie CCS zurückgreifen könnten.
Außerdem müsse die EU dann das Potenzial von CCS realistisch einschätzen, so Meyer. “Wenn man anerkennt, dass CCS vielleicht nur fünf Prozent der Emissionen verhindern kann, dann wäre klar, dass der Phase-down zu 95 fossile Brennstoffe jeglicher Art betreffen würde.” Die VAE jedenfalls, die stark für CCS plädieren, planen laut CAT bis 2030 nur einen Anteil von 2 Prozent ihrer Emissionen auf diese Weise zu speichern.
Meyer fordert deshalb eine Klarstellung der EU, welche Rolle sie CCS für den anvisierten Phase-down zuschreibt. Dafür aber sei erst einmal eine anerkannte Definition nötig, was als “abated fuel” gilt. Vergangene Woche hat die Kommission eine öffentliche Konsultation zu CCS gestartet, um zu prüfen, welche Rolle CCS bei der Dekarbonisierung bis 2030, 2040 und 2050 spielen kann.
Eine Debatte darüber fordern auch Experten der “Stiftung für Wissenschaft und Politik” (SWP). Sie stellen fest, dass in Ländern mit hohen Exporten fossiler Energieträger CCS als Option zur Absicherung fossiler Geschäftsmodelle diskutiert werde, damit der Druck auf die Abkehr von fossilen Energieträgern nachlasse. Sie gehen davon aus, dass die Potenziale der Technik insgesamt begrenzt sind: Bis 2050 könnten in der EU insgesamt 550 Millionen Tonnen CO₂ gespeichert werden. Weltweit geht die internationale Energieagentur (IEA) von etwas mehr als 5 Milliarden Tonnen in 2050 aus.
Herr Sydiachenko, welche wirtschaftlichen und ökologischen Folgen hat die Katastrophe am Kakhowka-Damm?
Es handelt sich um einen Fall von Ökozid. Präsident Zelenskyy war am Donnerstag in der Überschwemmungsregion und den umliegenden Regionen und hatte von der Stadt Kryvyi Rih aus ein virtuelles Treffen mit Vertretern der globalen Umweltschutzgemeinschaft, darunter der Vizepräsident des EU-Parlaments, die Aktivistin Greta Thunberg und andere. Er hat sie aufgefordert, dies als Ökozid zu bezeichnen. Die überflutete Region ist eines der größten Industrie- und Landwirtschaftszentren in Europa. In der Oblast Kherson gibt es viele Lagerhäuser für Chemikalien und Düngemittel, außerdem gibt es in der Nähe dieses Gebiets in der Region Kryvyi Rih viel Bergbau und das größte Stahlwerk der Ukraine. All diese gefährlichen Stoffe befinden sich jetzt im Wasser und werden in das Schwarze Meer gelangen. Dies ist eine internationale Katastrophe und ein Akt des Ökoterrorismus durch Russland.
Wie gefährlich ist die Überschwemmung?
Das Wasserreservoir des Kakhovka-Damms ist als “Kakhovka-Meer” bekannt. Der Wasserstand im Kakhovka-Stausee ist seit dem 6. Juni um mehr als 4,7 Meter gesunken. Dadurch wurde die Wasserversorgung von etwa 1 Million Menschen im Gebiet der Oblasten Dnipropetrivska und Zaporizhska und der Region Kryvyi Rih unterbrochen. Nach Angaben des Ministeriums für Umweltschutz waren mehr als 160.000 Vögel und mehr als 20.000 Wildtiere durch die Katastrophe vom Tod bedroht. Etwa 17.000 Menschen mussten evakuiert werden.
Wie viele Menschen sind gestorben? Medien berichten von etwa einem Dutzend.
Die genaue Zahl der menschlichen Opfer ist nicht bekannt, da die Menschen immer noch auf der Flucht sind und die Region evakuiert wird und uns Daten fehlen. Und die Russen schießen immer noch in die Vorgänge beir der Evakuierung. Mehr als 60 Prozent des überschwemmten Gebiets sind von Russland besetzt. Insgesamt sind jetzt 600 Quadratkilometer überflutet, sie sind eine Wüste geworden – eine Wasserwüste. Denn im Wasser befinden sich eine Menge gefährlicher Stoffe, die von Chemiestandorten, Abwasserkanälen und Industrieanlagen stammen.
Welche wirtschaftlichen Schäden sehen Sie?
Das können wir noch nicht berechnen, wir sind gerade dabei, die Menschen zu evakuieren und zu retten.
Vadym Sydiachenko arbeitet für die Abteilung Wirtschaftsdiplomatie im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Ukraine. Er ist Mitglied der ukrainischen Delegation bei der SB58-Konferenz in Bonn
Der Stausee dient ja auch zur Bewässerung der Felder. Wie sehr ist das betroffen?
Das Wasser des Kakhovka-Stausees wird für die Bewässerung der gesamten Südukraine verwendet. Auch die Krim bezieht ihr Wasser aus dem Kachowka-Stausee, und zwar aus dem Krim-Kanal. Durch diese Katastrophe haben wir in der Oblast Chersonska und anderen südlichen Regionen unsere diesjährige Ernte verloren. Das ist nicht nur ein Problem für die Ukraine, sondern auch für die Welt. Wir exportieren das Getreide nach Afrika und Asien, und viele Länder sind nun von Lebensmittelrisiken und Hungersnöten bedroht.
Der Kakhovka-Damm war auch ein Wasserkraftwerk. Wie stark wirkt sich der Verlust dieser Energie aus?
Das Wasserkraftwerk Kakhovka mit seiner 350-Megawatt-Kapazität war Teil von sechs Wasserkraftwerken, die als Ersatz für die in diesem Winter von Russland zerstörten Kohle-/Gaskraftwerke dienen sollten. Insgesamt liefert die Wasserkraft etwa 8 Prozent des ukrainischen Stroms. Jetzt, da Kakhovka weg ist, haben wir einen Mangel an Strom und müssen die Region ab und zu vom Netz nehmen.
Ist das Kernkraftwerk in Saporischschja in Gefahr?
Das Kraftwerk und die Region befinden sich unter russischer Kontrolle. Deshalb tragen sie die volle Verantwortung dafür. Nach der Zerstörung des Kachowka-Damms gibt es keine Wasserversorgung für die Kühlreservoirs des Kernkraftwerks Saporischschja. Das könnte ein Problem mit dem Kühlwasser sein, aber sie haben Reserven für einige Wochen. Aber wir wissen nicht, wie die Lage im Kernkraftwerk im Moment ist.
Wie sehr leidet die Umwelt unter dem Krieg?
Die Natur leidet furchtbar. Zusätzlich zu den Menschen und der Infrastruktur verlieren wir Wälder, Feuchtgebiete, Tiere, Schutzgebiete und Wasserressourcen. Der zusätzliche CO2-Ausstoß allein durch die Militäraktion in der Ukraine wird auf 40 Millionen Tonnen geschätzt. Wenn man auch die sekundären Auswirkungen wie das Verbrennen von Häusern, Fabriken und Wäldern mit einrechnet, kommen wir auf insgesamt 100 Millionen Tonnen CO2 seit Beginn des Krieges. Hier auf der Konferenz sprechen wir über die Anpassung an den Klimawandel, aber wie können wir uns anpassen, wenn unsere Wälder und Feuchtgebiete verschwunden sind?
Sie sagen, die Russen hätten den Damm gesprengt. Haben Sie dafür Beweise?
Erstens hat Russland das Gebiet des Kachowka-Staudamms besetzt und trägt die volle Verantwortung für dieses technische Objekt. Zweitens hat die Ukraine nicht die Waffen, um einen solchen Damm aus der Ferne zu zerstören. Eine Rakete reicht nicht aus, es bedarf eines langen Bombardements, für das wir keine Flugzeuge haben. Es war nur möglich, von der Innenseite des Bauwerks, von der Struktur des Staudamms aus, einzugreifen. Und dafür muss man Zugang zum Damm haben. Und Russland kontrolliert das Gebiet.
Die Klimakonferenz hier in Bonn geht ganz normal weiter, obwohl in Ihrem Heimatland dieser Krieg tobt. Wie kommen Sie damit zurecht?
Es ist keine normale Konferenz, weil wir in Gedanken zu Hause sind. Jede Nacht gibt es über meinem Haus in Kiew Luftalarm und unser Raketenabwehrsystem macht Bumm-Bumm-Bumm. Wir sind müde, wenn wir dort zur Arbeit gehen, aber die russischen Terroranschläge lassen uns nicht schlafen.
Wie ist es für Sie, mit der russischen Delegation hier in einem Raum zu sein?
Wir sprechen nicht mit ihnen. Wie würden Sie reagieren, wenn Ihr Nachbar nebenan jeden Tag versucht, Sie und Ihre Familie zu töten? Außerdem zerstört Russland alle internationalen Beziehungen. Sie blockieren jede Arbeit hier, wie die Suche nach einem neuen Gastgeberland für die COP29. Das ist nur dazu da, das UN-System zu zerstören.
Wie sollte die UNO nach Ihrer Meinung reagieren?
Wir sind der Meinung, dass Russland wegen des Terrorismus gegen friedliche Menschen und des Umweltmordes in der Ukraine aus der UNO ausgeschlossen werden sollte. Ich möchte betonen, dass es sich nicht nur um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine handelt, sondern um einen Kampf zwischen demokratischen Ländern und Tyrannei.
Das “Global Stocktake” wird in Bonn und danach eine politisch heiß debattierte Inventur der weltweiten Anstrengungen zum Klimaschutz sein. Doch der Prozess steht vor einem bislang kaum beachteten Problem: Gute Daten über Treibhausgasemissionen, die die Grundlage der Debatten bilden sollen, sind oft Mangelware, wie Table.Media gerade am Beispiel Chinas gezeigt hat.
Darauf hat nun die UN-Weltorganisation für Meteorologie (WMO) reagiert. Sie hat für exaktere Emissionsdaten ein neues Instrument namens Global Greenhouse Gas Watch vorgestellt. Damit sollen Emissionen künftig durch Messstationen und Satelliten zentral ausgewertet werden. Die Ergebnisse von Global Greenhouse Gas Watch können direkt mit der “zentralen Buchhaltung” der Atmosphäre verknüpft werden. Außerdem sollen sie Initiativen und Projekte bessere Kooperation ermöglichen, sagt Lars Peter Riishojgaard, bei der WMO zuständig für integrierte Beobachtungssysteme.
“Wir haben ein relativ gutes Verständnis über positive Emissionen“, sagt Riishojgaard. “Aber wir verstehen sehr wenig über negative Emissionen, beispielsweise durch Aufforstung oder das Reduzieren von Abholzung”. Entwicklungsländer erheben oft nicht regelmäßig zuverlässige Daten. Zum Beispiel bei Landnutzungsänderungen besteht eine hohe Unsicherheit darüber, wie Kohlenstoffkreisläufe funktionieren.
Viele Probleme entstehen durch die Art und Weise, wie Emissionen gemessen werden:
Die Qualität der Daten leidet, wenn Länder ihre nationalen Inventare nicht zuverlässig füllen. Eine aktuelle Studie zeigt, dass 69 Entwicklungsländer Schwierigkeiten haben, verlässliche Daten zu Treibhausgasemissionen zu erheben. Vor allem Inselstaaten im Pazifik, afrikanische Länder und Karibikstaaten haben Probleme bei der Datenerfassung.
Eine weitere Studie, nennt noch einen anderen Grund, warum die Emissionsdaten aus Entwicklungsländern oft unzuverlässiger sind: rechtliche Rahmenbedingungen unter der UNFCCC. Die legt an die Güte von Emissionsdaten verschiedene Maßstäbe an: Industriestaaten (Annex I), müssen beispielsweise detaillierte und regelmäßigere Berichte über ihre Emissionen einreichen. Schwellen- und Entwicklungsländer (Non-Annex I) müssen ihre Daten seltener erheben. Das macht die Daten schwer vergleichbar – und führt dazu, dass Diskussionen oftmals auf Grundlage von knapp zehn Jahre alten Daten geführt werden.
Laut William Lamb vom Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) handelt es sich dabei nicht nur um Länder mit niedrigen Emissionen: “Auch große Emittenten wie China, Indien oder Brasilien müssen ihr Inventar nicht jährlich erneuern“. Lars Peter Riishojgaard von der WMO zeigt noch weitere Probleme auf: Im Globalen Süden gibt es viel weniger Messstationen für Treibhausgase als im Norden.
MCC-Wissenschaftler Lamb fügt noch ein anderes “Riesen-Problem” hinzu: “Was wir über Emissionen aus Landwirtschaft und Landnutzungsänderungen wissen, ist mit großer Unsicherheit behaftet”, sagt er.
Wolfgang Obermeier, Geograf an der LMU München, erklärt dazu: “Emissionen aus Landnutzungsänderungen lassen sich nicht direkt beobachten“. Sie überlagern sich mit natürlichen Entwicklungen und müssen somit mit der Hilfe von Modellen oder statistischen Methoden berechnet werden – hierfür gibt es eine große Spannweite an Möglichkeiten.
Außerdem, so Obermeier, nähmen Non-Annex I Länder häufig nur Wald in ihre Daten zu Landnutzungsänderung auf und ließen beispielsweise Weideland oder die Wiedervernässung von Mooren außer Acht. Engmaschigere Beobachtungen beispielsweise durch den Einsatz von Satellitendaten seien nötig, um die Qualität der Emissionsdaten aus der Landnutzung zu verbessern.
Dazu will die WMO jetzt mit ihrem neuen Instrument “Global Greenhouse Gas Watch” beitragen. Er soll einen international koordinierten Top-Down Ansatz umsetzen – als Ergänzung zu den Inventurdaten der Länder. Ab 2026 soll es dann eine monatliche Veröffentlichung der weltweiten Ströme von Treibhausgas geben. Die Auflösung wird am Beginn mit 100 mal 100 Kilometern relativ grob sein, soll aber bis 2030 auf 1 mal 1 Kilometer verbessert werden. Neben CO₂ sollen auch die Konzentrationen von Lachgas und Methan abgebildet sein.
MCC-Wissenschaftler Lamb betont, dass es trotz einer besseren Top-Down-Analyse wichtig bleibe, dass Länder ihre Inventare Bottom-Up füllen. “Daten zu fluorierten Treibhausgasen kann man sehr gut über atmosphärische Messungen erfassen”, sagt er. “Für die gibt es keine natürlichen Quellen”. Doch viele Details würden mit einem Top-Down-Ansatz nicht erfasst.
Für CO₂, das auch in natürlichen Prozessen absorbiert werden kann, sei die Top-Down-Messung schwierig. Deshalb sei es auch nötig, dass die nationalen Inventare der Emissionsdaten besser würden. Dafür sei es auf der einen Seite wichtig, dass Entwicklungsländern in den Aufbau von Kapazitäten investierten. Besonders für große Emittenten wie Brasilien, China oder Indien, so Lamb, würden auch strengere Regeln durch die UNFCCC helfen.
12. Juni, 11.45 Uhr, Raum Bonn
Diskussion The GST and Ocean-based Carbon Dioxide Removal: opportunities, uncertainties, risks and future needs
Um bis 2050 eine Erwärmung von etwa 1,5 °C nicht zu überschreiten, müssen sowohl CO₂ entfernt aus der Atmosphäre entfernt und die CO₂-Emissionen massiv reduziert werden. Eine verstärkte Aufnahme und Entfernung von Kohlenstoff im Meer durch die gezielte Förderung natürlicher biologischer und geochemischer Prozesse bietet Chancen für die globale Bestandsaufnahme, birgt aber auch Unsicherheiten und Risiken. Auf dem Side Event wird diskutiert, ob und wie das gelingen kann. Infos
12. Juni, 11.45 Uhr, Kaminzimmer
Diskussion Counting the impact of industrial farming on our climate
Industrielle Landwirtschaft trägt zur Klimakrise bei – zum Beispiel durch Landnutzungsänderung, Abholzung oder den übermäßigen Einsatz von Düngern und Pestiziden. Bei der Diskussion unter anderem mit der Global Forest Coalition geht es um Lösungsansätze. Außerdem gibt es ein veganes Mittagessen. Infos
12. Juni, 13.15 Uhr, Raum Berlin
Vortrag Accelerating Climate and SDG Synergies as an Enabler for Just Transition
Auf diesem Side Event stellen UNFCCC und das United Nations Department of Economic and Social Affairs die Arbeit am Synergiebericht zu Klimaschutz und den SDGs (Sustainable Development Goals) vor. Infos
12. Juni, 14.45 Uhr, Raum Berlin
Diskussion A GST that Counts for People: Integrating Health into the Global Stocktake
Im Mittelpunkt dieser Veranstaltung stehen die Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Klimawandel. Es werden Beispiele für sektorübergreifende Maßnahmen vorgestellt, die den Menschen und dem Planeten zugutekommen. Außerdem werden Instrumente und Empfehlungen für die Einbeziehung der Gesundheit in die globale Bestandsaufnahme (GST) diskutiert. Das Event wird unter anderem von der World Health Organization organisiert. Infos
13. Juni, 10.45 Uhr, Kaminzimmer
Infos Clarifying obligations and deterring harm: the power of international law to address the climate crisis
Bei der Diskussion, die unter anderem vom Climate Action Network (CAN) ausgerichtet wird, wird erörtert, wie internationales Recht dazu beitragen kann, Klimaschutzmaßnahmen umzusetzen. Infos
13. Juni, 14.45 Uhr, Raum Bonn
Diskussion Taking stock of global progress on nature-based solutions to climate change
Nature-based Solutions sind ein Element von Klimaschutz. Auf diesem Side Event wird diskutiert, wie sie in Zukunft in Zusammenhang mit dem Globalen Bestandsaufnahme gestärkt werden können. Infos
13. Juni, 16.15 Uhr, Raum Berlin
Diskussion Achieving sexual and reproductive rights and climate justice
Diese Diskussion gibt einen Überblick über die Schnittpunkte zwischen sexuellen und reproduktiven Rechten und Klimagerechtigkeit. Es wird auch diskutiert, wie eine Gender Policy besser in Klimapolitik integriert werden kann. Infos
14. Juni, 13.15 Uhr, Raum Berlin
Diskussion Climate Finance for the Needs of Developing Countries
Die UNFCCC stellt die Fortschritte und Herausforderungen aus dem Programm “Needs-Based Finance” vor. Das Programm soll Mittel zur Klimafinanzierung für Entwicklungsländer mobilisieren. Infos
14. Juni, 14.45 Uhr, Raum Bonn
Diskussion Reparations for Climate Debt and the road to Just Transition
Der Übergang zu einer kohlenstofffreien Zukunft könne nur gelingen, wenn der Globale Süden für die historischen Klimaschulden des Globalen Nordens entschädigt wird – das denken viele Akteure aus dem Globalen Süden. Auf diesem Event diskutieren einige von ihnen darüber, wie solche Reparationszahlungen aussehen könnten. Infos
14. Juni, 16.15 Uhr, Raum Bonn
Diskussion The Bridgetown Initiative – Fit to Finance Climate Justice?
Die Bridgetown-Initiative hat seit ihrem Vorschlag auf der COP27 erheblich an Zugkraft gewonnen. Sie wurde unter der Führung der Regierung von Barbados entwickelt und ist ein innovativer Vorschlag, um einige der kritischen Probleme bei der Klimafinanzierung zu lösen. Kann die Intiative zu Klimagerechtigkeit beitragen? Darüber diskutieren unter anderem Vertreterinnen und Vertreter der Rosa Luxemburg Stiftung und des Global Economy Forum. Infos
Das CO₂-Budget, das der Welt noch zur Verfügung steht, wenn die Erderhitzung mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit noch auf 1,5 Grad begrenzt werden soll, hat sich in den vergangenen drei Jahren wohl halbiert. Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales Forschungsnetzwerk in einer aktuellen Studie. Sie wurde jüngst in der Fachzeitschrift Earth System Science Data veröffentlicht und auf der Bonner UN-Klimakonferenz SB 58 vorgestellt.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schätzen das noch verbleibende Budget für Anfang 2023 auf etwa 250 Gigatonnen. Für ihre Berechnungen verwendeten sie Methoden des Weltklimarats IPCC. Der hatte das Budget im Jahr 2020 noch auf etwa 500 Gigatonnen geschätzt.
“Das verbleibende Kohlenstoffbudget wird sehr klein”, schreiben die Forschenden in ihrem Artikel – und es könnte demnach noch kleiner sein als von ihnen berechnet. Denn die Schätzungen des Restbudgets gehen dem Artikel zufolge davon aus, dass auch die Emissionen anderer Treibhausgase – neben CO₂ – in Zukunft sinken werden. Doch wenn sie das nicht tun, treiben sie den globalen Temperaturanstieg weiter in die Höhe als angenommen. In der Konsequenz sinkt das verbleibende Kohlenstoffbudget. ae
Ein Team der “Data for Action Foundation” hat ein Online-Dashboard veröffentlicht, auf dem die Schlüsselindikatoren des Klimawandels in einem Überblick zusammengestellt sind. Die Indikatoren sollen jährlich aktualisiert werden.
Die Idee dahinter: Die maßgeblichen Sachstandsberichte des IPCC erscheinen in recht großen Abständen von mehreren Jahren. Doch angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich das globale Klimasystem verändert, brauchen Politik, Klimadiplomatie und Zivilgesellschaft Zugang zu aktuelleren soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Indikatoren des Dashboards könnten damit auch Eingang finden in die Globale Bestandsaufnahme (Global Stocktake) zum Klimaschutz, über die auf der SB 58 ebenfalls beraten wird.
Weitere Ergebnisse der aktuellen Studie:
Jan Minx, Klimawissenschaftler am Mercator Research Institute for Global Commons and Climate Change (MCC) und einer der Autoren der Studie, nennt die Ergebnisse einen “Weckruf”. Das CO₂-Budget werde wohl in wenigen Jahren erschöpft sein, warnt Piers Forster, Direktor des Priestley Centre for Climate Futures Leeds und Leitautor der Studie. Forster und weitere Vertreter des Forschungsnetzwerks appellierten an die internationale Klimapolitik, die Treibhausgasemissionen dringend zu senken. ae
Viele Großstädte und Unternehmen haben noch keine Netto-Null-Ziele und gefährden die Erreichung der nationalen Klimaziele. Das ist das Ergebnis des Net Zero Stocktake-Berichts, der heute veröffentlicht wurde. Laut der Studie verankern immer mehr Staaten Netto-Null-Klimaziele in nationale Gesetze und politische Strategien. Es bleibt also nicht nur bei Lippenbekenntnissen, sondern Netto-Null-Zusagen fließen in politische Prozesse ein, so die Studie.
Allerdings lägen große Städte und Unternehmen bei der Implementierung und Glaubwürdigkeit von Netto-Null-Zielen zurück:
Milena Glimbovski gehört bereits seit Jahren zu den bekanntesten Stimmen im deutschen Klima-Aktivismus. 2014, da war sie 24 Jahre alt, eröffnete sie “Original Unverpackt”, einen der ersten Unverpacktläden der Republik und wurde zu einer Vorreiterin der Zero-Waste-Bewegung. 2017 erschien ihr Buch “Ohne Wenn und Abfall”. Kurz darauf kürten der Berliner Senat und die Industrie- und Handelskammer sie zur Unternehmerin des Jahres. Inzwischen war Glimbovski auch Verlagsgründerin – der von ihr und ihrem Partner entwickelte Kalender “Ein guter Plan” gewann zahlreiche Design- und Nachhaltigkeitspreise. Und die Deutsche Welle bezeichnete sie als “Climate Hero”.
Doch wenn Klimaheldinnentum auf Wirklichkeit trifft, tritt unweigerlich auch Ernüchterung ein. Die intensive Beschäftigung mit Klima- und Umweltthemen führte bei Milena Glimbovski zu Angst und Hilflosigkeit. “Ich habe mich erschlagen gefühlt. Nicht nur von den Nachrichten, sondern von dem, was man alles machen müsste”, sagt die heute 33-Jährige. “Ich konnte nicht verstehen, was eigentlich in den nächsten Jahren in Deutschland passieren wird. Das hat mir Angst gemacht, besonders vor fünf Jahren, als ich meinen Sohn bekommen habe.”
Seitdem hat sie sich intensiv mit den Möglichkeiten der Anpassung an die Klimafolgen beschäftigt. Nun ist ihr Buch “Über Leben in der Klimakrise” erschienen. Sie kritisiert darin die mangelnde Vorsorgebereitschaft in Politik und Wirtschaft und benennt die strukturellen und sozialen Ebenen, auf denen Klimaanpassung notwendig ist. Die Liste ist lang: Hochwasserschutz, Trinkwasserversorgung, Meeresspiegelanstieg, Landwirtschaft, Energie, Katastrophenschutz, Stadtplanung, Migration. Zahlreiche Wirtschaftsbranchen müssen sich umstellen: Logistik, Bauindustrie, Tourismus und die Versicherungsbranche sind nur einige Beispiele.
Bei näherem Hinsehen wird auch deutlich, dass die verschiedenen Bereiche miteinander in Konflikt geraten können, wie Glimbovski am Beispiel der Flutkatastrophe 2021 zeigt: “Viele Versicherungen sind so gestaltet, dass Menschen an der gleichen Stelle das gleiche Haus wieder bauen müssen, sonst zahlt die Versicherung nicht. Diese Menschen müssten aber an anderer Stelle neu bauen oder umziehen.” Es sei ein großes Problem, dass bestimmte Gegenden als gutes Bauland ausgewiesen werden, obwohl sie in einer Hochwassergefahrenlage lägen. “Da waren Wirtschaftsinteressen wichtiger als die Sicherheit der Menschen.”
Wasser ist, wenig überraschend, eines der Hauptthemen ihres Buchs. Neben einem besseren Hochwasserschutz mahnt sie grundlegende Veränderungen in der Landwirtschaft an, die auch in Deutschland seit Jahren unter massiver Dürre leidet. “Dort ist die Frage: Braucht die Landwirtschaft Wasser, um Lebensmittel herzustellen? Oder braucht sie Wasser zur Herstellung von Getreide, das in Biogasanlagen wandert oder für Tierfutter verwendet wird?”
Die Autorin spricht sich für eine regenerative Landwirtschaft aus, welche die Bio-Kriterien noch übersteigt und sich vor allem auf die Gesundheit von Böden und Pflanzen konzentriert. Das könne besonders in trockenen Zeiten helfen. Untersuchungen, wie zuletzt etwa der Boston Consulting Group und des Naturschutzbundes NABU, deuten darauf hin, dass eine Umstellung auf regenerative Landwirtschaft, die die Böden nicht auslaugt, nach sechs bis zehn Jahren zu bis zu 60 Prozent höheren Gewinnen führen kann. Risiken in den Lieferketten könnten in Dürrejahren um etwa die Hälfte reduziert werden, heißt es in der Studie. “Das ist ein langer und teurer Weg”, räumt Glimbovski ein. Die Alternative sei aber, Menschen verhungern zu lassen. “Wir haben gar keine andere Wahl, als die Landwirtschaft anzupassen, wenn wir uns in Zukunft sicher, fair, sozialverträglich und gesund ernähren wollen. Dafür müssen wir Böden, Wasser und Ökosysteme besser schützen.”
Neben allen technischen Seiten der Klimaanpassung verliert Milena Glimbovski aber auch eine weitere Maßnahme nicht aus dem Blick, die ihr anfangs selbst so schwergefallen ist: die emotionale und psychische Bewältigung der Klimakrise. “Die Psychologie ist mir deshalb so wichtig, weil ich in meiner Arbeit immer wieder gemerkt habe, wie mich das gelähmt hat.” Das Schreiben des Buchs, die Recherche, die Gespräche mit Expertinnen und Experten und das Verstehen, was da eigentlich psychologisch passiert, hätten ihr geholfen. Sie konsumiere Klimanachrichten bewusst nur zu einer bestimmten Tageszeit. “Ich mache Pausen, ich rede mit Menschen darüber und habe Leute um mich, die das auch ernstnehmen. Es hilft, wenn man ein Gefühl von Gemeinschaft hat.”
Deshalb wünscht sich die Aktivistin, dass die realen Folgen stärker thematisiert werden. “Wir müssen jetzt über Klimaanpassung sprechen”, sagt sie. Aber bedeutet das, dass der Kampf gegen den Klimawandel schon verloren ist? Und es nun vor allem auf die Vorsorge ankommt? Einen solchen Fatalismus weist die Aktivistin von sich: “Beides ist eine Jahrhundertaufgabe.” Die Eindämmung ist wichtig, beim Temperaturanstieg zähle jede Kommastelle. “Aber ich bin auch Realistin und ich sehe: Die Klimakrise ist hier. Und wir müssen lernen, uns anzupassen.” Stefan Boes
so geht das, wenn keiner und keine richtig hinguckt: Im März beschlossen der EU-Ministerrat bei einem Treffen in Brüssel neben vielen anderen Themen mal eben so einen neuen Kurs in der Klimapolitik: Statt wie bisher weiter das Aus für alle fossilen Brennstoffe ohne Wenn und Aber zu fordern, heißt es nun: Wenn dafür die bislang unerprobte Technik der CO2-Abscheidung (CCS) eingesetzt wird, wäre das auch in Ordnung. Also haben die Fossilen auch in einer klimaneutralen EU vielleicht doch noch eine Zukunft.
Die gleiche Position vertritt der nächste COP-Präsident Sultan Al Jaber aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Er wird dafür allerdings überall kritisiert wird, während die Europäer damit bisher durchkommen. Als wir das merkten, mussten wir es dringend aufschreiben. Auch dafür sind Klimakonferenzen nützlich, wie wir mit unserem Team in Bonn seit einer Woche merken.
Auch anderswo gibt es spannende Entwicklungen: Etwa die stille Revolution bei der Weltorganisation für Meteorologie WMO: Statt wie bisher auf unzureichende Daten aus vielen Ländern zu vertrauen, sollen die Messungen über Treibhausgase jetzt global organisiert werden. Und die Ukraine fordert nun nach der Zerstörung des Kharkhova-Staudamms, Russland wegen Ökoterrorismus aus der UNO auszuschließen – so sagt es uns im Interview ein hochrangiges Delegationsmitlied in Bonn.
Wir sind auch in der zweiten Woche auf der Klimakonferenz in Bonn. Und bleiben weiter dran.
Behalten Sie einen langen Atem
Die Europäische Union hat sich im Grundsatz bei einem der heißen Eisen der nächsten COP28 auf den gleichen Kurs festgelegt wie die COP-Präsidentschaft aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und andere Ölstaaten: die umstrittene CCS-Technik als Schlupfloch beim Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen zu nutzen. Die EU strebt nun auf der COP28 einen Beschluss an, der diese Formulierung erlauben würde. Das wurde am Rande der Bonner Klimakonferenz deutlich. Unabhängig davon bezeichnet eine neue Beurteilung des Thinktank-Projekts “Climate Action Tracker” die EU-Klimapolitik als “ungenügend“.
Nach einem Beschluss des EU-Ministerrats, der bereits im März gefasst wurde, soll es auf dem Weg zur Klimaneutralität nicht nur möglich sein, Emissionen aus Industrieprozessen, sondern auch aus der Energiewirtschaft abzuscheiden und zu speichern. Die Nutzung für den Energiesektor hatten die Europäer bislang abgelehnt und etwa bei der COP27 ein “Herunterfahren der fossilen Energien” ohne die Erwähnung von CCS gefordert. Die europäische Position verlangt jetzt nur noch ein “Energiesystem, frei von unverminderten fossilen Brennstoffen” – (“unabated fossil fuels”).
Diese Entscheidung, die bisher in der Öffentlichkeit kaum bekannt war, ist nicht nur eine Annäherung an öl- und gasproduzierende Länder wie die VAE oder die USA. Er steht auch im Widerspruch zur deutschen Position. Außenministerin Annalena Baerbock hatte auf dem Petersberger Klimadialog ihren Dissens mit dem nächsten COP-Präsidenten Sultan Ahmed Al Jaber zu diesem Punkt deutlich gemacht: “Wir müssen raus aus den fossilen Energien”, sagte sie – während Al Jaber betonte, die Welt müsse sich mit den Realitäten abfinden. “Fossile Brennstoffe werden auch weiterhin eine Rolle spielen“. Ziel solle es sein, “die Emissionen auslaufen zu lassen”.
Auch Staatssekretärin Jennifer Morgan hatte erklärt, sie glaube nicht, “dass CCS uns ans Ziel bringt”. Und im Wirtschafts- und Klimaministerium von Robert Habeck wird an einer deutschen CCS-Management-Strategie gearbeitet, deren klare Vorgabe lautet: CCS nur für Prozessemissionen aus der Industrie – nicht als Ausweg für die fossilen Brennstoffe im Energiebereich.
Diese Möglichkeit lässt die neue EU-Position nun aber offen. Ein “Energiesystem frei von unverminderten fossilen Brennstoffen” schließt die Anwendung der CCS-Technik als Möglichkeit auch in der Stromerzeugung und für die Verbrennung in der Industrie ein. Der Beschluss ist ein wenig konkreter als Al Jabers “Ende der Emissionen“, denn er verweist auf eine IPCC-Definition von “unabated fossil fuels” und auf einen Höhepunkt der Fossilen deutlich vor 2050. Al Jaber wiederum nutzte auf der Konferenz in Bonn bei einer Rede den EU-Begriff eines Energiesystems “free of unabated fossil fuels”.
Der EU-Kommission ist klar, dass der Beschluss den Fossilen selbst in einer klimaneutralen EU ein Existenzrecht als Brennstoffe zuweist. Ohnehin ist geplant, dass auch beim Netto-Null-Ziel der EU noch Emissionen aus Industrie oder Landwirtschaft in der Natur oder durch CCS gespeichert werden. In den Debatten für eine Öffnung zu “unabated fuels” hätten besonders Länder wie Polen oder Dänemark Druck gemacht, heißt es aus Verhandlungskreisen.
Mit dem Kurswechsel der EU wird ein Kompromiss in dieser umstrittenen Frage bei der COP28 wahrscheinlicher. Denn viele andere einflussreiche Staaten, deren Volkswirtschaften noch in großem Maß an fossilen Energien hängen, streben offen oder verdeckt dieses Ziel an: Die Ölstaaten, die USA, aber auch China oder europäische Länder wie Norwegen und Dänemark, die bereits an CCS-Projekten arbeiten.
Für die Wissenschaftler des “Climate Action Tracker” (CAT) ist CCS allerdings eine “gefährliche Ablenkung”. CCS solle nicht zur Verringerung der Emissionen im Stromsektor eingesetzt werden, weil “weitaus billigere erneuerbare Energien zur Verfügung stehen”, sagt Claire Stockwell von der CAT-Projektorganisation Climate Analytics. In ihrem aktuellen Gutachten auf halbem Weg zur COP28 kommt auch die EU nicht gut weg: Die anhaltenden Investitionen in neue fossile Infrastrukturen, insbesondere in LNG-Terminals und Gaspipelines, “untergraben die Dekarbonisierungsbemühungen der EU”, heißt es. Der CAT bewertet die Klimapolitik der EU insgesamt als “unzureichend”, auch weil die EU ihr bei der UN hinterlegtes Klimaziel (NDC) noch nicht wie versprochen angehoben hat.
Allgemein lauten die Hauptargumente der CCS-Kritiker: Die Technik sei teurer als die Erneuerbaren, weltweit nicht in großem Maßstab erprobt und komme für die nötige Halbierung der globalen Emissionen bis 2030 zu spät. Alden Meyer, Klimaexperte beim Think-Tank E3G, hofft allerdings darauf, dass in einer möglichen Erklärung der COP28 zum Ausstieg mithilfe von CCS immerhin sektorale Ziele definiert würden: Dann sei der Zusatz “unabated” nicht so problematisch, so Meyer. Denn dann sei klar, dass nur die wenigen schwer zu dekarbonisierenden Sektoren auf Techniken wie CCS zurückgreifen könnten.
Außerdem müsse die EU dann das Potenzial von CCS realistisch einschätzen, so Meyer. “Wenn man anerkennt, dass CCS vielleicht nur fünf Prozent der Emissionen verhindern kann, dann wäre klar, dass der Phase-down zu 95 fossile Brennstoffe jeglicher Art betreffen würde.” Die VAE jedenfalls, die stark für CCS plädieren, planen laut CAT bis 2030 nur einen Anteil von 2 Prozent ihrer Emissionen auf diese Weise zu speichern.
Meyer fordert deshalb eine Klarstellung der EU, welche Rolle sie CCS für den anvisierten Phase-down zuschreibt. Dafür aber sei erst einmal eine anerkannte Definition nötig, was als “abated fuel” gilt. Vergangene Woche hat die Kommission eine öffentliche Konsultation zu CCS gestartet, um zu prüfen, welche Rolle CCS bei der Dekarbonisierung bis 2030, 2040 und 2050 spielen kann.
Eine Debatte darüber fordern auch Experten der “Stiftung für Wissenschaft und Politik” (SWP). Sie stellen fest, dass in Ländern mit hohen Exporten fossiler Energieträger CCS als Option zur Absicherung fossiler Geschäftsmodelle diskutiert werde, damit der Druck auf die Abkehr von fossilen Energieträgern nachlasse. Sie gehen davon aus, dass die Potenziale der Technik insgesamt begrenzt sind: Bis 2050 könnten in der EU insgesamt 550 Millionen Tonnen CO₂ gespeichert werden. Weltweit geht die internationale Energieagentur (IEA) von etwas mehr als 5 Milliarden Tonnen in 2050 aus.
Herr Sydiachenko, welche wirtschaftlichen und ökologischen Folgen hat die Katastrophe am Kakhowka-Damm?
Es handelt sich um einen Fall von Ökozid. Präsident Zelenskyy war am Donnerstag in der Überschwemmungsregion und den umliegenden Regionen und hatte von der Stadt Kryvyi Rih aus ein virtuelles Treffen mit Vertretern der globalen Umweltschutzgemeinschaft, darunter der Vizepräsident des EU-Parlaments, die Aktivistin Greta Thunberg und andere. Er hat sie aufgefordert, dies als Ökozid zu bezeichnen. Die überflutete Region ist eines der größten Industrie- und Landwirtschaftszentren in Europa. In der Oblast Kherson gibt es viele Lagerhäuser für Chemikalien und Düngemittel, außerdem gibt es in der Nähe dieses Gebiets in der Region Kryvyi Rih viel Bergbau und das größte Stahlwerk der Ukraine. All diese gefährlichen Stoffe befinden sich jetzt im Wasser und werden in das Schwarze Meer gelangen. Dies ist eine internationale Katastrophe und ein Akt des Ökoterrorismus durch Russland.
Wie gefährlich ist die Überschwemmung?
Das Wasserreservoir des Kakhovka-Damms ist als “Kakhovka-Meer” bekannt. Der Wasserstand im Kakhovka-Stausee ist seit dem 6. Juni um mehr als 4,7 Meter gesunken. Dadurch wurde die Wasserversorgung von etwa 1 Million Menschen im Gebiet der Oblasten Dnipropetrivska und Zaporizhska und der Region Kryvyi Rih unterbrochen. Nach Angaben des Ministeriums für Umweltschutz waren mehr als 160.000 Vögel und mehr als 20.000 Wildtiere durch die Katastrophe vom Tod bedroht. Etwa 17.000 Menschen mussten evakuiert werden.
Wie viele Menschen sind gestorben? Medien berichten von etwa einem Dutzend.
Die genaue Zahl der menschlichen Opfer ist nicht bekannt, da die Menschen immer noch auf der Flucht sind und die Region evakuiert wird und uns Daten fehlen. Und die Russen schießen immer noch in die Vorgänge beir der Evakuierung. Mehr als 60 Prozent des überschwemmten Gebiets sind von Russland besetzt. Insgesamt sind jetzt 600 Quadratkilometer überflutet, sie sind eine Wüste geworden – eine Wasserwüste. Denn im Wasser befinden sich eine Menge gefährlicher Stoffe, die von Chemiestandorten, Abwasserkanälen und Industrieanlagen stammen.
Welche wirtschaftlichen Schäden sehen Sie?
Das können wir noch nicht berechnen, wir sind gerade dabei, die Menschen zu evakuieren und zu retten.
Vadym Sydiachenko arbeitet für die Abteilung Wirtschaftsdiplomatie im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Ukraine. Er ist Mitglied der ukrainischen Delegation bei der SB58-Konferenz in Bonn
Der Stausee dient ja auch zur Bewässerung der Felder. Wie sehr ist das betroffen?
Das Wasser des Kakhovka-Stausees wird für die Bewässerung der gesamten Südukraine verwendet. Auch die Krim bezieht ihr Wasser aus dem Kachowka-Stausee, und zwar aus dem Krim-Kanal. Durch diese Katastrophe haben wir in der Oblast Chersonska und anderen südlichen Regionen unsere diesjährige Ernte verloren. Das ist nicht nur ein Problem für die Ukraine, sondern auch für die Welt. Wir exportieren das Getreide nach Afrika und Asien, und viele Länder sind nun von Lebensmittelrisiken und Hungersnöten bedroht.
Der Kakhovka-Damm war auch ein Wasserkraftwerk. Wie stark wirkt sich der Verlust dieser Energie aus?
Das Wasserkraftwerk Kakhovka mit seiner 350-Megawatt-Kapazität war Teil von sechs Wasserkraftwerken, die als Ersatz für die in diesem Winter von Russland zerstörten Kohle-/Gaskraftwerke dienen sollten. Insgesamt liefert die Wasserkraft etwa 8 Prozent des ukrainischen Stroms. Jetzt, da Kakhovka weg ist, haben wir einen Mangel an Strom und müssen die Region ab und zu vom Netz nehmen.
Ist das Kernkraftwerk in Saporischschja in Gefahr?
Das Kraftwerk und die Region befinden sich unter russischer Kontrolle. Deshalb tragen sie die volle Verantwortung dafür. Nach der Zerstörung des Kachowka-Damms gibt es keine Wasserversorgung für die Kühlreservoirs des Kernkraftwerks Saporischschja. Das könnte ein Problem mit dem Kühlwasser sein, aber sie haben Reserven für einige Wochen. Aber wir wissen nicht, wie die Lage im Kernkraftwerk im Moment ist.
Wie sehr leidet die Umwelt unter dem Krieg?
Die Natur leidet furchtbar. Zusätzlich zu den Menschen und der Infrastruktur verlieren wir Wälder, Feuchtgebiete, Tiere, Schutzgebiete und Wasserressourcen. Der zusätzliche CO2-Ausstoß allein durch die Militäraktion in der Ukraine wird auf 40 Millionen Tonnen geschätzt. Wenn man auch die sekundären Auswirkungen wie das Verbrennen von Häusern, Fabriken und Wäldern mit einrechnet, kommen wir auf insgesamt 100 Millionen Tonnen CO2 seit Beginn des Krieges. Hier auf der Konferenz sprechen wir über die Anpassung an den Klimawandel, aber wie können wir uns anpassen, wenn unsere Wälder und Feuchtgebiete verschwunden sind?
Sie sagen, die Russen hätten den Damm gesprengt. Haben Sie dafür Beweise?
Erstens hat Russland das Gebiet des Kachowka-Staudamms besetzt und trägt die volle Verantwortung für dieses technische Objekt. Zweitens hat die Ukraine nicht die Waffen, um einen solchen Damm aus der Ferne zu zerstören. Eine Rakete reicht nicht aus, es bedarf eines langen Bombardements, für das wir keine Flugzeuge haben. Es war nur möglich, von der Innenseite des Bauwerks, von der Struktur des Staudamms aus, einzugreifen. Und dafür muss man Zugang zum Damm haben. Und Russland kontrolliert das Gebiet.
Die Klimakonferenz hier in Bonn geht ganz normal weiter, obwohl in Ihrem Heimatland dieser Krieg tobt. Wie kommen Sie damit zurecht?
Es ist keine normale Konferenz, weil wir in Gedanken zu Hause sind. Jede Nacht gibt es über meinem Haus in Kiew Luftalarm und unser Raketenabwehrsystem macht Bumm-Bumm-Bumm. Wir sind müde, wenn wir dort zur Arbeit gehen, aber die russischen Terroranschläge lassen uns nicht schlafen.
Wie ist es für Sie, mit der russischen Delegation hier in einem Raum zu sein?
Wir sprechen nicht mit ihnen. Wie würden Sie reagieren, wenn Ihr Nachbar nebenan jeden Tag versucht, Sie und Ihre Familie zu töten? Außerdem zerstört Russland alle internationalen Beziehungen. Sie blockieren jede Arbeit hier, wie die Suche nach einem neuen Gastgeberland für die COP29. Das ist nur dazu da, das UN-System zu zerstören.
Wie sollte die UNO nach Ihrer Meinung reagieren?
Wir sind der Meinung, dass Russland wegen des Terrorismus gegen friedliche Menschen und des Umweltmordes in der Ukraine aus der UNO ausgeschlossen werden sollte. Ich möchte betonen, dass es sich nicht nur um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine handelt, sondern um einen Kampf zwischen demokratischen Ländern und Tyrannei.
Das “Global Stocktake” wird in Bonn und danach eine politisch heiß debattierte Inventur der weltweiten Anstrengungen zum Klimaschutz sein. Doch der Prozess steht vor einem bislang kaum beachteten Problem: Gute Daten über Treibhausgasemissionen, die die Grundlage der Debatten bilden sollen, sind oft Mangelware, wie Table.Media gerade am Beispiel Chinas gezeigt hat.
Darauf hat nun die UN-Weltorganisation für Meteorologie (WMO) reagiert. Sie hat für exaktere Emissionsdaten ein neues Instrument namens Global Greenhouse Gas Watch vorgestellt. Damit sollen Emissionen künftig durch Messstationen und Satelliten zentral ausgewertet werden. Die Ergebnisse von Global Greenhouse Gas Watch können direkt mit der “zentralen Buchhaltung” der Atmosphäre verknüpft werden. Außerdem sollen sie Initiativen und Projekte bessere Kooperation ermöglichen, sagt Lars Peter Riishojgaard, bei der WMO zuständig für integrierte Beobachtungssysteme.
“Wir haben ein relativ gutes Verständnis über positive Emissionen“, sagt Riishojgaard. “Aber wir verstehen sehr wenig über negative Emissionen, beispielsweise durch Aufforstung oder das Reduzieren von Abholzung”. Entwicklungsländer erheben oft nicht regelmäßig zuverlässige Daten. Zum Beispiel bei Landnutzungsänderungen besteht eine hohe Unsicherheit darüber, wie Kohlenstoffkreisläufe funktionieren.
Viele Probleme entstehen durch die Art und Weise, wie Emissionen gemessen werden:
Die Qualität der Daten leidet, wenn Länder ihre nationalen Inventare nicht zuverlässig füllen. Eine aktuelle Studie zeigt, dass 69 Entwicklungsländer Schwierigkeiten haben, verlässliche Daten zu Treibhausgasemissionen zu erheben. Vor allem Inselstaaten im Pazifik, afrikanische Länder und Karibikstaaten haben Probleme bei der Datenerfassung.
Eine weitere Studie, nennt noch einen anderen Grund, warum die Emissionsdaten aus Entwicklungsländern oft unzuverlässiger sind: rechtliche Rahmenbedingungen unter der UNFCCC. Die legt an die Güte von Emissionsdaten verschiedene Maßstäbe an: Industriestaaten (Annex I), müssen beispielsweise detaillierte und regelmäßigere Berichte über ihre Emissionen einreichen. Schwellen- und Entwicklungsländer (Non-Annex I) müssen ihre Daten seltener erheben. Das macht die Daten schwer vergleichbar – und führt dazu, dass Diskussionen oftmals auf Grundlage von knapp zehn Jahre alten Daten geführt werden.
Laut William Lamb vom Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) handelt es sich dabei nicht nur um Länder mit niedrigen Emissionen: “Auch große Emittenten wie China, Indien oder Brasilien müssen ihr Inventar nicht jährlich erneuern“. Lars Peter Riishojgaard von der WMO zeigt noch weitere Probleme auf: Im Globalen Süden gibt es viel weniger Messstationen für Treibhausgase als im Norden.
MCC-Wissenschaftler Lamb fügt noch ein anderes “Riesen-Problem” hinzu: “Was wir über Emissionen aus Landwirtschaft und Landnutzungsänderungen wissen, ist mit großer Unsicherheit behaftet”, sagt er.
Wolfgang Obermeier, Geograf an der LMU München, erklärt dazu: “Emissionen aus Landnutzungsänderungen lassen sich nicht direkt beobachten“. Sie überlagern sich mit natürlichen Entwicklungen und müssen somit mit der Hilfe von Modellen oder statistischen Methoden berechnet werden – hierfür gibt es eine große Spannweite an Möglichkeiten.
Außerdem, so Obermeier, nähmen Non-Annex I Länder häufig nur Wald in ihre Daten zu Landnutzungsänderung auf und ließen beispielsweise Weideland oder die Wiedervernässung von Mooren außer Acht. Engmaschigere Beobachtungen beispielsweise durch den Einsatz von Satellitendaten seien nötig, um die Qualität der Emissionsdaten aus der Landnutzung zu verbessern.
Dazu will die WMO jetzt mit ihrem neuen Instrument “Global Greenhouse Gas Watch” beitragen. Er soll einen international koordinierten Top-Down Ansatz umsetzen – als Ergänzung zu den Inventurdaten der Länder. Ab 2026 soll es dann eine monatliche Veröffentlichung der weltweiten Ströme von Treibhausgas geben. Die Auflösung wird am Beginn mit 100 mal 100 Kilometern relativ grob sein, soll aber bis 2030 auf 1 mal 1 Kilometer verbessert werden. Neben CO₂ sollen auch die Konzentrationen von Lachgas und Methan abgebildet sein.
MCC-Wissenschaftler Lamb betont, dass es trotz einer besseren Top-Down-Analyse wichtig bleibe, dass Länder ihre Inventare Bottom-Up füllen. “Daten zu fluorierten Treibhausgasen kann man sehr gut über atmosphärische Messungen erfassen”, sagt er. “Für die gibt es keine natürlichen Quellen”. Doch viele Details würden mit einem Top-Down-Ansatz nicht erfasst.
Für CO₂, das auch in natürlichen Prozessen absorbiert werden kann, sei die Top-Down-Messung schwierig. Deshalb sei es auch nötig, dass die nationalen Inventare der Emissionsdaten besser würden. Dafür sei es auf der einen Seite wichtig, dass Entwicklungsländern in den Aufbau von Kapazitäten investierten. Besonders für große Emittenten wie Brasilien, China oder Indien, so Lamb, würden auch strengere Regeln durch die UNFCCC helfen.
12. Juni, 11.45 Uhr, Raum Bonn
Diskussion The GST and Ocean-based Carbon Dioxide Removal: opportunities, uncertainties, risks and future needs
Um bis 2050 eine Erwärmung von etwa 1,5 °C nicht zu überschreiten, müssen sowohl CO₂ entfernt aus der Atmosphäre entfernt und die CO₂-Emissionen massiv reduziert werden. Eine verstärkte Aufnahme und Entfernung von Kohlenstoff im Meer durch die gezielte Förderung natürlicher biologischer und geochemischer Prozesse bietet Chancen für die globale Bestandsaufnahme, birgt aber auch Unsicherheiten und Risiken. Auf dem Side Event wird diskutiert, ob und wie das gelingen kann. Infos
12. Juni, 11.45 Uhr, Kaminzimmer
Diskussion Counting the impact of industrial farming on our climate
Industrielle Landwirtschaft trägt zur Klimakrise bei – zum Beispiel durch Landnutzungsänderung, Abholzung oder den übermäßigen Einsatz von Düngern und Pestiziden. Bei der Diskussion unter anderem mit der Global Forest Coalition geht es um Lösungsansätze. Außerdem gibt es ein veganes Mittagessen. Infos
12. Juni, 13.15 Uhr, Raum Berlin
Vortrag Accelerating Climate and SDG Synergies as an Enabler for Just Transition
Auf diesem Side Event stellen UNFCCC und das United Nations Department of Economic and Social Affairs die Arbeit am Synergiebericht zu Klimaschutz und den SDGs (Sustainable Development Goals) vor. Infos
12. Juni, 14.45 Uhr, Raum Berlin
Diskussion A GST that Counts for People: Integrating Health into the Global Stocktake
Im Mittelpunkt dieser Veranstaltung stehen die Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Klimawandel. Es werden Beispiele für sektorübergreifende Maßnahmen vorgestellt, die den Menschen und dem Planeten zugutekommen. Außerdem werden Instrumente und Empfehlungen für die Einbeziehung der Gesundheit in die globale Bestandsaufnahme (GST) diskutiert. Das Event wird unter anderem von der World Health Organization organisiert. Infos
13. Juni, 10.45 Uhr, Kaminzimmer
Infos Clarifying obligations and deterring harm: the power of international law to address the climate crisis
Bei der Diskussion, die unter anderem vom Climate Action Network (CAN) ausgerichtet wird, wird erörtert, wie internationales Recht dazu beitragen kann, Klimaschutzmaßnahmen umzusetzen. Infos
13. Juni, 14.45 Uhr, Raum Bonn
Diskussion Taking stock of global progress on nature-based solutions to climate change
Nature-based Solutions sind ein Element von Klimaschutz. Auf diesem Side Event wird diskutiert, wie sie in Zukunft in Zusammenhang mit dem Globalen Bestandsaufnahme gestärkt werden können. Infos
13. Juni, 16.15 Uhr, Raum Berlin
Diskussion Achieving sexual and reproductive rights and climate justice
Diese Diskussion gibt einen Überblick über die Schnittpunkte zwischen sexuellen und reproduktiven Rechten und Klimagerechtigkeit. Es wird auch diskutiert, wie eine Gender Policy besser in Klimapolitik integriert werden kann. Infos
14. Juni, 13.15 Uhr, Raum Berlin
Diskussion Climate Finance for the Needs of Developing Countries
Die UNFCCC stellt die Fortschritte und Herausforderungen aus dem Programm “Needs-Based Finance” vor. Das Programm soll Mittel zur Klimafinanzierung für Entwicklungsländer mobilisieren. Infos
14. Juni, 14.45 Uhr, Raum Bonn
Diskussion Reparations for Climate Debt and the road to Just Transition
Der Übergang zu einer kohlenstofffreien Zukunft könne nur gelingen, wenn der Globale Süden für die historischen Klimaschulden des Globalen Nordens entschädigt wird – das denken viele Akteure aus dem Globalen Süden. Auf diesem Event diskutieren einige von ihnen darüber, wie solche Reparationszahlungen aussehen könnten. Infos
14. Juni, 16.15 Uhr, Raum Bonn
Diskussion The Bridgetown Initiative – Fit to Finance Climate Justice?
Die Bridgetown-Initiative hat seit ihrem Vorschlag auf der COP27 erheblich an Zugkraft gewonnen. Sie wurde unter der Führung der Regierung von Barbados entwickelt und ist ein innovativer Vorschlag, um einige der kritischen Probleme bei der Klimafinanzierung zu lösen. Kann die Intiative zu Klimagerechtigkeit beitragen? Darüber diskutieren unter anderem Vertreterinnen und Vertreter der Rosa Luxemburg Stiftung und des Global Economy Forum. Infos
Das CO₂-Budget, das der Welt noch zur Verfügung steht, wenn die Erderhitzung mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit noch auf 1,5 Grad begrenzt werden soll, hat sich in den vergangenen drei Jahren wohl halbiert. Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales Forschungsnetzwerk in einer aktuellen Studie. Sie wurde jüngst in der Fachzeitschrift Earth System Science Data veröffentlicht und auf der Bonner UN-Klimakonferenz SB 58 vorgestellt.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schätzen das noch verbleibende Budget für Anfang 2023 auf etwa 250 Gigatonnen. Für ihre Berechnungen verwendeten sie Methoden des Weltklimarats IPCC. Der hatte das Budget im Jahr 2020 noch auf etwa 500 Gigatonnen geschätzt.
“Das verbleibende Kohlenstoffbudget wird sehr klein”, schreiben die Forschenden in ihrem Artikel – und es könnte demnach noch kleiner sein als von ihnen berechnet. Denn die Schätzungen des Restbudgets gehen dem Artikel zufolge davon aus, dass auch die Emissionen anderer Treibhausgase – neben CO₂ – in Zukunft sinken werden. Doch wenn sie das nicht tun, treiben sie den globalen Temperaturanstieg weiter in die Höhe als angenommen. In der Konsequenz sinkt das verbleibende Kohlenstoffbudget. ae
Ein Team der “Data for Action Foundation” hat ein Online-Dashboard veröffentlicht, auf dem die Schlüsselindikatoren des Klimawandels in einem Überblick zusammengestellt sind. Die Indikatoren sollen jährlich aktualisiert werden.
Die Idee dahinter: Die maßgeblichen Sachstandsberichte des IPCC erscheinen in recht großen Abständen von mehreren Jahren. Doch angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich das globale Klimasystem verändert, brauchen Politik, Klimadiplomatie und Zivilgesellschaft Zugang zu aktuelleren soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Indikatoren des Dashboards könnten damit auch Eingang finden in die Globale Bestandsaufnahme (Global Stocktake) zum Klimaschutz, über die auf der SB 58 ebenfalls beraten wird.
Weitere Ergebnisse der aktuellen Studie:
Jan Minx, Klimawissenschaftler am Mercator Research Institute for Global Commons and Climate Change (MCC) und einer der Autoren der Studie, nennt die Ergebnisse einen “Weckruf”. Das CO₂-Budget werde wohl in wenigen Jahren erschöpft sein, warnt Piers Forster, Direktor des Priestley Centre for Climate Futures Leeds und Leitautor der Studie. Forster und weitere Vertreter des Forschungsnetzwerks appellierten an die internationale Klimapolitik, die Treibhausgasemissionen dringend zu senken. ae
Viele Großstädte und Unternehmen haben noch keine Netto-Null-Ziele und gefährden die Erreichung der nationalen Klimaziele. Das ist das Ergebnis des Net Zero Stocktake-Berichts, der heute veröffentlicht wurde. Laut der Studie verankern immer mehr Staaten Netto-Null-Klimaziele in nationale Gesetze und politische Strategien. Es bleibt also nicht nur bei Lippenbekenntnissen, sondern Netto-Null-Zusagen fließen in politische Prozesse ein, so die Studie.
Allerdings lägen große Städte und Unternehmen bei der Implementierung und Glaubwürdigkeit von Netto-Null-Zielen zurück:
Milena Glimbovski gehört bereits seit Jahren zu den bekanntesten Stimmen im deutschen Klima-Aktivismus. 2014, da war sie 24 Jahre alt, eröffnete sie “Original Unverpackt”, einen der ersten Unverpacktläden der Republik und wurde zu einer Vorreiterin der Zero-Waste-Bewegung. 2017 erschien ihr Buch “Ohne Wenn und Abfall”. Kurz darauf kürten der Berliner Senat und die Industrie- und Handelskammer sie zur Unternehmerin des Jahres. Inzwischen war Glimbovski auch Verlagsgründerin – der von ihr und ihrem Partner entwickelte Kalender “Ein guter Plan” gewann zahlreiche Design- und Nachhaltigkeitspreise. Und die Deutsche Welle bezeichnete sie als “Climate Hero”.
Doch wenn Klimaheldinnentum auf Wirklichkeit trifft, tritt unweigerlich auch Ernüchterung ein. Die intensive Beschäftigung mit Klima- und Umweltthemen führte bei Milena Glimbovski zu Angst und Hilflosigkeit. “Ich habe mich erschlagen gefühlt. Nicht nur von den Nachrichten, sondern von dem, was man alles machen müsste”, sagt die heute 33-Jährige. “Ich konnte nicht verstehen, was eigentlich in den nächsten Jahren in Deutschland passieren wird. Das hat mir Angst gemacht, besonders vor fünf Jahren, als ich meinen Sohn bekommen habe.”
Seitdem hat sie sich intensiv mit den Möglichkeiten der Anpassung an die Klimafolgen beschäftigt. Nun ist ihr Buch “Über Leben in der Klimakrise” erschienen. Sie kritisiert darin die mangelnde Vorsorgebereitschaft in Politik und Wirtschaft und benennt die strukturellen und sozialen Ebenen, auf denen Klimaanpassung notwendig ist. Die Liste ist lang: Hochwasserschutz, Trinkwasserversorgung, Meeresspiegelanstieg, Landwirtschaft, Energie, Katastrophenschutz, Stadtplanung, Migration. Zahlreiche Wirtschaftsbranchen müssen sich umstellen: Logistik, Bauindustrie, Tourismus und die Versicherungsbranche sind nur einige Beispiele.
Bei näherem Hinsehen wird auch deutlich, dass die verschiedenen Bereiche miteinander in Konflikt geraten können, wie Glimbovski am Beispiel der Flutkatastrophe 2021 zeigt: “Viele Versicherungen sind so gestaltet, dass Menschen an der gleichen Stelle das gleiche Haus wieder bauen müssen, sonst zahlt die Versicherung nicht. Diese Menschen müssten aber an anderer Stelle neu bauen oder umziehen.” Es sei ein großes Problem, dass bestimmte Gegenden als gutes Bauland ausgewiesen werden, obwohl sie in einer Hochwassergefahrenlage lägen. “Da waren Wirtschaftsinteressen wichtiger als die Sicherheit der Menschen.”
Wasser ist, wenig überraschend, eines der Hauptthemen ihres Buchs. Neben einem besseren Hochwasserschutz mahnt sie grundlegende Veränderungen in der Landwirtschaft an, die auch in Deutschland seit Jahren unter massiver Dürre leidet. “Dort ist die Frage: Braucht die Landwirtschaft Wasser, um Lebensmittel herzustellen? Oder braucht sie Wasser zur Herstellung von Getreide, das in Biogasanlagen wandert oder für Tierfutter verwendet wird?”
Die Autorin spricht sich für eine regenerative Landwirtschaft aus, welche die Bio-Kriterien noch übersteigt und sich vor allem auf die Gesundheit von Böden und Pflanzen konzentriert. Das könne besonders in trockenen Zeiten helfen. Untersuchungen, wie zuletzt etwa der Boston Consulting Group und des Naturschutzbundes NABU, deuten darauf hin, dass eine Umstellung auf regenerative Landwirtschaft, die die Böden nicht auslaugt, nach sechs bis zehn Jahren zu bis zu 60 Prozent höheren Gewinnen führen kann. Risiken in den Lieferketten könnten in Dürrejahren um etwa die Hälfte reduziert werden, heißt es in der Studie. “Das ist ein langer und teurer Weg”, räumt Glimbovski ein. Die Alternative sei aber, Menschen verhungern zu lassen. “Wir haben gar keine andere Wahl, als die Landwirtschaft anzupassen, wenn wir uns in Zukunft sicher, fair, sozialverträglich und gesund ernähren wollen. Dafür müssen wir Böden, Wasser und Ökosysteme besser schützen.”
Neben allen technischen Seiten der Klimaanpassung verliert Milena Glimbovski aber auch eine weitere Maßnahme nicht aus dem Blick, die ihr anfangs selbst so schwergefallen ist: die emotionale und psychische Bewältigung der Klimakrise. “Die Psychologie ist mir deshalb so wichtig, weil ich in meiner Arbeit immer wieder gemerkt habe, wie mich das gelähmt hat.” Das Schreiben des Buchs, die Recherche, die Gespräche mit Expertinnen und Experten und das Verstehen, was da eigentlich psychologisch passiert, hätten ihr geholfen. Sie konsumiere Klimanachrichten bewusst nur zu einer bestimmten Tageszeit. “Ich mache Pausen, ich rede mit Menschen darüber und habe Leute um mich, die das auch ernstnehmen. Es hilft, wenn man ein Gefühl von Gemeinschaft hat.”
Deshalb wünscht sich die Aktivistin, dass die realen Folgen stärker thematisiert werden. “Wir müssen jetzt über Klimaanpassung sprechen”, sagt sie. Aber bedeutet das, dass der Kampf gegen den Klimawandel schon verloren ist? Und es nun vor allem auf die Vorsorge ankommt? Einen solchen Fatalismus weist die Aktivistin von sich: “Beides ist eine Jahrhundertaufgabe.” Die Eindämmung ist wichtig, beim Temperaturanstieg zähle jede Kommastelle. “Aber ich bin auch Realistin und ich sehe: Die Klimakrise ist hier. Und wir müssen lernen, uns anzupassen.” Stefan Boes