Frau Hofmann, Sie sprechen bei Egon Zehnder oft vom Konzept des „Deep Leadership“. Wie wird sich Ihrer Meinung nach die CEO-Position beziehungsweise die C-Level-Ebene in den nächsten Jahren verändern?
Ich denke, es gibt vier Führungsthemen, die zunehmend an Bedeutung gewinnen und die geübt und vertieft werden müssen.
1. Mutiges Entscheiden: Entscheidungen treffen, auch wenn man nicht sicher sein kann, ob sie morgen noch relevant sind, ohne alle Daten zu haben und den gesamten Optionenraum zu kennen.
2. Brücken bauen: Integrativ führen, nicht polarisieren oder spalten. In einer Welt, die immer gegensätzlicher wird, müssen Führungskräfte Meinungen zusammenführen. Dabei geht es nicht darum, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, sondern mit dem Team in einen konstruktiven Diskurs zu treten.
3. Pluralismus: Diversität als Notwendigkeit sehen, um High Performance und Innovation voranzutreiben. Das bedeutet, die Vielfalt der Meinungen in Teams – also „Diversity of Thought“ – proaktiv zu fördern und weiterzuentwickeln.
4. Selbstentwicklung: Die Fähigkeit, sich selbst zu hinterfragen, mit Feedback zu arbeiten und ein „Growth Mindset“ zu entwickeln. Dabei geht es nicht nur darum, neue Kompetenzen zu erlernen, sondern sich wirklich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Um zu verstehen, was einen antreibt und welche Wirkung man auf das Team hat.
Diversität der Kompetenzen im Führungsteam ist für Sie ein entscheidender Faktor in modernen Unternehmen. Begegnen Ihnen solche vielfältigen Teams inzwischen häufig in deutschen Vorständen?
Grundsätzlich ja, sowohl in Vorständen als auch in Aufsichtsräten beobachten wir eine positive Entwicklung. Allerdings sind wir in Deutschland noch nicht auf dem Niveau, das im angloamerikanischen Raum schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, üblich ist.
Mir ist wichtig zu betonen, dass Diversität nicht nur eine Frage des Geschlechts ist. Viel entscheidender ist die Vielfalt an Meinungen, die „Diversity of Thought“. Das können mehr Männer oder mehr Frauen sein – entscheidend ist, dass sich die Teammitglieder in ihren Perspektiven ergänzen.
Viele Unternehmen diskutieren aktuell, ob und wie sich Soft Skills bei zukünftigen Führungskräften gezielt entwickeln lassen. Sind solche Kompetenzen tatsächlich erlernbar?
Wichtig ist, dass Unternehmen nicht erst dann ansetzen, wenn Führungskräfte bereits Verantwortung tragen. Sondern schon in der Entwicklung und Förderung junger Talente auf Soft Skills zu achten und entsprechende Programme anzubieten. Man muss heute deutlich früher ansetzen als bisher.
Erkennen Manager, wie es ihren Teams wirklich geht? Im aktuellen Leistungsdruck ist es doch sicher schwer, noch das richtige Gespür und die nötigen Skills zu erlernen, um die Mitarbeitenden wirksam zu unterstützen.
Das ist tatsächlich ein großes Thema, das wir sowohl bei unseren Klienten als auch bei uns selbst beobachten. Ich sehe die Herausforderung darin, dass wir uns als Führungskräfte noch breiter aufstellen müssen. Wir müssen besser verstehen, was diese komplexe, sich schnell verändernde Welt mit jedem Einzelnen macht – sowohl mit uns selbst als auch mit unseren Mitarbeitenden. Genau hier liegt der Knackpunkt: Wir legen noch zu wenig Wert darauf, diese Veränderungen und deren Auswirkungen wirklich zu verstehen.
Ist das Zeitalter von „One Size Fits All“ (das einzige Erfolgsrezept) in der Führung also vorbei?
Ich bin überzeugt, dass es das klassische „One Size Fits All“ in der Führung nicht mehr geben wird. Gerade die Möglichkeiten, die etwa künstliche Intelligenz bietet, eröffnen uns völlig neue Wege, Angebote und Maßnahmen individuell auf einzelne Personen oder Teams zuzuschneiden.
Gleichzeitig stellt diese Entwicklung Führungskräfte vor neue Herausforderungen. Die Zeiten, in denen man eine Entscheidung traf, die dann zehn Jahre lang Bestand hatte, sind vorbei. Heute ist vielmehr Agilität gefragt.
Welche konkreten KI-Ansätze werden heute schon angewandt?
Wir selbst nutzen beispielsweise psychometrische Verfahren (Persönlichkeitstest) zur Evaluation von Kandidatinnen und Kandidaten, die im persönlichen Entwicklungsgespräch eine zentrale Rolle spielen können. Das Thema 24/7-Betreuung, unterstützt durch KI, ist aber tatsächlich sehr relevant. Kürzlich hatte ich dazu ein spannendes Gespräch mit einem Führungskräftecoach aus unserem Leadership Advisory Team. Er sagte: „Absolut, das mache ich heute schon.“ Er bietet One-on-One-Coaching an, und anschließend erhält die Führungskraft für sechs Wochen ein Arbeitspaket. Dafür nutzt er bereits zwei, drei Plattformen, auf denen die Führungskraft täglich eincheckt, aktuelle Themen dokumentiert oder auch mal eine Meditation macht. Ich bin überzeugt, dass solche Modelle immer häufiger werden.
Beobachten Sie ähnliche Entwicklungen im Markt? Etwa, was den Einsatz von KI-gestützten Assistenten betrifft?
Ja, ich hatte vor Kurzem ein Führungskräfte-Event für Frauen in der Chemieindustrie. Eine CTO erzählte mir, dass sie ihr gesamtes Team dazu angehalten hat, mindestens eine Stunde pro Woche eigene Agenten zu programmieren und weiterzuentwickeln. Zumindest im Moment würde ich sagen, dass menschliches Urteilsvermögen vielleicht noch etwas besser ausgeprägt ist. Aber klar, die Frage ist, wie lange das noch so bleibt.
Neben klassischen C-Level-Positionen wie dem CTO entstehen immer mehr neue Rollen – Positionen etwa wie der Chief Sustainability Officer oder der Chief AI Officer. Wie bewerten Sie diesen Trend?
Das ist definitiv ein Trend, den wir wahrnehmen. Ich beobachte das selbst, gerade im Bereich der Prozessindustrie ist das Thema Nachhaltigkeit und Circularity inzwischen ganz oben auf der Agenda, weshalb die Rolle des Chief Sustainability Officer (CSO) in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen hat.
Ein Chief AI Officer ist noch seltener, aber solche spezialisierten C-Level-Positionen werden künftig häufiger entstehen. Unternehmen müssen ihre Führungsstrukturen erweitern, um diesen neuen Anforderungen gerecht zu werden. Die spannende Frage ist, ob solche Rollen als eigenständige Vorstandsposition etabliert werden oder zunächst auf einer Ebene darunter angesiedelt sind, etwa als Berichtslinie unter dem Chief Digital Officer.
Sehen Sie bei CEOs – insbesondere in den USA, etwa bei den großen Tech-Unternehmen – eine Tendenz zur „One-Man-Show“?
Das, was Sie beschreiben, nennen wir gelegentlich die „CEO-Krankheit“: Je länger jemand in einer solchen Position ist und je mehr Erfolg er oder sie hat, desto größer ist die Gefahr, sich in einen Elfenbeinturm zurückzuziehen, nicht mehr zuzuhören und sich für unfehlbar zu halten.
Es ist wichtig, sich regelmäßig Feedback einzuholen, sich selbst zu hinterfragen und an sich zu arbeiten – sei es durch Coaching, Supervision oder Meditation. Niemand ist unfehlbar, und sich das immer wieder bewusst zu machen, ist zentral, um nahbar und offen für die Perspektiven anderer zu bleiben.
Hinzu kommt, dass es in vielen internationalen Unternehmen eine deutliche Spaltung zwischen US- und Europa-Teams gibt – nicht zuletzt durch die politische Lage in den USA unter Präsident Trump.
Was wir beobachten ist, dass amerikanische Führungskräfte heute deutlich offener dafür sind, nach Europa zu wechseln – das war früher kaum der Fall. Früher haben viele US-Manager ausschließlich in den USA gearbeitet und waren selten bereit, für eine Position nach Europa zu gehen, insbesondere wenn dies mit niedrigeren Gehältern verbunden war, wie es in Europa oft der Fall ist. Heute sehen wir, dass diese Offenheit wächst.
Elke Hofmann ist Deutschland-Chefin der internationalen Personalberatung Egon Zehnder. Sie berät Unternehmen insbesondere in Fragen der CEO- und Nachfolgeplanung sowie zu Führungskultur und Transformation.