Table.Briefing: Bildung

+++ Table.Alert +++ PISA-Ergebnisse auf Tiefststand + Blick auf PISA-Spitzenreiter + Sozialforscher zu Versäumnissen

Liebe Leserin, lieber Leser,

die neue PISA-Studie zu den Kompetenzen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften bescheinigt Deutschlands Neuntklässlern so schlechte Ergebnisse wie noch nie. Traurig, aber wahr: Nach den alarmierenden Resultaten beim nationalen IQB-Bildungstrend (ebenfalls für Neuntklässler) im Oktober und der Grundschul-IGLU-Studie im Frühjahr überrascht das niemanden mehr. 

Kommt nun statt des PISA-Schocks das große PISA-Schulterzucken? Unser Kolumnist Mark Rackles hatte schon vor Wochen gewarnt: “Die wiederholte Feststellung des Bildungsnotstands erzeugt nicht mehr Druck, sondern mehr Gewöhnung.” Was es jetzt braucht: Mut zur Tat.

Am Anfang steht die schonungslose und zugleich differenzierte Analyse. Meine Kollegin Annette Kuhn hat den PISA-Bericht genau durchleuchtet. Der sozioökonomische Hintergrund des Elternhauses, der Migrationshintergrund, Bildschirmzeiten: alles Faktoren, die eine Rolle für den Bildungserfolg spielen. Einfache Wahrheiten gibt es nicht.

Auf die Analyse folgt die Frage, wo wir ansetzen können, um eine Trendwende zu schaffen. Es mangelt nicht an Wegweisern. Bildungsforscher Marcel Helbig etwa sagt im Interview mit Bildung.Table, dass die überbordende Aufgabenfülle von Lehrkräften reduziert werden muss. Und er warnt davor, einfach nur mehr Menschen in die Schulen zu holen und den Lehrerberuf zu deprofessionalisieren.

Das PISA-Vorzeigeland Singapur investiert zum Beispiel kräftig in die Professionalisierung, analysiert Gastautor Alexander Brand. “Lehrkräfte erhalten heute 100 Stunden bezahlte Fortbildungszeit pro Jahr, die sie vor allem für die Unterrichtsentwicklung in wöchentlichen professionellen Lerngemeinschaften nutzen.” Ein möglicher Mosaikstein für einen neuerlichen Bildungserfolg auch in Deutschland?

In diesem Sinne: Es kommen nun – nicht zu Unrecht – die Tage der Katastrophenrhetorik. Sie ziehen vorüber. Was bleibt, ist die gemeinsame Pflicht, konstruktiv und mutig mit den Ergebnissen umzugehen – und es besser zu machen. In den aktuellen Verhandlungen zum Digitalpakt und zum Startchancen-Programm haben Bund und Länder dazu eine einmalige Gelegenheit.

Ihr
Holger Schleper
Bild von Holger  Schleper

Analyse

Pisa – reif für einen neuen Schock

Pisa 2022 zeigt die niedrigsten Punktewerte, die Schüler in Deutschland seit der ersten Pisa-Erhebung 2000 erzielt haben. In allen getesteten Kompetenzbereichen, Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften, gingen die Leistungen bei den Schülern im Alter von 15 Jahren zurück. Allein die Differenz zwischen den Durchschnittsergebnissen von 2018 und 2022 in Mathematik und Lesen entspreche “dem Lernfortschritt, den Schüler:innen im Alter von ca. 15 Jahren während eines ganzen Schuljahres erzielen”, heißt es gleich am Anfang des Ergebnisberichts für Deutschland. Etwa ein Jahr Rückstand – das ist kaum aufzuholen, zumal viele Schüler beim Pisa-Test bereits am Ende ihrer Schullaufbahn stehen.

Da kann es auch nicht beruhigen, dass die Ergebnisse bei der achten Pisa-Runde in fast allen OECD-Ländern zurückgegangen sind. Denn in Deutschland ist der Rückgang überdurchschnittlich groß. Und es kann auch nicht beruhigen, dass Deutschland nicht unter dem OECD-Schnitt liegt – wie das noch im Jahr 2000 der Fall war, sondern ziemlich genau auf dem Durchschnittsniveau der 81 Länder und Regionen, in denen insgesamt 690.000 Schülerinnen und Schüler getestet wurden. Das gilt für Mathematik und Lesen. In den Naturwissenschaften erreichen die Schüler in Deutschland leicht bessere Werte.

Alle drei Jahre misst das “Programme for International Student Assessment” (Pisa) die Kompetenzen von 15-jährigen Schülern in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften. Dabei setzt die OECD-Studie, die für Deutschland von der Technischen Universität München (TUM) geleitet wird, im Wechsel einen Schwerpunkt auf einen der Kompetenzbereiche. Bei Pisa 2022 stand zum dritten Mal Mathematik im Fokus.

30 Prozent verfehlen bei Pisa in Mathe Mindestniveau

Den Spitzenplatz nimmt Singapur ein, gefolgt von Japan, Südkorea, Estland und der Schweiz. Es sind die üblichen Verdächtigen. Deutschland hatte 2012, als zum letzten Mal die mathematischen Kompetenzen im Fokus standen, noch Platz 10 im internationalen Ranking eingenommen. Diesmal schafften es die Schüler in Deutschland nur auf Platz 22, denn seit 2012 gehen die Werte kontinuierlich nach unten. Aber nicht nur Deutschland verzeichnet einen starken Leistungsabfall. Auch die Schüler in den Niederlanden und in Finnland, dem einstigen Spitzenreiter, zeigen ähnlich große Einbußen.

Überraschend sind die Ergebnisse allerdings nicht. Schon beim erst vor wenigen Wochen veröffentlichten IQB-Bildungstrend haben Neuntklässler schlecht abgeschnitten, wie auch schon im Frühjahr die Grundschüler bei der IGLU-Studie. Bei Pisa haben nun 25 Prozent der Schüler das Mindestkompetenzniveau im Lesen verfehlt. Das heißt konkret: Diese Schüler brauchen eine zusätzliche Förderung, um eine weitere schulische oder berufliche Ausbildung bewältigen zu können. In Naturwissenschaften betrifft das 23 Prozent, in Mathematik sogar 30 Prozent.

“Schuld” sind Corona-Pandemie und wachsende Heterogenität

Die Schuldigen für das schlechte Abschneiden waren bei IQB schnell gefunden – und sie werden auch bei Pisa schnell genannt werden: die Corona-Pandemie und die wachsende Heterogenität in den Klassenzimmern. Aber zumindest von der Pandemie waren fast alle Länder in ähnlicher Weise getroffen – und viele schneiden trotzdem besser ab als Deutschland. Einen systematischen Zusammenhang zwischen Schulschließungen und dem Leistungsrückgang gibt es also nicht.

Aber ein Punkt trifft im Kontext der Pandemie durchaus zu: “Deutschland war im internationalen Vergleich nicht gut auf den Distanzunterricht vorbereitet, was die Ausstattung mit Digitalgeräten angeht”, so Studienleiterin Doris Lewalter von der TUM. Deutschland habe dann zwar aufgeholt, aber davon profitierten nicht alle Schüler gleichermaßen.

Bildungsschere in Deutschland weit geöffnet

Laut Pisa-Bericht wurden insgesamt 70 Prozent der Schüler in Deutschland vom Distanzunterricht erreicht (OECD: 64 Prozent), allerdings davon 87 Prozent an Gymnasien und 64 Prozent an nicht-gymnasialen Schularten. Und für die Schularbeiten nutzten insgesamt 23 Prozent der Schüler ein Smartphone (OECD: 29 Prozent). Aber auch hier ist der differenzierte Blick wichtig. Denn an den Gymnasien waren es 13 Prozent und an den anderen Schularten 30 Prozent. Dass diese 30 Prozent schlechtere Lernvoraussetzungen hatten, als die, die einen PC oder Laptop nutzen konnten, liegt auf der Hand.

Das führt zu einem der größten Probleme an Deutschlands Schulen, das sich auch bei Pisa 2022 zeigt: Die Bildungsschere ist zwischen 2018 und 2022 nicht weiter aufgegangen – aber sie ist in Deutschland nach wie vor größer als in vielen anderen Ländern. Ordnet man die Schüler nach ihrem sozialen, ökonomischen und kulturellen Status auf einer Fünf-Stufen-Skala zu, zeigt sich, dass der Bildungserfolg nach wie vor stark vom sozioökonomischen Hintergrund des Elternhauses abhängt. Bei Pisa 2022 liegen in Deutschland 111 Punkte zwischen den privilegiertesten und den am stärksten benachteiligten Schülern. Im OECD-Mittel sind es 93 Punkte.

Pisa zeigt keine einfachen Wahrheiten

Verstärkt wird das schlechte Abschneiden oft noch durch einen Migrationshintergrund. Schüler ohne Migrationshintergrund haben demnach im Schnitt in Mathematik einen Leistungsvorsprung von 59 Punkten gegenüber Schülern mit Migrationshintergrund. Das betrifft aber nur die Jugendlichen der ersten Generation. Bei Schülern der zweiten Generation fällt der Unterschied deutlich geringer aus als bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Das heißt, auch hier gibt es keine einfachen Wahrheiten.

Bei seiner Ursachenforschung für den Leistungsabfall der 15-jährigen Schüler zeigt Pisa aber noch weitere Aspekte. So ist eine interessante Beobachtung der Zusammenhang zwischen Bildschirmzeit und Mathematikleistungen. Nicht verwunderlich ist dabei, dass derjenige schlechter abschneidet, der sein Smartphone vor allem für private Zwecke nutzt. Aber interessant ist auch, dass die Nutzung generell positiver wirkt als die komplette Abstinenz. Allerdings nur, wenn sie wohl dosiert ist.

Die Bundesbildungsministerin lässt sich vertreten

Vielleicht liegen die Ursachen für den Kompetenzrückgang aber auch im Unterricht. Jedenfalls zeigt Pisa auch, dass die Freude, die Selbstwirksamkeit und die Motivation in Bezug auf Mathematik deutlich nachgelassen und die Matheangst zugenommen hat.

Pisa bietet also viele Anknüpfungspunkte, an denen sich arbeiten ließe. Nur gibt es solche schon seit 2015 – seit die Leistungen wieder einbrechen. Geknüpft wurde bislang aber wenig. Und Pisa macht auch deutlich, dass das Startchancen-Programm und der Digitalpakt dringend gebraucht werden. Doch ob diese Dringlichkeit auch von der Bundesbildungsministerin gesehen wird, ist fraglich. Sie ließ sich jedenfalls am Dienstag von ihrem Staatssekretär bei der Vorstellung der Pisa-Studie vertreten.   

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Schulsysteme in Japan und Singapur: Es ist nicht nur Nachhilfe

Auch in Japan sitzen die Schüler nicht den ganzen Tag nur in Reihen und pauken Formeln und Vokabeln.

Nein, es ist kein Vorurteil. Asiatische Schüler verbringen viel Zeit mit privater Nachhilfe. In Japan spielt die Aufnahmeprüfung für die Universität eine entscheidende Rolle im Leben eines jungen Menschen. Denn im Berufsleben gilt noch immer: Der erste Arbeitgeber ist oft der Arbeitgeber auf Lebenszeit. Der Besuch einer angesehenen Universität ist ein Garant für ein gutes Leben, viel mehr als gute Noten im Studium.

Die japanische High School, in der man sich auf die Prüfung vorbereitet, gilt daher als besonders stressig. Auch die Wahl der High School ist nicht unwichtig: Eine gute Schule bereitet besser auf die große Prüfung vor. Da es auch hier eine Aufnahmeprüfung gibt, nehmen Schüler nicht selten auch im letzten Jahr der Junior High School, also in der neunten Klasse, Nachhilfeunterricht.

In Japan wenig Nachhilfe in unteren Klassen

Doch die Schuljahre davor – und hier enden die Stereotypen – sind von deutlich weniger Prüfungsdruck und privater Nachhilfe geprägt. Vor allem die Grundschulzeit bis zur sechsten Klasse ist wenig akademisch ausgerichtet. Die Schüler lernen eher spielerisch und gemeinsam, ohne frühe Selektion wie in Deutschland. Basiskompetenzen, soziales Lernen und Werteerziehung stehen im Vordergrund. Schulweite Förderstrukturen sorgen dafür, dass niemand zu weit zurückfällt.

Das ist insofern interessant, als Pisa die Leistungen von 15-Jährigen misst, also von Neuntklässlern. Diese Schüler haben in Japan den Großteil ihrer Schulzeit in einem System ohne besagten Prüfungsdruck und ohne private Nachhilfe verbracht. Das gilt erst recht für die Viert- und Achtklässler in Japan, die – wie die Timss-Studie 2019 zeigt – in Mathematik und Naturwissenschaften ebenfalls Spitzenplätze belegen. Nachhilfe kann das gute Abschneiden also nicht erklären.

Auch interessant: In Schulsystemen, die stark auf Nachhilfe setzen, hängt der Bildungserfolg meist stark vom sozioökonomischen Status der Eltern ab. Familien, die es sich leisten können, schicken ihre Kinder zur Nachhilfe. Armen Familien bleibt nur das staatliche System. Pisa zeigt aber, dass in Japan die Leistungen der 15-Jährigen weniger vom Elternhaus abhängen als etwa in Deutschland: 2022 hatten bei uns die privilegiertesten 25 Prozent der Schüler in Mathematik einen Leistungsvorsprung von 111 Punkten gegenüber den am stärksten benachteiligten 25 Prozent der Schüler. Im Durchschnitt der OECD lag die Spanne bei 93 Punkten, in Japan bei nur 81 Punkten.

Grundschulabitur in Singapur

Anders in Singapur. Hier werden die Kinder nach der sechsten Klasse auf verschiedene Schulformen aufgeteilt. Ein gutes Ergebnis beim “primary school leaving exam”, einer Art Grundschulabitur, ist entscheidend für den weiteren Lebensweg. Das bedeutet viel Druck. Und Familien, die es sich leisten können, investieren viel Geld in private Nachhilfe. Der Bildungserfolg – das zeigt auch Pisa – hängt in Singapur stark vom Elternhaus ab. Ohne private Nachhilfe würden die Pisa-Ergebnisse sicherlich schlechter ausfallen.

Aber um wie viel schlechter? Denn: Schüler aus armen Familien in Singapur, die sich eben keine Nachhilfe leisten können, schneiden trotzdem deutlich besser ab als Schüler aus armen Familien in anderen Ländern – auch in Deutschland. Das hilft ihnen zwar im heimischen Wettbewerb nicht viel, sollte uns aber zu denken geben.

Und noch ein Denkanstoß: Seit 1995 hat sich Singapur in internationalen Leistungsstudien enorm verbessert. Das Grundschulabitur – inklusive Prüfungsdruck – gibt es allerdings schon seit 1960. Der Leistungsdruck kann also nur zum Teil die sehr guten Ergebnisse von heute erklären.

Lehrerfortbildung und Unterrichtsentwicklung

In den vergangenen 25 Jahren hat das Schulsystem in Singapur vor allem in die Professionalisierung des Lehrpersonals investiert. Lehrkräfte erhalten heute 100 Stunden bezahlte Fortbildungszeit pro Jahr, die sie vor allem für die Unterrichtsentwicklung in wöchentlichen professionellen Lerngemeinschaften nutzen.

Auch in Japan investieren besonders Grundschulen viel Zeit in die Unterrichtsentwicklung. In sogenannten Lesson Study-Gruppen planen Lehrerteams regelmäßig gemeinsam eine Unterrichtsstunde mit einer Forschungsfrage im Hinterkopf. Sie führen die Stunde durch, analysieren das Lernverhalten und reflektieren ihren Unterricht.

Dass sich diese Anstrengungen auch in der Unterrichtsqualität niederschlagen, zeigt die vor drei Jahren veröffentlichte TALIS-Videostudie. In acht Ländern, darunter Deutschland und Japan, wurde Unterricht gefilmt und ausgewertet. Gemessen wurde unter anderem, inwieweit im Mathematikunterricht analytisches, beurteilendes oder kreatives Denken gefördert wird. Das Ergebnis: Ein solcher kognitiv aktivierender Unterricht war mit Abstand am häufigsten in japanischen Schulen zu sehen – übrigens viel häufiger als in China. Man kann asiatische Schulsysteme nicht über einen Kamm scheren.

Bildungserfolg hängt auch von Haltung und Lernkultur ab

Natürlich beeinflussen auch Faktoren abseits der Schule den Bildungserfolg. Japan mit seiner kulturell und ethnisch homogenen Gesellschaft hat weniger Herausforderungen bei der Integration. Singapur hingegen hat eine multiethnische Gesellschaft, die Menschen chinesischer, malaysischer und indischer Herkunft integrieren muss. Nur in knapp der Hälfte der Haushalte in Singapur ist Englisch, also die offizielle Unterrichtssprache, auch die zu Hause am häufigsten gesprochene Sprache.

Auch kulturelle Unterschiede spielen eine Rolle. Schüler in Asien schreiben schulischen Erfolg eher der eigenen Anstrengung als einer angeborenen Begabung zu – eine für den Lernerfolg förderliche Einstellung. Doch hier stellt sich auch die Frage, inwieweit eine solche Haltung nicht auch zur Lernkultur gehört und von Lehrkräften vermittelt werden kann. Alexander Brand

Alexander Brand ist Lehrer und Bildungsjournalist für das Deutsche Schulportal. Er hat fünf Monate lang Schulen in den Pisa-Siegerländern besucht – unter anderem in Japan und Singapur.

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“Wir haben wenig über das Warum dazugelernt”

Waren die Pisa-Ergebnisse für Sie erwartbar?

Marcel Helbig: Für Deutschland wussten wir schon ziemlich genau, was herauskommen würde. Beim letzten IQB-Bildungstrend wurde ja genau die gleiche Altersstufe getestet wie bei Pisa. Es war also mit schlechten Ergebnissen zu rechnen. Spannend ist nur, wie wir im Vergleich zu den anderen Ländern abgeschnitten haben.

Wo sehen Sie die Systemfehler in Deutschland?

Es zeigt sich sehr deutlich, dass die Verschlechterungen vor allem die nicht-gymnasialen Schulformen betreffen. Das ist nicht überraschend. Das hat sich schon deutlich in der Corona-Pandemie gezeigt. In den vielen kleinen Befragungen, die da gemacht wurden, kam immer wieder heraus, dass die Gymnasien schnell reagiert haben und Wege des digitalen Lernens gefunden haben. An anderen weiterführenden Schulen ist das viel weniger gelungen.

Woran liegt das?

Wenn man sich die Lehrkräfteabdeckung anschaut, wird deutlich, dass der Personalmangel nicht-gymnasiale Schulformen viel stärker trifft. In Thüringen oder Sachsen-Anhalt haben wir zum Teil an den Sekundarschulen eine Abdeckung von nur 90 Prozent. Und 16 beziehungsweise 12 Prozent der Schulen haben sogar eine Abdeckung von unter 80 Prozent. An den Gymnasien in Thüringen liegt sie hingegen bei über 100 Prozent, in Sachsen-Anhalt knapp darunter. Und an Schulen im ländlichen Raum und an Schulen mit hohem Armutsanteil ist die Versorgung noch schlechter. Wenn die Grundversorgung aber nicht gewährleistet ist, braucht man über pädagogische Modelle und Professionalisierung von Unterricht nicht zu sprechen, weil sie gar nicht umsetzbar sind. Und da sind wir genau beim Gegenteil von Bildungsgerechtigkeit.

Weichen wurden zur richtigen Zeit nicht gestellt

Wo sehen Sie die Ansatzpunkte, systemisch etwas zu verändern?

Wir haben die Weichen vor ein paar Jahren nicht gestellt. Da waren die Probleme schon absehbar. Es war klar, wie alt die Lehrkräfte sind und wann sie in Rente gehen. Das ließ sich alles vorausberechnen. Gerade im Osten haben wir wegen des großen Geburteneinbruchs trotzdem keine Lehrer mehr eingestellt. Eine riesige Kohorte von Lehrkräften wurde älter, und es kam nichts nach. In der ganzen Zeit hat die KMK auch nichts getan, kein Programm angestoßen, wie man sich vielleicht gegenseitig unterstützen kann. Und jetzt ist die Lücke riesig, und es gibt keine einfachen Antworten mehr. Das Kind ist in den Brunnen gefallen.

Aber man kann ja nicht nichts tun. Also was könnte weiterhelfen?

In der Corona-Zeit haben einige Bundesländer wie Niedersachsen und NRW über Minijobs relativ viele Personen an die Schulen geholt, die unterstützt haben. Das kann Entlastung bringen. Denn auch wenn insgesamt vielleicht gar nicht weniger Lehrer im System sind, müssen sie heute immer mehr leisten, weil immer mehr Aufgaben dazugekommen sind. Darum haben sie immer weniger Zeit, um vor der Klasse zu stehen. Das Problem kann man nur lösen, indem man sie wieder von Aufgaben befreit. Aber es reicht nicht, einfach nur mehr Menschen in die Schulen zu holen. Es braucht klare Absprachen und Zuständigkeiten, sonst ist das wenig effizient und führt letztlich zu einer Deprofessionalisierung.

Studien wie Pisa bringen wenig, wenn man nicht ins System schaut

Die Pisa-Studie, wie ja auch schon die nationalen Vergleichsstudien davor, zeigen, dass die Bildungsschere in Deutschland nach wie vor sehr groß ist. Das Problem ist also nicht neu. Wieso geht nichts voran?

Wir haben in 23 Jahren, seit der ersten Pisa-Studie, wenig über das Warum dazugelernt. Erst ging es mit den Leistungen ein bisschen nach oben, seit zehn Jahren geht es wieder runter. Die sozialen Ungleichheiten wurden erst etwas geringer, dann sind sie wieder größer geworden. Aber wenn ich nur die ganze Zeit messe und nicht schaue, was wirklich im System passiert, bringen uns diese Studien – bis auf eine Schlagzeile – relativ wenig.

Warum schauen wir nicht ins System?

Wir haben keine Datengrundlage, um das zu evaluieren. Da sind uns andere Länder Lichtjahre voraus. In Skandinavien, in den angelsächsischen Ländern und in den Niederlanden gibt es schon lange Bildungsregister. Jetzt wird das auch in Italien eingeführt. Aber wir schaffen es nicht. Nur wenn wir Daten zum Bildungsverlauf aller Kinder und zu ihren Kompetenzen haben und diese auch zu wissenschaftlichen Zwecken nutzen, können wir sehen, was schiefläuft, welche Effekte strukturelle Ungleichheiten zum Beispiel bei der Lehrkräfteversorgung haben, aber auch welche pädagogischen Modelle helfen können. Dann hätten wir eine Grundlage, informiert handeln zu können und auch Ressourcen steuern zu können.

Startchancen-Programm formuliert vier Paradigmenwechsel

Zum Beispiel Programme wie das Startchancen-Programm. Glauben Sie, dass dadurch mehr Bildungsgerechtigkeit in die Schulen kommt?

Der Ansatz, mehr Geld und Ressourcen in sozial benachteiligte Schulen zu stecken, ist prinzipiell richtig. Das Eckpunktepapier zum Startchancen-Programm formuliert auch mehrere Paradigmenwechsel im Schulbereich. Zum Beispiel gab es vorher noch bei keinem Programm ein klares, messbares Ziel. Beim Startchancen-Programm aber heißt es: Die Zahl der Kinder mit unzureichenden Kompetenzen in Lesen, Schreiben und Mathematik soll halbiert werden. Und neu ist auch, dass es eine Evaluation der Wirkung geben soll – auch wenn unklar ist, wie das umgesetzt werden soll. Das halte ich für einen Knackpunkt, aber die Absicht ist gut. Der dritte Paradigmenwechsel ist die Verpflichtung für alle 16 Bundesländer, einen Sozialindex zu entwickeln. Hätte mich vor einem halben Jahr jemand gefragt, ob Bayern einen Sozialindex umsetzt, hätte ich das nicht für möglich gehalten. Jetzt scheint das aber tatsächlich in allen Bundesländern der Fall zu sein. Und gut ist auch, dass sich das Programm von dem Narrativ verabschiedet, dass die Einzelschule am besten weiß, was sie braucht.

Weiß sie das denn nicht?

Manche wohl schon, aber sicher nicht alle. Daher sieht das Programm auch vor, den Schulen nicht einfach Mittel über das sogenannte Chancenbudget zu geben, sondern eine Art Werkzeugkasten anzubieten, aus dem sie sich bedienen können. Das finde ich interessant und richtig.

Zweifel, ob Schulbau etwas an den Kompetenzen verändert

Also ein perfektes Programm, das beim nächsten Mal zu besseren Pisa-Ergebnissen führt?

Da habe ich Zweifel und das liegt vor allem an den angedachten Maßnahmen und der Verteilung auf die Säulen. 40 Prozent sollen in den Schulbau gehen. Aber ich kenne keine Studie, die sagt, dass Schulbau etwas an den Kompetenzen der Kinder verändert. Und auch bei der Säule Schulsozialarbeit ist die Wirkungskette zu einer Verbesserung der Kompetenzen sehr lang. Aus meiner Sicht können diese beiden Säulen das Ziel nicht erreichen, soziale Ungleichheiten zu reduzieren. Bleibt also nur die Säule Chancenbudget.

Sie haben im Sommer eine Deutschlandkarte präsentiert, auf der Sie die Kinderarmutsquoten für die Einzugsgebiete aller Grundschulen in Deutschland aufzeigen. Arbeiten die Länder jetzt mit dieser Karte?

Ich glaube, dass die Karte zum richtigen Zeitpunkt kam, kurz vor den Bund-Länder-Verhandlungen zum Startchancen-Programm. Sie hat gezeigt, wie ungleich Armut verteilt ist, und damit klargemacht, dass man nicht einfach Geld über die Länder gleichmäßig verteilen kann. Zumindest bei der Säule Schulbau wird das nun teilweise berücksichtigt. Inzwischen war ich auch mit einigen Ländern im Gespräch, die einen Sozialindex entwickeln wollen und Beratungsbedarf haben. Das Interesse an dem Thema ist da. Und auch die Erkenntnis, dass sich etwas tun muss, damit die fehlende Bildungsteilhabe nicht noch größer wird und wir Schüler noch weiter abhängen.

Marcel Helbig ist Sozialwissenschaftler am Leibniz Institut für Bildungsverläufe in Bamberg und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Die Veröffentlichung einer Karte, auf der Helbig die Quote armer Kinder im Einzugsgebiet aller deutschen Grundschulen dargestellt hat, sorgte im Sommer für viel Aufmerksamkeit.

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Bildung.Table Redaktion

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    Liebe Leserin, lieber Leser,

    die neue PISA-Studie zu den Kompetenzen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften bescheinigt Deutschlands Neuntklässlern so schlechte Ergebnisse wie noch nie. Traurig, aber wahr: Nach den alarmierenden Resultaten beim nationalen IQB-Bildungstrend (ebenfalls für Neuntklässler) im Oktober und der Grundschul-IGLU-Studie im Frühjahr überrascht das niemanden mehr. 

    Kommt nun statt des PISA-Schocks das große PISA-Schulterzucken? Unser Kolumnist Mark Rackles hatte schon vor Wochen gewarnt: “Die wiederholte Feststellung des Bildungsnotstands erzeugt nicht mehr Druck, sondern mehr Gewöhnung.” Was es jetzt braucht: Mut zur Tat.

    Am Anfang steht die schonungslose und zugleich differenzierte Analyse. Meine Kollegin Annette Kuhn hat den PISA-Bericht genau durchleuchtet. Der sozioökonomische Hintergrund des Elternhauses, der Migrationshintergrund, Bildschirmzeiten: alles Faktoren, die eine Rolle für den Bildungserfolg spielen. Einfache Wahrheiten gibt es nicht.

    Auf die Analyse folgt die Frage, wo wir ansetzen können, um eine Trendwende zu schaffen. Es mangelt nicht an Wegweisern. Bildungsforscher Marcel Helbig etwa sagt im Interview mit Bildung.Table, dass die überbordende Aufgabenfülle von Lehrkräften reduziert werden muss. Und er warnt davor, einfach nur mehr Menschen in die Schulen zu holen und den Lehrerberuf zu deprofessionalisieren.

    Das PISA-Vorzeigeland Singapur investiert zum Beispiel kräftig in die Professionalisierung, analysiert Gastautor Alexander Brand. “Lehrkräfte erhalten heute 100 Stunden bezahlte Fortbildungszeit pro Jahr, die sie vor allem für die Unterrichtsentwicklung in wöchentlichen professionellen Lerngemeinschaften nutzen.” Ein möglicher Mosaikstein für einen neuerlichen Bildungserfolg auch in Deutschland?

    In diesem Sinne: Es kommen nun – nicht zu Unrecht – die Tage der Katastrophenrhetorik. Sie ziehen vorüber. Was bleibt, ist die gemeinsame Pflicht, konstruktiv und mutig mit den Ergebnissen umzugehen – und es besser zu machen. In den aktuellen Verhandlungen zum Digitalpakt und zum Startchancen-Programm haben Bund und Länder dazu eine einmalige Gelegenheit.

    Ihr
    Holger Schleper
    Bild von Holger  Schleper

    Analyse

    Pisa – reif für einen neuen Schock

    Pisa 2022 zeigt die niedrigsten Punktewerte, die Schüler in Deutschland seit der ersten Pisa-Erhebung 2000 erzielt haben. In allen getesteten Kompetenzbereichen, Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften, gingen die Leistungen bei den Schülern im Alter von 15 Jahren zurück. Allein die Differenz zwischen den Durchschnittsergebnissen von 2018 und 2022 in Mathematik und Lesen entspreche “dem Lernfortschritt, den Schüler:innen im Alter von ca. 15 Jahren während eines ganzen Schuljahres erzielen”, heißt es gleich am Anfang des Ergebnisberichts für Deutschland. Etwa ein Jahr Rückstand – das ist kaum aufzuholen, zumal viele Schüler beim Pisa-Test bereits am Ende ihrer Schullaufbahn stehen.

    Da kann es auch nicht beruhigen, dass die Ergebnisse bei der achten Pisa-Runde in fast allen OECD-Ländern zurückgegangen sind. Denn in Deutschland ist der Rückgang überdurchschnittlich groß. Und es kann auch nicht beruhigen, dass Deutschland nicht unter dem OECD-Schnitt liegt – wie das noch im Jahr 2000 der Fall war, sondern ziemlich genau auf dem Durchschnittsniveau der 81 Länder und Regionen, in denen insgesamt 690.000 Schülerinnen und Schüler getestet wurden. Das gilt für Mathematik und Lesen. In den Naturwissenschaften erreichen die Schüler in Deutschland leicht bessere Werte.

    Alle drei Jahre misst das “Programme for International Student Assessment” (Pisa) die Kompetenzen von 15-jährigen Schülern in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften. Dabei setzt die OECD-Studie, die für Deutschland von der Technischen Universität München (TUM) geleitet wird, im Wechsel einen Schwerpunkt auf einen der Kompetenzbereiche. Bei Pisa 2022 stand zum dritten Mal Mathematik im Fokus.

    30 Prozent verfehlen bei Pisa in Mathe Mindestniveau

    Den Spitzenplatz nimmt Singapur ein, gefolgt von Japan, Südkorea, Estland und der Schweiz. Es sind die üblichen Verdächtigen. Deutschland hatte 2012, als zum letzten Mal die mathematischen Kompetenzen im Fokus standen, noch Platz 10 im internationalen Ranking eingenommen. Diesmal schafften es die Schüler in Deutschland nur auf Platz 22, denn seit 2012 gehen die Werte kontinuierlich nach unten. Aber nicht nur Deutschland verzeichnet einen starken Leistungsabfall. Auch die Schüler in den Niederlanden und in Finnland, dem einstigen Spitzenreiter, zeigen ähnlich große Einbußen.

    Überraschend sind die Ergebnisse allerdings nicht. Schon beim erst vor wenigen Wochen veröffentlichten IQB-Bildungstrend haben Neuntklässler schlecht abgeschnitten, wie auch schon im Frühjahr die Grundschüler bei der IGLU-Studie. Bei Pisa haben nun 25 Prozent der Schüler das Mindestkompetenzniveau im Lesen verfehlt. Das heißt konkret: Diese Schüler brauchen eine zusätzliche Förderung, um eine weitere schulische oder berufliche Ausbildung bewältigen zu können. In Naturwissenschaften betrifft das 23 Prozent, in Mathematik sogar 30 Prozent.

    “Schuld” sind Corona-Pandemie und wachsende Heterogenität

    Die Schuldigen für das schlechte Abschneiden waren bei IQB schnell gefunden – und sie werden auch bei Pisa schnell genannt werden: die Corona-Pandemie und die wachsende Heterogenität in den Klassenzimmern. Aber zumindest von der Pandemie waren fast alle Länder in ähnlicher Weise getroffen – und viele schneiden trotzdem besser ab als Deutschland. Einen systematischen Zusammenhang zwischen Schulschließungen und dem Leistungsrückgang gibt es also nicht.

    Aber ein Punkt trifft im Kontext der Pandemie durchaus zu: “Deutschland war im internationalen Vergleich nicht gut auf den Distanzunterricht vorbereitet, was die Ausstattung mit Digitalgeräten angeht”, so Studienleiterin Doris Lewalter von der TUM. Deutschland habe dann zwar aufgeholt, aber davon profitierten nicht alle Schüler gleichermaßen.

    Bildungsschere in Deutschland weit geöffnet

    Laut Pisa-Bericht wurden insgesamt 70 Prozent der Schüler in Deutschland vom Distanzunterricht erreicht (OECD: 64 Prozent), allerdings davon 87 Prozent an Gymnasien und 64 Prozent an nicht-gymnasialen Schularten. Und für die Schularbeiten nutzten insgesamt 23 Prozent der Schüler ein Smartphone (OECD: 29 Prozent). Aber auch hier ist der differenzierte Blick wichtig. Denn an den Gymnasien waren es 13 Prozent und an den anderen Schularten 30 Prozent. Dass diese 30 Prozent schlechtere Lernvoraussetzungen hatten, als die, die einen PC oder Laptop nutzen konnten, liegt auf der Hand.

    Das führt zu einem der größten Probleme an Deutschlands Schulen, das sich auch bei Pisa 2022 zeigt: Die Bildungsschere ist zwischen 2018 und 2022 nicht weiter aufgegangen – aber sie ist in Deutschland nach wie vor größer als in vielen anderen Ländern. Ordnet man die Schüler nach ihrem sozialen, ökonomischen und kulturellen Status auf einer Fünf-Stufen-Skala zu, zeigt sich, dass der Bildungserfolg nach wie vor stark vom sozioökonomischen Hintergrund des Elternhauses abhängt. Bei Pisa 2022 liegen in Deutschland 111 Punkte zwischen den privilegiertesten und den am stärksten benachteiligten Schülern. Im OECD-Mittel sind es 93 Punkte.

    Pisa zeigt keine einfachen Wahrheiten

    Verstärkt wird das schlechte Abschneiden oft noch durch einen Migrationshintergrund. Schüler ohne Migrationshintergrund haben demnach im Schnitt in Mathematik einen Leistungsvorsprung von 59 Punkten gegenüber Schülern mit Migrationshintergrund. Das betrifft aber nur die Jugendlichen der ersten Generation. Bei Schülern der zweiten Generation fällt der Unterschied deutlich geringer aus als bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Das heißt, auch hier gibt es keine einfachen Wahrheiten.

    Bei seiner Ursachenforschung für den Leistungsabfall der 15-jährigen Schüler zeigt Pisa aber noch weitere Aspekte. So ist eine interessante Beobachtung der Zusammenhang zwischen Bildschirmzeit und Mathematikleistungen. Nicht verwunderlich ist dabei, dass derjenige schlechter abschneidet, der sein Smartphone vor allem für private Zwecke nutzt. Aber interessant ist auch, dass die Nutzung generell positiver wirkt als die komplette Abstinenz. Allerdings nur, wenn sie wohl dosiert ist.

    Die Bundesbildungsministerin lässt sich vertreten

    Vielleicht liegen die Ursachen für den Kompetenzrückgang aber auch im Unterricht. Jedenfalls zeigt Pisa auch, dass die Freude, die Selbstwirksamkeit und die Motivation in Bezug auf Mathematik deutlich nachgelassen und die Matheangst zugenommen hat.

    Pisa bietet also viele Anknüpfungspunkte, an denen sich arbeiten ließe. Nur gibt es solche schon seit 2015 – seit die Leistungen wieder einbrechen. Geknüpft wurde bislang aber wenig. Und Pisa macht auch deutlich, dass das Startchancen-Programm und der Digitalpakt dringend gebraucht werden. Doch ob diese Dringlichkeit auch von der Bundesbildungsministerin gesehen wird, ist fraglich. Sie ließ sich jedenfalls am Dienstag von ihrem Staatssekretär bei der Vorstellung der Pisa-Studie vertreten.   

    • Bildungspolitik
    • IQB
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    • Unterricht
    • Vergleichsarbeiten

    Schulsysteme in Japan und Singapur: Es ist nicht nur Nachhilfe

    Auch in Japan sitzen die Schüler nicht den ganzen Tag nur in Reihen und pauken Formeln und Vokabeln.

    Nein, es ist kein Vorurteil. Asiatische Schüler verbringen viel Zeit mit privater Nachhilfe. In Japan spielt die Aufnahmeprüfung für die Universität eine entscheidende Rolle im Leben eines jungen Menschen. Denn im Berufsleben gilt noch immer: Der erste Arbeitgeber ist oft der Arbeitgeber auf Lebenszeit. Der Besuch einer angesehenen Universität ist ein Garant für ein gutes Leben, viel mehr als gute Noten im Studium.

    Die japanische High School, in der man sich auf die Prüfung vorbereitet, gilt daher als besonders stressig. Auch die Wahl der High School ist nicht unwichtig: Eine gute Schule bereitet besser auf die große Prüfung vor. Da es auch hier eine Aufnahmeprüfung gibt, nehmen Schüler nicht selten auch im letzten Jahr der Junior High School, also in der neunten Klasse, Nachhilfeunterricht.

    In Japan wenig Nachhilfe in unteren Klassen

    Doch die Schuljahre davor – und hier enden die Stereotypen – sind von deutlich weniger Prüfungsdruck und privater Nachhilfe geprägt. Vor allem die Grundschulzeit bis zur sechsten Klasse ist wenig akademisch ausgerichtet. Die Schüler lernen eher spielerisch und gemeinsam, ohne frühe Selektion wie in Deutschland. Basiskompetenzen, soziales Lernen und Werteerziehung stehen im Vordergrund. Schulweite Förderstrukturen sorgen dafür, dass niemand zu weit zurückfällt.

    Das ist insofern interessant, als Pisa die Leistungen von 15-Jährigen misst, also von Neuntklässlern. Diese Schüler haben in Japan den Großteil ihrer Schulzeit in einem System ohne besagten Prüfungsdruck und ohne private Nachhilfe verbracht. Das gilt erst recht für die Viert- und Achtklässler in Japan, die – wie die Timss-Studie 2019 zeigt – in Mathematik und Naturwissenschaften ebenfalls Spitzenplätze belegen. Nachhilfe kann das gute Abschneiden also nicht erklären.

    Auch interessant: In Schulsystemen, die stark auf Nachhilfe setzen, hängt der Bildungserfolg meist stark vom sozioökonomischen Status der Eltern ab. Familien, die es sich leisten können, schicken ihre Kinder zur Nachhilfe. Armen Familien bleibt nur das staatliche System. Pisa zeigt aber, dass in Japan die Leistungen der 15-Jährigen weniger vom Elternhaus abhängen als etwa in Deutschland: 2022 hatten bei uns die privilegiertesten 25 Prozent der Schüler in Mathematik einen Leistungsvorsprung von 111 Punkten gegenüber den am stärksten benachteiligten 25 Prozent der Schüler. Im Durchschnitt der OECD lag die Spanne bei 93 Punkten, in Japan bei nur 81 Punkten.

    Grundschulabitur in Singapur

    Anders in Singapur. Hier werden die Kinder nach der sechsten Klasse auf verschiedene Schulformen aufgeteilt. Ein gutes Ergebnis beim “primary school leaving exam”, einer Art Grundschulabitur, ist entscheidend für den weiteren Lebensweg. Das bedeutet viel Druck. Und Familien, die es sich leisten können, investieren viel Geld in private Nachhilfe. Der Bildungserfolg – das zeigt auch Pisa – hängt in Singapur stark vom Elternhaus ab. Ohne private Nachhilfe würden die Pisa-Ergebnisse sicherlich schlechter ausfallen.

    Aber um wie viel schlechter? Denn: Schüler aus armen Familien in Singapur, die sich eben keine Nachhilfe leisten können, schneiden trotzdem deutlich besser ab als Schüler aus armen Familien in anderen Ländern – auch in Deutschland. Das hilft ihnen zwar im heimischen Wettbewerb nicht viel, sollte uns aber zu denken geben.

    Und noch ein Denkanstoß: Seit 1995 hat sich Singapur in internationalen Leistungsstudien enorm verbessert. Das Grundschulabitur – inklusive Prüfungsdruck – gibt es allerdings schon seit 1960. Der Leistungsdruck kann also nur zum Teil die sehr guten Ergebnisse von heute erklären.

    Lehrerfortbildung und Unterrichtsentwicklung

    In den vergangenen 25 Jahren hat das Schulsystem in Singapur vor allem in die Professionalisierung des Lehrpersonals investiert. Lehrkräfte erhalten heute 100 Stunden bezahlte Fortbildungszeit pro Jahr, die sie vor allem für die Unterrichtsentwicklung in wöchentlichen professionellen Lerngemeinschaften nutzen.

    Auch in Japan investieren besonders Grundschulen viel Zeit in die Unterrichtsentwicklung. In sogenannten Lesson Study-Gruppen planen Lehrerteams regelmäßig gemeinsam eine Unterrichtsstunde mit einer Forschungsfrage im Hinterkopf. Sie führen die Stunde durch, analysieren das Lernverhalten und reflektieren ihren Unterricht.

    Dass sich diese Anstrengungen auch in der Unterrichtsqualität niederschlagen, zeigt die vor drei Jahren veröffentlichte TALIS-Videostudie. In acht Ländern, darunter Deutschland und Japan, wurde Unterricht gefilmt und ausgewertet. Gemessen wurde unter anderem, inwieweit im Mathematikunterricht analytisches, beurteilendes oder kreatives Denken gefördert wird. Das Ergebnis: Ein solcher kognitiv aktivierender Unterricht war mit Abstand am häufigsten in japanischen Schulen zu sehen – übrigens viel häufiger als in China. Man kann asiatische Schulsysteme nicht über einen Kamm scheren.

    Bildungserfolg hängt auch von Haltung und Lernkultur ab

    Natürlich beeinflussen auch Faktoren abseits der Schule den Bildungserfolg. Japan mit seiner kulturell und ethnisch homogenen Gesellschaft hat weniger Herausforderungen bei der Integration. Singapur hingegen hat eine multiethnische Gesellschaft, die Menschen chinesischer, malaysischer und indischer Herkunft integrieren muss. Nur in knapp der Hälfte der Haushalte in Singapur ist Englisch, also die offizielle Unterrichtssprache, auch die zu Hause am häufigsten gesprochene Sprache.

    Auch kulturelle Unterschiede spielen eine Rolle. Schüler in Asien schreiben schulischen Erfolg eher der eigenen Anstrengung als einer angeborenen Begabung zu – eine für den Lernerfolg förderliche Einstellung. Doch hier stellt sich auch die Frage, inwieweit eine solche Haltung nicht auch zur Lernkultur gehört und von Lehrkräften vermittelt werden kann. Alexander Brand

    Alexander Brand ist Lehrer und Bildungsjournalist für das Deutsche Schulportal. Er hat fünf Monate lang Schulen in den Pisa-Siegerländern besucht – unter anderem in Japan und Singapur.

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    “Wir haben wenig über das Warum dazugelernt”

    Waren die Pisa-Ergebnisse für Sie erwartbar?

    Marcel Helbig: Für Deutschland wussten wir schon ziemlich genau, was herauskommen würde. Beim letzten IQB-Bildungstrend wurde ja genau die gleiche Altersstufe getestet wie bei Pisa. Es war also mit schlechten Ergebnissen zu rechnen. Spannend ist nur, wie wir im Vergleich zu den anderen Ländern abgeschnitten haben.

    Wo sehen Sie die Systemfehler in Deutschland?

    Es zeigt sich sehr deutlich, dass die Verschlechterungen vor allem die nicht-gymnasialen Schulformen betreffen. Das ist nicht überraschend. Das hat sich schon deutlich in der Corona-Pandemie gezeigt. In den vielen kleinen Befragungen, die da gemacht wurden, kam immer wieder heraus, dass die Gymnasien schnell reagiert haben und Wege des digitalen Lernens gefunden haben. An anderen weiterführenden Schulen ist das viel weniger gelungen.

    Woran liegt das?

    Wenn man sich die Lehrkräfteabdeckung anschaut, wird deutlich, dass der Personalmangel nicht-gymnasiale Schulformen viel stärker trifft. In Thüringen oder Sachsen-Anhalt haben wir zum Teil an den Sekundarschulen eine Abdeckung von nur 90 Prozent. Und 16 beziehungsweise 12 Prozent der Schulen haben sogar eine Abdeckung von unter 80 Prozent. An den Gymnasien in Thüringen liegt sie hingegen bei über 100 Prozent, in Sachsen-Anhalt knapp darunter. Und an Schulen im ländlichen Raum und an Schulen mit hohem Armutsanteil ist die Versorgung noch schlechter. Wenn die Grundversorgung aber nicht gewährleistet ist, braucht man über pädagogische Modelle und Professionalisierung von Unterricht nicht zu sprechen, weil sie gar nicht umsetzbar sind. Und da sind wir genau beim Gegenteil von Bildungsgerechtigkeit.

    Weichen wurden zur richtigen Zeit nicht gestellt

    Wo sehen Sie die Ansatzpunkte, systemisch etwas zu verändern?

    Wir haben die Weichen vor ein paar Jahren nicht gestellt. Da waren die Probleme schon absehbar. Es war klar, wie alt die Lehrkräfte sind und wann sie in Rente gehen. Das ließ sich alles vorausberechnen. Gerade im Osten haben wir wegen des großen Geburteneinbruchs trotzdem keine Lehrer mehr eingestellt. Eine riesige Kohorte von Lehrkräften wurde älter, und es kam nichts nach. In der ganzen Zeit hat die KMK auch nichts getan, kein Programm angestoßen, wie man sich vielleicht gegenseitig unterstützen kann. Und jetzt ist die Lücke riesig, und es gibt keine einfachen Antworten mehr. Das Kind ist in den Brunnen gefallen.

    Aber man kann ja nicht nichts tun. Also was könnte weiterhelfen?

    In der Corona-Zeit haben einige Bundesländer wie Niedersachsen und NRW über Minijobs relativ viele Personen an die Schulen geholt, die unterstützt haben. Das kann Entlastung bringen. Denn auch wenn insgesamt vielleicht gar nicht weniger Lehrer im System sind, müssen sie heute immer mehr leisten, weil immer mehr Aufgaben dazugekommen sind. Darum haben sie immer weniger Zeit, um vor der Klasse zu stehen. Das Problem kann man nur lösen, indem man sie wieder von Aufgaben befreit. Aber es reicht nicht, einfach nur mehr Menschen in die Schulen zu holen. Es braucht klare Absprachen und Zuständigkeiten, sonst ist das wenig effizient und führt letztlich zu einer Deprofessionalisierung.

    Studien wie Pisa bringen wenig, wenn man nicht ins System schaut

    Die Pisa-Studie, wie ja auch schon die nationalen Vergleichsstudien davor, zeigen, dass die Bildungsschere in Deutschland nach wie vor sehr groß ist. Das Problem ist also nicht neu. Wieso geht nichts voran?

    Wir haben in 23 Jahren, seit der ersten Pisa-Studie, wenig über das Warum dazugelernt. Erst ging es mit den Leistungen ein bisschen nach oben, seit zehn Jahren geht es wieder runter. Die sozialen Ungleichheiten wurden erst etwas geringer, dann sind sie wieder größer geworden. Aber wenn ich nur die ganze Zeit messe und nicht schaue, was wirklich im System passiert, bringen uns diese Studien – bis auf eine Schlagzeile – relativ wenig.

    Warum schauen wir nicht ins System?

    Wir haben keine Datengrundlage, um das zu evaluieren. Da sind uns andere Länder Lichtjahre voraus. In Skandinavien, in den angelsächsischen Ländern und in den Niederlanden gibt es schon lange Bildungsregister. Jetzt wird das auch in Italien eingeführt. Aber wir schaffen es nicht. Nur wenn wir Daten zum Bildungsverlauf aller Kinder und zu ihren Kompetenzen haben und diese auch zu wissenschaftlichen Zwecken nutzen, können wir sehen, was schiefläuft, welche Effekte strukturelle Ungleichheiten zum Beispiel bei der Lehrkräfteversorgung haben, aber auch welche pädagogischen Modelle helfen können. Dann hätten wir eine Grundlage, informiert handeln zu können und auch Ressourcen steuern zu können.

    Startchancen-Programm formuliert vier Paradigmenwechsel

    Zum Beispiel Programme wie das Startchancen-Programm. Glauben Sie, dass dadurch mehr Bildungsgerechtigkeit in die Schulen kommt?

    Der Ansatz, mehr Geld und Ressourcen in sozial benachteiligte Schulen zu stecken, ist prinzipiell richtig. Das Eckpunktepapier zum Startchancen-Programm formuliert auch mehrere Paradigmenwechsel im Schulbereich. Zum Beispiel gab es vorher noch bei keinem Programm ein klares, messbares Ziel. Beim Startchancen-Programm aber heißt es: Die Zahl der Kinder mit unzureichenden Kompetenzen in Lesen, Schreiben und Mathematik soll halbiert werden. Und neu ist auch, dass es eine Evaluation der Wirkung geben soll – auch wenn unklar ist, wie das umgesetzt werden soll. Das halte ich für einen Knackpunkt, aber die Absicht ist gut. Der dritte Paradigmenwechsel ist die Verpflichtung für alle 16 Bundesländer, einen Sozialindex zu entwickeln. Hätte mich vor einem halben Jahr jemand gefragt, ob Bayern einen Sozialindex umsetzt, hätte ich das nicht für möglich gehalten. Jetzt scheint das aber tatsächlich in allen Bundesländern der Fall zu sein. Und gut ist auch, dass sich das Programm von dem Narrativ verabschiedet, dass die Einzelschule am besten weiß, was sie braucht.

    Weiß sie das denn nicht?

    Manche wohl schon, aber sicher nicht alle. Daher sieht das Programm auch vor, den Schulen nicht einfach Mittel über das sogenannte Chancenbudget zu geben, sondern eine Art Werkzeugkasten anzubieten, aus dem sie sich bedienen können. Das finde ich interessant und richtig.

    Zweifel, ob Schulbau etwas an den Kompetenzen verändert

    Also ein perfektes Programm, das beim nächsten Mal zu besseren Pisa-Ergebnissen führt?

    Da habe ich Zweifel und das liegt vor allem an den angedachten Maßnahmen und der Verteilung auf die Säulen. 40 Prozent sollen in den Schulbau gehen. Aber ich kenne keine Studie, die sagt, dass Schulbau etwas an den Kompetenzen der Kinder verändert. Und auch bei der Säule Schulsozialarbeit ist die Wirkungskette zu einer Verbesserung der Kompetenzen sehr lang. Aus meiner Sicht können diese beiden Säulen das Ziel nicht erreichen, soziale Ungleichheiten zu reduzieren. Bleibt also nur die Säule Chancenbudget.

    Sie haben im Sommer eine Deutschlandkarte präsentiert, auf der Sie die Kinderarmutsquoten für die Einzugsgebiete aller Grundschulen in Deutschland aufzeigen. Arbeiten die Länder jetzt mit dieser Karte?

    Ich glaube, dass die Karte zum richtigen Zeitpunkt kam, kurz vor den Bund-Länder-Verhandlungen zum Startchancen-Programm. Sie hat gezeigt, wie ungleich Armut verteilt ist, und damit klargemacht, dass man nicht einfach Geld über die Länder gleichmäßig verteilen kann. Zumindest bei der Säule Schulbau wird das nun teilweise berücksichtigt. Inzwischen war ich auch mit einigen Ländern im Gespräch, die einen Sozialindex entwickeln wollen und Beratungsbedarf haben. Das Interesse an dem Thema ist da. Und auch die Erkenntnis, dass sich etwas tun muss, damit die fehlende Bildungsteilhabe nicht noch größer wird und wir Schüler noch weiter abhängen.

    Marcel Helbig ist Sozialwissenschaftler am Leibniz Institut für Bildungsverläufe in Bamberg und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Die Veröffentlichung einer Karte, auf der Helbig die Quote armer Kinder im Einzugsgebiet aller deutschen Grundschulen dargestellt hat, sorgte im Sommer für viel Aufmerksamkeit.

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