+++ Table.Alert +++ OECD: Mehr Bildungsverlierer in Deutschland
Entgegen OECD-Trend: Immer mehr Menschen in Deutschland erwerben nur niedrigen Bildungsabschluss
Liebe Leserin, lieber Leser,
in diesen Minuten stellt die OECD in Paris eine neue Studie vor, die mehr als 40 Bildungssysteme weltweit vergleicht. Im Fokus steht die berufliche Bildung – und, für Deutschland, ein erstaunlicher Trend. Denn entgegen fast aller anderen Staaten wächst in Deutschland die Zahl derjenigen, die nur noch einen Abschluss der Sekundarstufe I erlangen. Der Anteil der jungen Menschen mit Sekundarschulabschluss II geht also zurück. Dazu gehört auch der Berufsschulabschluss. “Ohne Sekundar-II-Abschluss haben Menschen in Deutschland kaum Berufs- und Lebenschancen”, erklärte uns dazu der Direktor for Education, Andreas Schleicher.
Wir haben die für Deutschland wichtigsten Ergebnisse für Sie zusammengetragen. Dem Musterland der Ausbildung wird der Spiegel vorgehalten – und der zeigt erste Krisensymptome. Denn die Abschlüsse in der beruflichen Bildung nehmen dramatisch ab. Gleichzeitig schrumpft die “Bildungsmittelschicht”, während die Gruppen der Bildungsverlierer und -gewinner wachsen.
Eine informative Lektüre wünscht,
Ihr Niklas Prenzel
Zahl der Bildungsverlierer in Deutschland steigt
Der Anteil junger Menschen ohne höheren Schulabschluss oder Berufsausbildung nimmt in Deutschland zu. Zwischen 2015 und 2022 stieg der Wert von 13 auf 16 Prozent. Damit gehört Deutschland zusammen mit Tschechien zu den Verlierern. In allen anderen OECD-Staaten sank der Anteil der 25- bis 34-Jährigen mit niedrigen Bildungsabschlüssen in diesen sieben Jahren im Durchschnitt von 18 auf 14 Prozent. Das geht aus der Studie “Education at a Glance” hervor, die heute veröffentlicht wird.
“Ohne Sekundar-II-Abschluss haben Menschen in Deutschland kaum Berufs- und Lebenschancen“, sagte Andreas Schleicher, OECD-Director for Education, Table.Media. Die Zunahme habe sicher auch mit der Zuwanderung zu tun. “Aber im Wesentlichen zeigt der Anstieg, dass Bildung in Deutschland sehr viel mehr tun muss, um soziale Defizite auszugleichen und Talente zu finden und zu fördern.”
Immer weniger Menschen absolvieren Berufsausbildung
Die jährlich erscheinende Studie analysiert die Bildungssysteme der 38 OECD-Staaten sowie weiterer Länder wie China, Brasilien oder Südafrika. Der aktuelle Bericht stellt die Berufsbildung international in den Fokus. Dabei verzeichnet Deutschland einen Rückgang bei denen, die eine Ausbildung erfolgreich abschließen. Verfügten 2015 noch 51 Prozent der jungen Menschen, die eine weiterführende Schule besucht hatten, über einen Berufsabschluss, sind es sieben Jahre später noch 38 Prozent. OECD-weit sucht man ein vergleichbar starkes Absacken vergeblich. Im OECD-Schnitt liegt der Trend bei einem Minus von zwei Prozent.
“Die abnehmenden Beteiligungsraten zeigen, dass das Berufsbildungssystem in Deutschland für junge Menschen attraktiver und durchlässiger werden muss”, sagte Schleicher. Denn das Berufsbildungssystem in Deutschland sei “hochwertig” und gebe jungen Menschen “die Chance, an Wirtschaftsentwicklung und -wachstum teilzuhaben.”
Um Lehrberufe attraktiver zu machen, müssten laut Bericht einige Länder Menschen mit Berufsabschluss den Zugang zum Studium für erleichtern. Zwar gibt es in den meisten Fällen Wege, allerdings nicht immer für alle Studiengänge. So auch in Deutschland, wo die Absolventen bisher auf praxisbezogene berufsorientierte Bachelor-Bildungsgänge beschränkt sind. Helfen könnten laut Bericht zudem mehr Online- und Teilzeitangebote.
Zahl der jungen Unbeschäftigten sinkt
Mit Blick auf Deutschland zeigen die OECD-Zahlen einen Trend auf, der gesellschaftliches Spaltpotenzial hat. Denn wenn immer weniger Menschen in Deutschland eine Berufsausbildung absolvieren, schrumpft auch die Bildungsmittelschicht. Dadurch polarisiere sich laut OECD das deutsche Bildungssystem: Immer mehr Menschen sind sehr gering – oder sehr hoch qualifiziert.
Jedoch geben die Zahlen auch Entwarnung. Die Zahl der 18- bis 24-Jährigen, die sich weder in Beschäftigung noch in Ausbildung befinden, ist gesunken. Sie war während der Covid-19-Pandemie auf nahezu 10 Prozent gestiegen und liegt nun bei 8,6 Prozent – und damit deutlich unter dem Durchschnitt der OECD (14,6 Prozent).
OECD: Berufsbildung in Deutschland ist “effektiv”
Das könnte auch an der im internationalen Vergleich mustergültigen Berufsbildung liegen. Diese loben die OECD-Autoren mehrfach. In Deutschland sammelten mehr als 80 Prozent der Auszubildenden mehrmonatige Arbeitserfahrung. In anderen Staaten liege dieser Wert bei unter 20 Prozent. Das duale System bezeichnen sie als effektiv. 89 Prozent der Berufsschüler lernen in diesem System und haben eine besonders hohe Erfolgsquote beim Übergang in den Beruf (94 Prozent). Nur Island verzeichnet in dieser Gruppe höhere Beschäftigungsquoten.
Das Berufsschulsystem gelangt in vielen OECD-Staaten an seine Grenzen. Eine hohe Arbeitsbelastung der Lehrer, eine schlechte Führung von berufsbildenden Bildungseinrichtungen und fehlende Aufstiegsmöglichkeiten wirkten sich auf die Arbeitszufriedenheit aus. Das führe wiederum zu einem höheren Lehrermangel in der Berufsbildung, mit dem viele Staaten kämpfen. Laut OECD schätzt Deutschland, dass die Zahl der Lehrkräfte an Berufsschulen in den kommenden zehn Jahren nur 80 Prozent des Bedarfs decken wird.
Deutsche Unlust an Fortbildung
Wer eine Ausbildung absolviert, der verdient hierzulande deutlich mehr als ein Ungelernter: Zwei Drittel mehr Lohn sind es laut Forschern bei den 25- bis 34-Jährigen. Damit liegt Deutschland deutlich über dem OECD-Durchschnitt (23 Prozent). Sehr viel geringer fällt der Gehaltsvorteil allerdings mit zunehmendem Alter aus: 45- bis 54-Jährige mit Berufsbildung profitieren in Deutschland nur noch von einem Fünftel mehr Lohn. Wer eine Berufsausbildung hat, kann sich auf ihr also nicht ausruhen.
Aus Sicht der Studienautoren unterstreicht der Unterschied zwischen den Altersgruppen, dass Arbeitnehmer sich kontinuierlich weiterqualifizieren sollten. Deutschland hinke im internationalen Vergleich hinterher: Unter den Berufstätigen mit Hochschulstudium lassen sich nach Ergebnis der Forschung nur sieben Prozent fortbilden, bei den beruflich Gebildeten sogar nur drei Prozent. Im OECD-Durchschnitt sind es je doppelt so viele. Gerechnet wurden Weiterqualifizierungen für den eigenen Job, die mindestens vier Wochen dauerten.
Insgesamt bewerten die Forscher die berufliche Bildung als sehr wichtig. Weltweit befindet sich fast die Hälfte aller Schüler der Sekundarstufe II in einem beruflichen Bildungsgang. Allerdings gilt eine Berufsausbildung noch zu oft nur als “letzter Ausweg” und als Ausweichmöglichkeit für Jugendliche mit Schul- und Motivationsproblemen, mahnt die OECD. Anna Parrisius/Niklas Prenzel
Entgegen OECD-Trend: Immer mehr Menschen in Deutschland erwerben nur niedrigen Bildungsabschluss
Liebe Leserin, lieber Leser,
in diesen Minuten stellt die OECD in Paris eine neue Studie vor, die mehr als 40 Bildungssysteme weltweit vergleicht. Im Fokus steht die berufliche Bildung – und, für Deutschland, ein erstaunlicher Trend. Denn entgegen fast aller anderen Staaten wächst in Deutschland die Zahl derjenigen, die nur noch einen Abschluss der Sekundarstufe I erlangen. Der Anteil der jungen Menschen mit Sekundarschulabschluss II geht also zurück. Dazu gehört auch der Berufsschulabschluss. “Ohne Sekundar-II-Abschluss haben Menschen in Deutschland kaum Berufs- und Lebenschancen”, erklärte uns dazu der Direktor for Education, Andreas Schleicher.
Wir haben die für Deutschland wichtigsten Ergebnisse für Sie zusammengetragen. Dem Musterland der Ausbildung wird der Spiegel vorgehalten – und der zeigt erste Krisensymptome. Denn die Abschlüsse in der beruflichen Bildung nehmen dramatisch ab. Gleichzeitig schrumpft die “Bildungsmittelschicht”, während die Gruppen der Bildungsverlierer und -gewinner wachsen.
Eine informative Lektüre wünscht,
Ihr Niklas Prenzel
Zahl der Bildungsverlierer in Deutschland steigt
Der Anteil junger Menschen ohne höheren Schulabschluss oder Berufsausbildung nimmt in Deutschland zu. Zwischen 2015 und 2022 stieg der Wert von 13 auf 16 Prozent. Damit gehört Deutschland zusammen mit Tschechien zu den Verlierern. In allen anderen OECD-Staaten sank der Anteil der 25- bis 34-Jährigen mit niedrigen Bildungsabschlüssen in diesen sieben Jahren im Durchschnitt von 18 auf 14 Prozent. Das geht aus der Studie “Education at a Glance” hervor, die heute veröffentlicht wird.
“Ohne Sekundar-II-Abschluss haben Menschen in Deutschland kaum Berufs- und Lebenschancen“, sagte Andreas Schleicher, OECD-Director for Education, Table.Media. Die Zunahme habe sicher auch mit der Zuwanderung zu tun. “Aber im Wesentlichen zeigt der Anstieg, dass Bildung in Deutschland sehr viel mehr tun muss, um soziale Defizite auszugleichen und Talente zu finden und zu fördern.”
Immer weniger Menschen absolvieren Berufsausbildung
Die jährlich erscheinende Studie analysiert die Bildungssysteme der 38 OECD-Staaten sowie weiterer Länder wie China, Brasilien oder Südafrika. Der aktuelle Bericht stellt die Berufsbildung international in den Fokus. Dabei verzeichnet Deutschland einen Rückgang bei denen, die eine Ausbildung erfolgreich abschließen. Verfügten 2015 noch 51 Prozent der jungen Menschen, die eine weiterführende Schule besucht hatten, über einen Berufsabschluss, sind es sieben Jahre später noch 38 Prozent. OECD-weit sucht man ein vergleichbar starkes Absacken vergeblich. Im OECD-Schnitt liegt der Trend bei einem Minus von zwei Prozent.
“Die abnehmenden Beteiligungsraten zeigen, dass das Berufsbildungssystem in Deutschland für junge Menschen attraktiver und durchlässiger werden muss”, sagte Schleicher. Denn das Berufsbildungssystem in Deutschland sei “hochwertig” und gebe jungen Menschen “die Chance, an Wirtschaftsentwicklung und -wachstum teilzuhaben.”
Um Lehrberufe attraktiver zu machen, müssten laut Bericht einige Länder Menschen mit Berufsabschluss den Zugang zum Studium für erleichtern. Zwar gibt es in den meisten Fällen Wege, allerdings nicht immer für alle Studiengänge. So auch in Deutschland, wo die Absolventen bisher auf praxisbezogene berufsorientierte Bachelor-Bildungsgänge beschränkt sind. Helfen könnten laut Bericht zudem mehr Online- und Teilzeitangebote.
Zahl der jungen Unbeschäftigten sinkt
Mit Blick auf Deutschland zeigen die OECD-Zahlen einen Trend auf, der gesellschaftliches Spaltpotenzial hat. Denn wenn immer weniger Menschen in Deutschland eine Berufsausbildung absolvieren, schrumpft auch die Bildungsmittelschicht. Dadurch polarisiere sich laut OECD das deutsche Bildungssystem: Immer mehr Menschen sind sehr gering – oder sehr hoch qualifiziert.
Jedoch geben die Zahlen auch Entwarnung. Die Zahl der 18- bis 24-Jährigen, die sich weder in Beschäftigung noch in Ausbildung befinden, ist gesunken. Sie war während der Covid-19-Pandemie auf nahezu 10 Prozent gestiegen und liegt nun bei 8,6 Prozent – und damit deutlich unter dem Durchschnitt der OECD (14,6 Prozent).
OECD: Berufsbildung in Deutschland ist “effektiv”
Das könnte auch an der im internationalen Vergleich mustergültigen Berufsbildung liegen. Diese loben die OECD-Autoren mehrfach. In Deutschland sammelten mehr als 80 Prozent der Auszubildenden mehrmonatige Arbeitserfahrung. In anderen Staaten liege dieser Wert bei unter 20 Prozent. Das duale System bezeichnen sie als effektiv. 89 Prozent der Berufsschüler lernen in diesem System und haben eine besonders hohe Erfolgsquote beim Übergang in den Beruf (94 Prozent). Nur Island verzeichnet in dieser Gruppe höhere Beschäftigungsquoten.
Das Berufsschulsystem gelangt in vielen OECD-Staaten an seine Grenzen. Eine hohe Arbeitsbelastung der Lehrer, eine schlechte Führung von berufsbildenden Bildungseinrichtungen und fehlende Aufstiegsmöglichkeiten wirkten sich auf die Arbeitszufriedenheit aus. Das führe wiederum zu einem höheren Lehrermangel in der Berufsbildung, mit dem viele Staaten kämpfen. Laut OECD schätzt Deutschland, dass die Zahl der Lehrkräfte an Berufsschulen in den kommenden zehn Jahren nur 80 Prozent des Bedarfs decken wird.
Deutsche Unlust an Fortbildung
Wer eine Ausbildung absolviert, der verdient hierzulande deutlich mehr als ein Ungelernter: Zwei Drittel mehr Lohn sind es laut Forschern bei den 25- bis 34-Jährigen. Damit liegt Deutschland deutlich über dem OECD-Durchschnitt (23 Prozent). Sehr viel geringer fällt der Gehaltsvorteil allerdings mit zunehmendem Alter aus: 45- bis 54-Jährige mit Berufsbildung profitieren in Deutschland nur noch von einem Fünftel mehr Lohn. Wer eine Berufsausbildung hat, kann sich auf ihr also nicht ausruhen.
Aus Sicht der Studienautoren unterstreicht der Unterschied zwischen den Altersgruppen, dass Arbeitnehmer sich kontinuierlich weiterqualifizieren sollten. Deutschland hinke im internationalen Vergleich hinterher: Unter den Berufstätigen mit Hochschulstudium lassen sich nach Ergebnis der Forschung nur sieben Prozent fortbilden, bei den beruflich Gebildeten sogar nur drei Prozent. Im OECD-Durchschnitt sind es je doppelt so viele. Gerechnet wurden Weiterqualifizierungen für den eigenen Job, die mindestens vier Wochen dauerten.
Insgesamt bewerten die Forscher die berufliche Bildung als sehr wichtig. Weltweit befindet sich fast die Hälfte aller Schüler der Sekundarstufe II in einem beruflichen Bildungsgang. Allerdings gilt eine Berufsausbildung noch zu oft nur als “letzter Ausweg” und als Ausweichmöglichkeit für Jugendliche mit Schul- und Motivationsproblemen, mahnt die OECD. Anna Parrisius/Niklas Prenzel