das Vokabular zur Beschreibung der monatelangen zähen Verhandlungen über das Startchancen-Programm ist längst abgenutzt – wie gut, dass Bund und Länder an diesem Donnerstagnachmittag nun endlich eine Einigung zu den “entscheidenden Eckpunkten” des Programms verkündet haben. Die Zeit drängte, denn die Länder haben immer betont, dass sie mindestens ein halbes Jahr für die Umsetzung brauchen. Doch zunächst wird es nur auf Sparflamme losgehen, denn von den geplanten 4.000 Schulen sollen zunächst nur 1.000 Schulen von der staatlichen Förderung profitieren. Holger Schleper hat sich das Programm genau angeschaut und wir haben Experten nach ihrer Einschätzung gefragt.
Wie wichtig es ist, dass das Programm endlich kommt und Schulen im Brennpunkt besser gefördert werden, macht auch die aktuelle Prognose zu den Schülerzahlen bis 2035 deutlich. 300.000 Schülerinnen und Schüler mehr werden erwartet. Neben einer gestiegenen Geburtenrate liegt das auch an der Zuwanderung. Die Heterogenität wird also weiter wachsen, und der Lehrkräftebedarf auch. Wir haben Bildungsforscher Klaus Klemm exklusiv für Bildung.Table berechnen lassen, wie viele Lehrkräfte zusätzlich gebraucht werden.
Eine erhellende Lektüre wünscht
Bund und Länder haben sich nach monatelangen, oft sehr kontroversen Verhandlungen auf gemeinsame Eckpunkte zum Startchancen-Programm geeinigt. 4.000 Brennpunktschulen sollen mit dem Programm über zehn Jahre gefördert werden. Der Bund gibt dafür jährlich eine Milliarde Euro, die Länder ebenfalls. Über die Details hatten sich beide Seiten immer wieder gestritten. Nun verkündeten die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch, Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe und Hessens Kultusminister Alexander Lorz die Ergebnisse.
Ein zentraler Punkt: Der Königsteiner Schlüssel, ausgerichtet an Steueraufkommen und Einwohnerzahl, kommt bei der Verteilung der Mittel auf die Länder nicht mehr zum Einsatz. “Das ist ein echter Paradigmenwechsel in der Förderlogik“, sagte Stark-Watzinger – weg von der Gießkanne, hin zu einer stärker bedarfsorientierten Verteilung der Gelder nach einem Sozialindex. Hier lohnt allerdings ein Blick in die ausgehandelten Details des Programms. Table.Media gibt einen Überblick der Ergebnisse.
Die Einigung bei den Startchancen-Verhandlungen nutzen die Länder auch, um an die ungeklärte Zukunft des Digitalpakts zu erinnern. Die Länder seien sich einig, “dass wir auch beim Digitalpakt 2.0 endlich einen Durchbruch brauchen”, mahnte Günther-Wünsch. Rabe bekräftigte das: Das Startchancen-Programm sei ein wichtiger Schritt. “Das macht Mut für eine gelingende Zusammenarbeit von Bund und Ländern.” Es dürfe aber keinesfalls dazu führen, dass der Bund im Gegenzug andere Programme im Schulbereich wie zum Beispiel den Digitalpakt kürzt.
Bei den Akteuren aus der Bildungslandschaft herrschte vor allem eines nach der Einigung zwischen Bund und Ländern über das Startchancen-Programm: Erleichterung. “Nach langen und zähen Verhandlungen reden wir jetzt nicht nur über Brennpunkt-Schulen, sondern wir helfen ihnen ab 2024.” Das sagte Markus Warnke, Geschäftsführer der Wübben-Stiftung für Bildung. Die Stiftung hat er erst kürzlich mit einer schockierenden Grafik auf das Problem von Schulen in prekärer Lage hingewiesen. (Siehe Grafik)
Das Programm besteht aus drei Elementen: einem für Ausbau und Ausstattung der Schulen; einem weitgehend frei zu verwendenden Budget für Schulleiter; und Zuschüssen für multiprofessionelles Personal, zum Beispiel Sozialarbeiter. (Siehe Holger Schleper über die Einigung.)
Gleichzeitig wurde in den Reihen der Zivilgesellschaft der Wunsch geäußert, dass damit noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. “Aus unserer Sicht kann das nur ein Anfang sein“, sagte die Vorsitzende der Gewerkschaft, Erziehung und Wissenschaft (GEW), Maike Finnern, zu Table.Media. “Es muss darum gehen, Schulen mit großen Herausforderungen bundesweit dauerhaft besser zu unterstützen bzw. zu finanzieren.” Aus der Sicht der GEW ist vor allem das Gesamtvolumen des Programms viel zu klein. Ursprünglich waren 2,5 Milliarden Euro allein vom Bund pro Jahr vorgesehen.
“Jetzt will der Bund – befristet auf zehn Jahre – eine Milliarde Euro geben”, bemängelte Finnern. Die Länder sollen zwar prinzipiell denselben Anteil beisteuern. Sie können aber durch verschiedene Formen der Anrechnung ihren Anteil an frischem Geld für benachteiligte Schulen kleinrechnen. “Eine vertrackte Situation”, nennt Finnern das. Susanne Posselt vom “Bildungsrat von unten” zeigte sich skeptisch über den Umfang des Programms. “Das ist doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein”, sagte die Lehrerin.
Und auch Markus Warnke wies darauf hin, dass der Gesamtumfang der Mittel mitnichten dem Umfang der Probleme gerecht werde. “In einem idealen Programm würden wir von zehn, zwölf, 14 Milliarden Euro reden – pro Jahr”, sagte Warnke zu Table.Media. Dagmar Wolf von der Robert Bosch Stiftung verwies auf den gigantischen Sanierungsstau bei den Schulgebäuden. “Hier bräuchte es weitere Mittel, laut einer Berechnung der KfW würden rund 46 Milliarden Euro benötigt, um Schulen baulich auf den erforderlichen Stand zu bringen.”
Für den Geschäftsführer der Wübben-Stiftung hingegen sind andere Aspekte wichtiger. Das Programm sei im Laufe der Verhandlungen besser geworden. Es sei zu begrüßen, dass nicht mehr 60 Prozent der Mittel in Baumaßnahmen fließe, sondern nur noch 40 Prozent. So erhielten die Schulleiter mehr Spielraum für eigene Prioritäten und zugleich mehr Mittel für multiprofessionelle Teams. “Das ist ein guter Tag, der Schulen in prekären Lagen hoffentlich helfen wird”, so Warnke. “Wir brauchen Aufmerksamkeit und das Bewusstsein, dass diese Schulen entwickelt werden müssen.”
Dirk Zorn von der Bertelsmann Stiftung hob heraus, dass allein die Diskussion in den vergangenen zwei Jahren über das Startchancen-Programm die Bildungsrepublik verändert hat. Es sei nun allen in Deutschland klar, “dass es Schulen gibt, die unter ganz besonders schwierigen Bedingungen arbeiten.” Das sei das wichtigste Signal. Man könne diese Schulen identifizieren – und ihnen auch gezielt helfen. “Diese Debatte kriegen wir nicht mehr weg”, sagte Zorn Table.Media. “Der Druck auf die Zuständigen wird eher größer werden.”
Das Augenmerk vieler Beobachter um den lange währenden Streit richtete sich gar nicht so sehr auf die einzelnen Programmsäulen Schulbau, Schulleiterbudgets und Zuschüsse für multiprofessionelles Personal. Vielmehr ging es um die Tatsache, dass Schulen entwickelt werden müssen. “Über die Schulentwicklung wurde in der Öffentlichkeit bislang gar nicht gesprochen“, sagte Warnke im Gespräch mit Table.Media. “Sie ist aber der eigentliche Erfolgsfaktor, denn etwas freies Geld, ein Lernlabor und ein Schulsozialarbeiter allein helfen diesen Schulen nicht bei den gewaltigen Herausforderungen.”
Auf dem Gebiet der Schulentwicklung werde sich zeigen, wie ernst die Länder die Bedarfe der Schulen nähmen. Er sei gespannt, sagte Warnke, ob die Schulminister eine dauerhafte Begleitung anbieten werden. “Schulen mit besonderen Herausforderungen brauchen eben besondere Unterstützung.” Auch seine Kollegin von der Bosch Stiftung hob diesen Punkt hervor. Eine bedarfsgerechte Verwendung des Chancenbudgets ermögliche den Schulen Gestaltungsmöglichkeiten, sagte Dagmar Wolf. “Dazu benötigen die Schulen aber unbedingt eine individuelle Prozessbegleitung auf Basis ihres Entwicklungsstandes mit individuell verbindlichen Entwicklungszielen.”
Viele der Beobachter wunderten sich über den Ton des inzwischen elf Seiten langen Verhandlungspapiers. Es stehe eine “unglaublich tolle Lyrik” drin, so eine Bemerkung. Man müsse mit einer gehörigen Portion Skepsis herangehen und genau beobachten, wie die weiteren Verhandlungen verlaufen. Tatsächlich sagte der Vertreter der B-Länder, Schulminister Alexander Lorz (CDU) aus Hessen: Dieses Papier sei noch kein Beschluss, “das muss jetzt alles noch klein gearbeitet werden.”
Dirk Zorn, Direktor für bei der Bertelsmann-Stiftung, schließlich sagte, nach den Verhandlungen ist vor den Verhandlungen. Er wies darauf hin, dass Milliarden von Euro in die Digitalisierung von Schulen geflossen sein. Aber bislang sei immer noch nicht geklärt, ob es für das Programm zur Digitalisierung der Schulen einen Nachfolger gebe. “Jetzt richtet sich der Blick auf Digitalpakt!”
Am Mittwoch hat die Kultusministerkonferenz vermeldet, dass die Schülerzahl in Deutschland bis zum Jahr 2035 um 300.000 Schülerinnen und Schüler zusätzlich steigen wird. Die KMK erklärt das Plus von 300.000 Lernenden vor allem mit einem Geburtenanstieg und mit Zuwanderung. Das bedeutet auch, dass deutlich mehr Lehrkräfte an den Schulen fehlen, als bislang gedacht.
Exklusiv für Table.Media hat der Bildungsforscher Klaus Klemm errechnet, wie hoch dieser Mehrbedarf an Lehrkräften ausfallen wird. Er geht von noch mal 21.752 Lehrerinnen und Lehrer mehr aus, die fehlen werden. “Der nicht gedeckte Einstellungsbedarf, den die KMK zuletzt mit 23.840 gesehen hat, liegt jetzt bei 45.592 Lehrpersonen”, sagte Klemm zum Lehrermangel. Der Professor im Ruhestand stellt immer wieder mit eigenen Berechnungen die Prognose der KMK infrage. Nach Auskunft des Wissenschaftlers ist die Lücke besonders groß an weiterführenden Schulen in der Sekundarstufe I sowie an Grundschulen.
Insgesamt ist die Personallücke aber aus Sicht von Klemm noch viel größer. Denn im Gegensatz zu den 23.840 fehlenden Lehrerstellen, welche die KMK bis 2035 schätzte, war Klemm schon vor der neuen Schüler-Prognose von 127.120 fehlenden Lehrkräften ausgegangen. Durch die 300.000 Schüler zusätzlich hat er die Zahl nun auf insgesamt 148.872 Lehrerstellen angehoben. Die Differenz beim Lehrermangel zwischen den Berechnungen von KMK und Klemm erklärt sich daraus, dass Klemm von einem deutlich niedrigeren Angebot an zur Verfügung stehenden Lehrkräften ausgeht.
Aus der neuen KMK-Prognose geht auch hervor, dass nicht nur die Schülerzahlen steigen, sondern auch die Zahl der Absolventen. An allgemeinbildenden Schulen geht die KMK bis 2035 von einem Anstieg von 17,6 Prozent auf 902.000 Abgänger mit Schulabschluss aus. An beruflichen Schulen erwartet man einen Anstieg von 7,3 Prozent auf dann 978.000 Absolventen. Das ist angesichts des Fachkräftemangels ein positives Zeichen. Allerdings erhöht sich nach den Prognosen auch die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss: Laut Prognose wird sie 2035 bei 56.000 liegen, das wären 5.300 und damit zehn Prozent mehr als 2022. aku/dpa
das Vokabular zur Beschreibung der monatelangen zähen Verhandlungen über das Startchancen-Programm ist längst abgenutzt – wie gut, dass Bund und Länder an diesem Donnerstagnachmittag nun endlich eine Einigung zu den “entscheidenden Eckpunkten” des Programms verkündet haben. Die Zeit drängte, denn die Länder haben immer betont, dass sie mindestens ein halbes Jahr für die Umsetzung brauchen. Doch zunächst wird es nur auf Sparflamme losgehen, denn von den geplanten 4.000 Schulen sollen zunächst nur 1.000 Schulen von der staatlichen Förderung profitieren. Holger Schleper hat sich das Programm genau angeschaut und wir haben Experten nach ihrer Einschätzung gefragt.
Wie wichtig es ist, dass das Programm endlich kommt und Schulen im Brennpunkt besser gefördert werden, macht auch die aktuelle Prognose zu den Schülerzahlen bis 2035 deutlich. 300.000 Schülerinnen und Schüler mehr werden erwartet. Neben einer gestiegenen Geburtenrate liegt das auch an der Zuwanderung. Die Heterogenität wird also weiter wachsen, und der Lehrkräftebedarf auch. Wir haben Bildungsforscher Klaus Klemm exklusiv für Bildung.Table berechnen lassen, wie viele Lehrkräfte zusätzlich gebraucht werden.
Eine erhellende Lektüre wünscht
Bund und Länder haben sich nach monatelangen, oft sehr kontroversen Verhandlungen auf gemeinsame Eckpunkte zum Startchancen-Programm geeinigt. 4.000 Brennpunktschulen sollen mit dem Programm über zehn Jahre gefördert werden. Der Bund gibt dafür jährlich eine Milliarde Euro, die Länder ebenfalls. Über die Details hatten sich beide Seiten immer wieder gestritten. Nun verkündeten die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch, Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe und Hessens Kultusminister Alexander Lorz die Ergebnisse.
Ein zentraler Punkt: Der Königsteiner Schlüssel, ausgerichtet an Steueraufkommen und Einwohnerzahl, kommt bei der Verteilung der Mittel auf die Länder nicht mehr zum Einsatz. “Das ist ein echter Paradigmenwechsel in der Förderlogik“, sagte Stark-Watzinger – weg von der Gießkanne, hin zu einer stärker bedarfsorientierten Verteilung der Gelder nach einem Sozialindex. Hier lohnt allerdings ein Blick in die ausgehandelten Details des Programms. Table.Media gibt einen Überblick der Ergebnisse.
Die Einigung bei den Startchancen-Verhandlungen nutzen die Länder auch, um an die ungeklärte Zukunft des Digitalpakts zu erinnern. Die Länder seien sich einig, “dass wir auch beim Digitalpakt 2.0 endlich einen Durchbruch brauchen”, mahnte Günther-Wünsch. Rabe bekräftigte das: Das Startchancen-Programm sei ein wichtiger Schritt. “Das macht Mut für eine gelingende Zusammenarbeit von Bund und Ländern.” Es dürfe aber keinesfalls dazu führen, dass der Bund im Gegenzug andere Programme im Schulbereich wie zum Beispiel den Digitalpakt kürzt.
Bei den Akteuren aus der Bildungslandschaft herrschte vor allem eines nach der Einigung zwischen Bund und Ländern über das Startchancen-Programm: Erleichterung. “Nach langen und zähen Verhandlungen reden wir jetzt nicht nur über Brennpunkt-Schulen, sondern wir helfen ihnen ab 2024.” Das sagte Markus Warnke, Geschäftsführer der Wübben-Stiftung für Bildung. Die Stiftung hat er erst kürzlich mit einer schockierenden Grafik auf das Problem von Schulen in prekärer Lage hingewiesen. (Siehe Grafik)
Das Programm besteht aus drei Elementen: einem für Ausbau und Ausstattung der Schulen; einem weitgehend frei zu verwendenden Budget für Schulleiter; und Zuschüssen für multiprofessionelles Personal, zum Beispiel Sozialarbeiter. (Siehe Holger Schleper über die Einigung.)
Gleichzeitig wurde in den Reihen der Zivilgesellschaft der Wunsch geäußert, dass damit noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. “Aus unserer Sicht kann das nur ein Anfang sein“, sagte die Vorsitzende der Gewerkschaft, Erziehung und Wissenschaft (GEW), Maike Finnern, zu Table.Media. “Es muss darum gehen, Schulen mit großen Herausforderungen bundesweit dauerhaft besser zu unterstützen bzw. zu finanzieren.” Aus der Sicht der GEW ist vor allem das Gesamtvolumen des Programms viel zu klein. Ursprünglich waren 2,5 Milliarden Euro allein vom Bund pro Jahr vorgesehen.
“Jetzt will der Bund – befristet auf zehn Jahre – eine Milliarde Euro geben”, bemängelte Finnern. Die Länder sollen zwar prinzipiell denselben Anteil beisteuern. Sie können aber durch verschiedene Formen der Anrechnung ihren Anteil an frischem Geld für benachteiligte Schulen kleinrechnen. “Eine vertrackte Situation”, nennt Finnern das. Susanne Posselt vom “Bildungsrat von unten” zeigte sich skeptisch über den Umfang des Programms. “Das ist doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein”, sagte die Lehrerin.
Und auch Markus Warnke wies darauf hin, dass der Gesamtumfang der Mittel mitnichten dem Umfang der Probleme gerecht werde. “In einem idealen Programm würden wir von zehn, zwölf, 14 Milliarden Euro reden – pro Jahr”, sagte Warnke zu Table.Media. Dagmar Wolf von der Robert Bosch Stiftung verwies auf den gigantischen Sanierungsstau bei den Schulgebäuden. “Hier bräuchte es weitere Mittel, laut einer Berechnung der KfW würden rund 46 Milliarden Euro benötigt, um Schulen baulich auf den erforderlichen Stand zu bringen.”
Für den Geschäftsführer der Wübben-Stiftung hingegen sind andere Aspekte wichtiger. Das Programm sei im Laufe der Verhandlungen besser geworden. Es sei zu begrüßen, dass nicht mehr 60 Prozent der Mittel in Baumaßnahmen fließe, sondern nur noch 40 Prozent. So erhielten die Schulleiter mehr Spielraum für eigene Prioritäten und zugleich mehr Mittel für multiprofessionelle Teams. “Das ist ein guter Tag, der Schulen in prekären Lagen hoffentlich helfen wird”, so Warnke. “Wir brauchen Aufmerksamkeit und das Bewusstsein, dass diese Schulen entwickelt werden müssen.”
Dirk Zorn von der Bertelsmann Stiftung hob heraus, dass allein die Diskussion in den vergangenen zwei Jahren über das Startchancen-Programm die Bildungsrepublik verändert hat. Es sei nun allen in Deutschland klar, “dass es Schulen gibt, die unter ganz besonders schwierigen Bedingungen arbeiten.” Das sei das wichtigste Signal. Man könne diese Schulen identifizieren – und ihnen auch gezielt helfen. “Diese Debatte kriegen wir nicht mehr weg”, sagte Zorn Table.Media. “Der Druck auf die Zuständigen wird eher größer werden.”
Das Augenmerk vieler Beobachter um den lange währenden Streit richtete sich gar nicht so sehr auf die einzelnen Programmsäulen Schulbau, Schulleiterbudgets und Zuschüsse für multiprofessionelles Personal. Vielmehr ging es um die Tatsache, dass Schulen entwickelt werden müssen. “Über die Schulentwicklung wurde in der Öffentlichkeit bislang gar nicht gesprochen“, sagte Warnke im Gespräch mit Table.Media. “Sie ist aber der eigentliche Erfolgsfaktor, denn etwas freies Geld, ein Lernlabor und ein Schulsozialarbeiter allein helfen diesen Schulen nicht bei den gewaltigen Herausforderungen.”
Auf dem Gebiet der Schulentwicklung werde sich zeigen, wie ernst die Länder die Bedarfe der Schulen nähmen. Er sei gespannt, sagte Warnke, ob die Schulminister eine dauerhafte Begleitung anbieten werden. “Schulen mit besonderen Herausforderungen brauchen eben besondere Unterstützung.” Auch seine Kollegin von der Bosch Stiftung hob diesen Punkt hervor. Eine bedarfsgerechte Verwendung des Chancenbudgets ermögliche den Schulen Gestaltungsmöglichkeiten, sagte Dagmar Wolf. “Dazu benötigen die Schulen aber unbedingt eine individuelle Prozessbegleitung auf Basis ihres Entwicklungsstandes mit individuell verbindlichen Entwicklungszielen.”
Viele der Beobachter wunderten sich über den Ton des inzwischen elf Seiten langen Verhandlungspapiers. Es stehe eine “unglaublich tolle Lyrik” drin, so eine Bemerkung. Man müsse mit einer gehörigen Portion Skepsis herangehen und genau beobachten, wie die weiteren Verhandlungen verlaufen. Tatsächlich sagte der Vertreter der B-Länder, Schulminister Alexander Lorz (CDU) aus Hessen: Dieses Papier sei noch kein Beschluss, “das muss jetzt alles noch klein gearbeitet werden.”
Dirk Zorn, Direktor für bei der Bertelsmann-Stiftung, schließlich sagte, nach den Verhandlungen ist vor den Verhandlungen. Er wies darauf hin, dass Milliarden von Euro in die Digitalisierung von Schulen geflossen sein. Aber bislang sei immer noch nicht geklärt, ob es für das Programm zur Digitalisierung der Schulen einen Nachfolger gebe. “Jetzt richtet sich der Blick auf Digitalpakt!”
Am Mittwoch hat die Kultusministerkonferenz vermeldet, dass die Schülerzahl in Deutschland bis zum Jahr 2035 um 300.000 Schülerinnen und Schüler zusätzlich steigen wird. Die KMK erklärt das Plus von 300.000 Lernenden vor allem mit einem Geburtenanstieg und mit Zuwanderung. Das bedeutet auch, dass deutlich mehr Lehrkräfte an den Schulen fehlen, als bislang gedacht.
Exklusiv für Table.Media hat der Bildungsforscher Klaus Klemm errechnet, wie hoch dieser Mehrbedarf an Lehrkräften ausfallen wird. Er geht von noch mal 21.752 Lehrerinnen und Lehrer mehr aus, die fehlen werden. “Der nicht gedeckte Einstellungsbedarf, den die KMK zuletzt mit 23.840 gesehen hat, liegt jetzt bei 45.592 Lehrpersonen”, sagte Klemm zum Lehrermangel. Der Professor im Ruhestand stellt immer wieder mit eigenen Berechnungen die Prognose der KMK infrage. Nach Auskunft des Wissenschaftlers ist die Lücke besonders groß an weiterführenden Schulen in der Sekundarstufe I sowie an Grundschulen.
Insgesamt ist die Personallücke aber aus Sicht von Klemm noch viel größer. Denn im Gegensatz zu den 23.840 fehlenden Lehrerstellen, welche die KMK bis 2035 schätzte, war Klemm schon vor der neuen Schüler-Prognose von 127.120 fehlenden Lehrkräften ausgegangen. Durch die 300.000 Schüler zusätzlich hat er die Zahl nun auf insgesamt 148.872 Lehrerstellen angehoben. Die Differenz beim Lehrermangel zwischen den Berechnungen von KMK und Klemm erklärt sich daraus, dass Klemm von einem deutlich niedrigeren Angebot an zur Verfügung stehenden Lehrkräften ausgeht.
Aus der neuen KMK-Prognose geht auch hervor, dass nicht nur die Schülerzahlen steigen, sondern auch die Zahl der Absolventen. An allgemeinbildenden Schulen geht die KMK bis 2035 von einem Anstieg von 17,6 Prozent auf 902.000 Abgänger mit Schulabschluss aus. An beruflichen Schulen erwartet man einen Anstieg von 7,3 Prozent auf dann 978.000 Absolventen. Das ist angesichts des Fachkräftemangels ein positives Zeichen. Allerdings erhöht sich nach den Prognosen auch die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss: Laut Prognose wird sie 2035 bei 56.000 liegen, das wären 5.300 und damit zehn Prozent mehr als 2022. aku/dpa