vor 79 Jahren haben sowjetische Soldaten die Menschen im Konzentrationslager Auschwitz befreit. Mehr als eine Million vor allem jüdische Menschen wurden allein in dem größten Vernichtungslager getötet. Es sind grauenvolle Bilder, die damals um die Welt gingen und die niemand vergessen kann – und vergessen sollte. Wie wichtig das ist, haben wir in den vergangenen Wochen gesehen: Die Zahlen antisemitischer Vorfälle steigen, und wieder werden Deportationsideen in Deutschland entwickelt.
Der “Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus” ist wichtig. Insbesondere auch deshalb, weil die Zahl der Holocaust-Überlebenden von Jahr zu Jahr kleiner wird. Weltweit gibt es nach Angaben der Claims Conference noch 245.000 jüdische Holocaust-Überlebende. In Deutschland sind es 14.200. Die meisten sind 86 Jahre und älter. Die wenigsten von ihnen sind noch in der Lage, an Schulen zu gehen und mit Schülern über das Unfassbare, das sie erlebt haben, zu sprechen.
Schulen müssen zeitgemäße Wege der Erinnerungskultur entwickeln. Sie sollten dabei auch Social-Media-Kanäle nutzen, sagt der israelisch-deutsche Pädagoge und Historiker Meron Mendel im Interview mit Table.Media. Er erklärt darin auch, wie er über verpflichtende Besuche von KZ-Gedenkstätten denkt und wie junge Menschen demokratiefest werden können.
Die gute Nachricht ist: Es gibt Beispiele guter Erinnerungskultur. Der Obermayer Award zeichnet entsprechende Projekte und die Personen dahinter aus. Die Preisträger werden am Montag bekannt gegeben. Meine Kollegin Anna Parrisius weiß schon, wer die Auszeichnung bekommt, und stellt ein besonders interessantes Projekt vor.
Außerdem können Sie in dieser Sonderausgabe zum Holocaust-Gedenktag auch einen interessanten Gastbeitrag von Kota Kusakabe lesen. Der Bildungsjournalist aus Japan war im Herbst drei Monate zu Gast in unserer Redaktion und hat in dieser Zeit viele Schulen besucht. Ihn beschäftigt, wie Schulen in Deutschland im Vergleich zu Japan mit der faschistischen Vergangenheit ihres Landes umgehen.
Ich wünsche Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre und ein schönes Wochenende!
Herr Mendel, wie schauen Sie in diesem Jahr auf den Holocaust-Gedenktag?
Meron Mendel: Es ist nicht nur die Geschichte, die mich in diesem Jahr beschäftigt, sondern auch die aktuelle politische Situation. Das von Correctiv aufgedeckte Geheimtreffen von ranghohen AfD-Funktionären, Rechtsextremisten und Wirtschaftsleuten im November vergangenen Jahres, bei dem die Ausweisung von Millionen Menschen geplant wurde, zeigt Parallelen zur Zeit vor 1933, die mich sehr beunruhigen. Wir haben schon einmal gesehen, wie eine demokratisch gewählte Regierung die Demokratie abschafft. Daraus sollten wir lernen.
Beobachten Sie vor diesem Hintergrund bei Schülern eine größere Aufmerksamkeit, sich mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust zu befassen?
Es ist nicht immer leicht, das Interesse von Schülerinnen und Schülern für das Thema zu gewinnen, weil so viele Themen miteinander konkurrieren. Ich erlebe zwar heute eine Generation von Jugendlichen, die im Vergleich zu den Generationen davor stark politisiert ist. Aber im Vordergrund stehen Themen wie die Klimakatastrophe und aktuell der Krieg zwischen Israel und Gaza. Doch angesichts der aktuellen politischen Situation in Deutschland ist es sehr wichtig, Brücken zu bauen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Wie gelingt das?
Gerade heute müssen wir in den Schulen darüber sprechen, wie es zum Holocaust kam und wie Demokratien in kürzester Zeit zu Unrechtsregimen werden können. Aber das ist nicht nur die Aufgabe des Geschichtslehrers. Alle Lehrkräfte und Bildungseinrichtungen sind hier gefragt und müssen darüber aufklären, wie Vorurteile entstehen, was Flucht und Vertreibung bedeuten und warum antidemokratische Kräfte aktuell unsere Gesellschaft bedrohen.
Wie gut das in der Schule gelingt, hängt natürlich immer auch von der Motivation der einzelnen Lehrkraft ab. Es gibt viele, die immer wieder neue Zugänge schaffen, mit neuen Materialien arbeiten, die Verknüpfung zu aktuellen Ereignissen aufzeigen.
Zeitzeugen gibt es kaum noch. Wie lassen sich heute Zugänge schaffen?
Ich würde das Thema Zeitzeugen nicht überschätzen. Zeitzeugen waren tatsächlich nur kurze Zeit an Schulen. Es hat nach dem Zweiten Weltkrieg 40, 50 Jahre gedauert, bis man ihnen überhaupt zuhören wollte. Und in den Familien wurde auch nur wenig darüber gesprochen. Man konnte nicht einfach am Küchentisch den Opa fragen, was mit den Juden geschehen ist und was er damit zu tun hatte.
Können Videos, Hologramme oder das Projekt Zweitzeugen die Begegnung mit Zeitzeugen ersetzen?
All das sind Hilfsmittel, aber sie können Zeitzeugengespräche, also Begegnung mit Menschen, die den Holocaust selbst erlebt haben, nicht ersetzen. Manche Formate suggerieren etwas, was sie nicht leisten können. Das Projekt Zweitzeugen versucht eine unmittelbare Erfahrung durch eine mittelbare zu ersetzen. Das funktioniert nicht. Hologramme sind ziemlich beeindruckend, aber doch technischer Schnickschnack mit wenig Mehrwert zum Beispiel gegenüber einem Video. Auch ein dreidimensionales Bild macht eine Person nicht realer als ein zweidimensionales Bild.
Was also tun?
Junge Menschen erreicht man vor allem über soziale Medien: TikTok, Instagram, YouTube. Daher muss man diese Kanäle auch für die Vermittlung von Erinnerungskultur nutzen. Es gibt da auch schon viele Beispiele, zum Beispiel die eva.stories auf Instagram. Als Historiker kann man an diesen Storys viel kritisieren, aber es spricht Jugendliche an, es bleibt etwas hängen, und es öffnet sich eine Tür. Das ist wichtig.
Es gibt auch Projekte, bei denen Jugendliche sich selbst engagieren. Welche Wirkung hat das?
Auch hier gibt es Unterschiede. Ich würde Lehrkräften nicht empfehlen, mit ihrer Schulklasse Stolpersteine zu putzen. Das ist sehr einfallslos, und es bleibt nicht viel hängen. Da gibt es interessantere Projekte, bei denen sich Schüler zum Beispiel auf Spurensuche in ihrem Umfeld begeben oder wo sie dazu beitragen, Dokumente aus der NS-Zeit zugänglich zu machen.
Sollten Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Schulzeit verpflichtend eine KZ-Gedenkstätte besuchen?
Einen KZ-Besuch finde ich sinnvoll. Ich finde es prinzipiell gut, wenn alle Jugendlichen im Rahmen der Schule die Möglichkeit bekämen, eine Gedenkstätte zu besuchen. Allerdings muss Schülern auch die Möglichkeit eingeräumt werden, an diesem Besuch nicht teilzunehmen. Es gibt Jugendliche, die das überfordert. Es muss legitim sein, wenn jemand nicht dabei sein will. Laut dem Beutelsbacher Konsens besteht für die politische Bildung ein Überwältigungsverbot. Deswegen müssen wir darauf achten, Jugendliche mit solchen Maßnahmen nicht zu überwältigen. Dazu gehört auch, dass der Besuch gut vorbereitet und begleitet werden muss. Wenn man Schulklassen unvorbereitet in eine KZ-Gedenkstätte schickt, bringt das nichts. Der KZ-Besuch allein wirkt nicht wie ein Medikament. Es muss Raum für Diskussionen und Einordnung geben.
Was meinen Sie konkret?
In den sozialen Medien werden jetzt ständig Vergleiche zwischen dem Holocaust und dem Krieg in Israel und Gaza gezogen. Es gibt wahrscheinlich keinen Teenager, der nicht mit diesen Vergleichen konfrontiert ist, der nicht auf TikTok, Instagram oder YouTube entsprechende Videos gesehen hat. Ich halte es für wichtig, deutlich zu machen, welche Bezüge es zur Gegenwart gibt, aber auch, welche Vergleiche nicht zulässig sind.
Manche Lehrkräfte versuchen, solche Diskussionen zu vermeiden. Sie haben Sorge, dass Diskussionen zu emotional werden. Woran liegt das?
Viele Lehrkräfte sind überfordert mit der Situation, weil ihnen das Hintergrundwissen zu dem Krieg fehlt, oder weil sie oft auch nicht methodisch in der Lage sind, so eine Debatte zu führen.
Lernen sie das nicht im Studium?
Die Geschichte des Nahost-Konflikts ist höchstens punktuell ein Thema im Studium, und es gibt nur wenig Fortbildungen. Hier muss mehr passieren. Seit dem 7. Oktober kommt das deutsche Schulsystem um diese Aufgabe nicht herum. Und Lehrkräfte brauchen mehr Unterstützungsangebote. Unsere Bildungsstätte hat nach Beginn des Kriegs auch mehrere Online-Workshops und einen Fachtag angeboten. Die waren alle innerhalb weniger Stunden komplett ausgebucht.
Ist es für Lehrkräfte in Deutschland besonders schwierig, über den Krieg zu diskutieren und kritische Meinungen zuzulassen, weil die Sicherheit Israels in Deutschland Staatsräson ist?
Das wird oft gesagt, aber ich erlebe das nicht so. In den Schulen wird durchaus kritisch über Israel diskutiert. Niemand erwartet, dass man hinter der Politik Netanjahus steht und alles begrüßt, was Israel macht. Problematisch wird es erst, wenn man sagt: Israel ist eine Kolonialmacht und alle Juden müssen aus der Region verschwinden.
Auf Ihrer Website steht folgendes Zitat: “In einer offenen Gesellschaft sollten sich Menschen nicht rassistisch oder antisemitisch äußern. Nicht, weil sie Angst vor negativen Folgen haben, sondern weil sie ehrlich davon überzeugt sind, dass es falsch ist.” Bekommen Schüler diese Haltung in den Schulen heute ausreichend vermittelt?
Ich denke, sie bröckelt – nicht nur in den Schulen, sondern überhaupt in der Gesellschaft. Das spiegelt sich auch darin wider, dass in einigen Regionen Deutschlands die Partei am stärksten ist, die eine klar rassistische und antisemitische Haltung hat.
Wie ist es insgesamt um die Demokratiebildung an den Schulen bestellt?
Es gibt viele Lehrmaterialien dazu, wie Demokratie funktioniert. Sicher könnte man das moderner gestalten, aber das ist für mich nicht das Hauptproblem. Kritisch mit Blick auf die Demokratiebildung sehe ich aber unser Bildungssystem und die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft. Wenn Jugendliche merken, dass sie keine Aufstiegschancen haben, dann führt das zu Frust, Verzweiflung, Wut.
Was muss sich ändern?
Wir brauchen eine grundlegende Bildungsreform. Die Struktur der Schule bereitet junge Menschen nicht auf die Teilhabe in einer modernen Demokratie vor. Wir dürfen Kinder nicht schon nach der vierten Klasse auf unterschiedliche Schulformen aufteilen und ihnen damit Chancen nehmen. Und wir müssen den Unterricht grundlegend modernisieren. Wie vor 100 Jahren gehen Schüler morgens in die Schule und lassen sich von den Lehrern den ganzen Tag etwas erklären. Und da macht es auch keinen großen Unterschied, ob sie dabei digitale Geräte nutzen. So können sich keine kritischen, neugierigen und engagierten Menschen entwickeln, die Verantwortung übernehmen können.
Der israelisch-deutsche Historiker und Pädagoge Meron Mendel leitet seit 2010 die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, die in Deutschland eine der führenden Organisationen in der Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus ist. Sein Buch “Über Israel reden” erschien im vergangenen Jahr und war für den Deutschen Sachbuchpreis 2023 nominiert.
Häufig hat Christoph Mauny es bei seiner Arbeit an weiterführenden Schulen mitbekommen: Einen KZ-Gedenkstättenbesuch zu organisieren, ist für viele Lehrer nicht einfach. Anträge für einen Besuch seien oft schon ein Jahr vorher nötig, die Gedenkstätten hoffnungslos ausgebucht. “Wenn selbst eine Thüringer Schule es nicht schafft, das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald zu besuchen, haben wir ein Problem”, sagt der Bildungsreferent der Weimarer Mal- und Zeichenschule.
Dabei gibt es oft direkt vor der Haustür Orte, die zeigen können, dass die NS-Verbrechen keine abstrakten, weit entfernten Ereignisse waren. Neben 24 Stammlagern, darunter Auschwitz, Buchenwald und Dachau, umfasste das System der Konzentrationslager rund 1.000 kleinere Außenlager. Allein Buchenwald zählte 140, die Orte dieser ehemaligen Lager erstrecken sich bis ins Ruhrgebiet und über acht Bundesländer. Viele sind in Thüringen. Der promovierte Philosoph Mauny arbeitet mit Schülern ab der achten Klasse besonders zu einem Außenlager: Ohrdruf.
Rund 20.000 Männer und Jungen aus ganz Europa wurden dort zu schwerster Arbeit gezwungen. In den USA ist Ohrdruf ein wichtiger Teil des Gedenkens an die NS-Verbrechen. Im April 1945 stießen US-Soldaten dort auf Leichenberge und abgemagerte Überlebende. Der spätere US-Präsident Eisenhower war vor Ort, US-Medien berichteten. Es war das erste Lager, das die Westalliierten befreiten.
In Deutschland ist die Geschichte des Lagers hingegen kaum bekannt. Es gibt ein öffentliches Mahnmal, aber keine Gedenkstätte. Den Großteil des Areals nutzt die Bundeswehr heute als Truppenübungsplatz.
“Deutsche Erinnerungslücke KZ Ohrdruf” heißt daher das Projekt, das Mauny im Mai 2022 initiiert hat, damals noch als Referent der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha. Mit den Materialien können Lehrer bereits eine Doppelstunde Unterricht gestalten. Mauny bietet Workshops von bis zu fünf Tagen an, für Schüler ab der achten Klasse. Dass diese Arbeit auch angesichts des erstarkenden Rechtsextremismus in Thüringen nottut, verdeutlicht ein Fakt zur Kleinstadt Ohrdruf: Seit zwei Jahren hat in dem 9.500-Einwohner-Ort die rechtsextreme Partei “Der III. Weg” ein Parteibüro.
Mit Jugendlichen geht Mauny auf das Gelände des ehemaligen Außenlagers – um sich mit ihnen den Ort, der heute kaum mehr an das Geschehene erinnert, sinnlich zu erschließen. Er organisiert Gespräche mit sogenannten “Zweitzeugen”, etwa dem niederländischen Autor Bart FM Droog, dessen Onkel Nicolaas im Außenlager mutmaßlich ums Leben kam. In ein Gymnasium hat er einmal eine Band eingeladen, die in der Pause auf dem Schulhof ein Lied von zwei bekannten jüdischen Musikern spielte, dem Jazz-Duo Johnny & Jones aus Amsterdam. Beide waren in Ohrdruf inhaftiert, kamen später im Konzentrationslager Bergen-Belsen ums Leben. “Das war sehr bewegend”, sagt Mauny.
Jede Klasse soll sich einzelnen Biografien widmen. Möglich ist das über rund 300 Namenslisten von Insassen in Ohrdruf, die von den Nationalsozialisten überliefert sind. Die Arolsen Archives, das weltweit größte Archiv zu den Opfern und Überlebenden des NS, hat sie digitalisiert. Damit die von Hand oder mit Maschine notierten Namen künftig gefunden werden können, müssen sie noch erkannt und transkribiert werden. #EveryNameCounts heißt daher ein Tool des Archivs, in dem Nutzer weltweit Daten zu den Opfern und Überlebenden des Holocausts in solchen Quellen erkennen können und das sich dezidiert an Schüler richtet. Ziel ist es, dass eines Tages biografische Angaben jedes Holocaust-Opfers und -Überlebenden online zu finden sind.
“In Zweiergruppen sehen Schüler sich Ausschnitte der Listen online an, geben die Namen ein und, wenn vermerkt, weitere Daten”, sagt Mauny. “Das geht schon in 30 bis 45 Minuten.” Am Ende spuckt der Algorithmus eine Kurzbiografie aus. “Ich bitte die Schüler, die Namen laut auszusprechen oder sie aufzuschreiben.” Viele Schüler berühre das, besonders, wenn sie Vornamen oder Geburtstag mit der Person teilen.
Die Schüler fragt Mauny, wie sie selbst in der Erinnerung an die Geschichte des Außenlagers aktiv werden wollen. “In einem der ersten Workshops haben die Teilnehmer entschieden, einen Verein zu gründen, der regelmäßig Blumen am Mahnmal hinlegt”, erzählt er.
In den Workshops schaffen die Schüler zudem immer ein Produkt – auch, um sich mit dem Erfahrenen, den “Horrorinformationen”, wie Mauny sagt, “mit Kopf, Hand und Herz” auseinanderzusetzen. “Das Schöne ist, dass dadurch ganz andere Stärken gefragt sind als sonst im Geschichtsunterricht.” Zum Beispiel haben Schüler kleine Tonplastiken geformt und in sie Namen von Lagerinsassen eingraviert. “So ist etwa eine Axt entstanden, um die Zwangsarbeit zu symbolisieren.” In die Tonmasse drückten sie noch Mohnsamen. Am Ort des ehemaligen Lagers ausgelegt, blühte es dort ein paar Wochen später.
Mehrere Videos zwischen Dokumentation und Kunst sind entstanden – verbunden mit Einführungen zu Kameraführung und Schnitt. “Ein Filmworkshop zum Holocaust lockt mehr Jugendliche als ein rein inhaltlicher Kurs”, sagt Mauny, der die Kurse auch in den Ferien anbietet.
Schüler schätzten die Verbindung aus historischer Bildung und künstlerischen Projekten. “Gleichzeitig bekomme ich mit, dass die Schulen durch Fachkräftemangel und Bürokratie überfordert sind und dass selbst engagierte Lehrer vor zusätzlichen Projekten zurückschrecken.” Eine Lösung sieht Mauny im “Lernen durch Engagement”, auch Service-Learning genannt. Die Idee: Schüler engagieren sich, angebunden an ein oder mehrere Fächer, in Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort gemeinnützig. Erste Schulen setzen das in Thüringen bereits um. “Für mich ist ein Hoffnungsanker, dass das durch das Bildungsministerium und die ,Stiftung Lernen durch Engagement’ ausgeweitet wird”, sagt Mauny.
Bundesweit könnten Schüler sich mit ehemaligen Außenlagern in ihrer Nähe und der Erinnerungskultur beschäftigen. Unterstützung soll dafür ab Mai eine neue digitale Lernplattform zum Außenlagersystem liefern namens “Suspekt: Landschaft der Verbrechen”. Im Ohrdruf-Projekt wird sie federführend durch die Arolsen Archives erarbeitet. Mauny ist sich sicher: Dass das Lager Ohrdruf so in Vergessenheit geraten ist, steht pars pro toto für andere Orte.
Von einer 17-jährigen Schülerin habe er neulich nach einem Workshop noch ein Gedicht erhalten, in dem sie das Erfahrene verarbeitete. Als wichtigste Botschaft nimmt Mauny mit: “Unsere Arbeit hat ihr Mut gegeben, dass jeder etwas bewirken kann.”
Christoph Mauny wird am Montag, den 29. Januar, im Roten Rathaus in Berlin mit dem Obermayer Award der US-amerikanischen Obermayer Foundation für sein “herausragendes Engagement zur Bewahrung jüdischer Geschichte und zur Bekämpfung von Vorurteilen in der heutigen Zeit” ausgezeichnet. Es gibt sechs weitere Preisträger aus Deutschland, darunter Dirk Erkelenz, der 2022 bereits den Deutschen Lehrkräftepreis erhalten hat.
Ende November, ein Gymnasium im niedersächsischen Papenburg: Schüler der 13. Klasse analysieren im Geschichtsunterricht Wahlplakate aus der Weimarer Republik von 1932. Es war das Jahr, in dem die Nationalsozialisten zur Partei Nummer eins wurden. Warum wurden sie unterstützt? Die Schüler sollen aus Perspektive der Wähler denken und ein Gefühl für die gesellschaftliche Atmosphäre der Zeit entwickeln.
Auf den Plakaten sind Hämmer und Dolche zu sehen, aggressive Farben dominieren. Im gesamten politischen Raum war die Atmosphäre damals aufgeladen, feindselig und gewaltbereit. Die Schüler erfahren auch, dass die Nationalsozialisten in ihren Aufrufen den Ausdruck “wir” betonten, um die Unterstützung zu erhöhen.
Nacheinander melden sich Schüler und äußern ihre Gedanken. Was können wir aus den historischen Fakten lernen? Welche Lehren ziehen wir daraus? “Ich glaube, dass die Menschen damals nur wenige Optionen sahen. Die wirtschaftliche Situation war so schlecht, dass sie für die Nationalsozialisten stimmten. Sie dachten, es sei ihre letzte Chance”, sagt ein Schüler. Eine andere Stimme: “Kompromiss ist die Lösung in der Politik. Oppositionsparteien dürfen nicht beseitigt werden.”
Sind sie es nicht leid, immer und immer wieder über den Nationalsozialismus zu sprechen? “Zuerst dachte ich manchmal: ‘Nicht schon wieder'”, sagt tatsächlich ein Schüler. “Aber mittlerweile verstehe ich, wie wichtig es ist, immer wieder zu lernen.” Davon ist auch Lehrer Marten Hagen überzeugt, der seit 34 Jahren Geschichte unterrichtet. “Mein Eindruck ist, dass Schüler heute generell sehr interessiert an der NS-Zeit sind und offen für eine tiefergehende und reflektierte Auseinandersetzung damit”, hat er beobachtet. Es könne sein, dass das so ist, weil junge Menschen zur heutigen politischen Situation viele Verbindungen sehen – auch wenn das Thema in ihren Familien und insgesamt im privaten Kontext wegen der inzwischen fehlenden Zeitzeugen nicht mehr so präsent ist.
In Japan nimmt der Blick auf die jüngere Geschichte des Landes seit 2022 in der dreijährigen Oberschule (Jahrgänge 10 bis 12) einen größeren Raum ein. Dabei soll das Hinterfragen der Dinge stärker betont werden, anstatt bloßes Wissen zu pauken. Nur wenige Schulen werden wohl so viel Zeit wie in Deutschland damit verbringen, sich mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs – aus verschiedenen Perspektiven – auseinanderzusetzen. Ein Krieg, in dem Japan in asiatischen Ländern für 20 Millionen Opfer verantwortlich war.
Als Gesellschaft scheint Japan insbesondere seine Tätergeschichte vergessen zu wollen: Seit Mitte der 1990er-Jahre hatten Generationen von Premierministern jedes Jahr im August beim Gedenktag für die Kriegstoten die Verantwortung und Reue für den Krieg in Asien zum Ausdruck gebracht. Von 2012 – als LDP-Premierminister Shinzō Abe an die Macht zurückkehrte – bis zum vorigen Jahr hat kein Premierminister bei der Zeremonie diese Schuld und Reue erwähnt.
In einer nationalen Umfrage zum Frieden gaben im Vorjahr 46 Prozent an, dass dies auch nicht notwendig sei. Demgegenüber meinten 49 Prozent, dass es eben doch notwendig sei. In den Lehrplänen für die Mittelschule (Jahrgänge 7 bis 9), die die Grundlage der Bildungsinhalte sind, heißt es lediglich, dass die Schüler “verstehen sollen, dass der Zweite Weltkrieg Auswirkungen auf die gesamte Menschheit hatte”. Eine Täterschaft wird nicht erwähnt.
In seinem Bemühen, das Verblassen der Erinnerung zu verhindern, scheint sich Deutschland deutlich von Japan zu unterscheiden. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Papenburg besuchte ich auch die nahegelegene Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Esterwegen. Dort erklärte mir Jacqueline Meurisch, Leiterin der Gedenkstättenpädagogik, dass Führungen bis zum Juni ausgebucht seien. Neben Schülern kommen auch Polizisten und Militärangehörige.
In Japan war Okinawa am Ende des Kriegs Schauplatz eines Bodenkriegs. Es kam zu schrecklichen Vorfällen, bei denen das Militär Bewohner massakrierte, die versuchten, sich dem US-Militär zu ergeben. Allerdings habe ich noch nie von Polizisten oder Angehörigen der Selbstverteidigungsstreitkräfte Japans gehört, die nach Okinawa gereist sind, um sich mit dieser unbequemen Geschichte auseinanderzusetzen.
Beeindruckend war auch die Art und Weise, wie die Ausstellung in Esterwegen präsentiert wurde. Hunderte Fotos von Gesichtern der im Lager Gestorbenen und der Überlebenden waren aufgereiht. Die Betonung des Individuums ähnelte der Gedenkstätte in Sachsenhausen, die ich davor besucht hatte. Die Ausstellung, die sorgfältig und detailliert die persönlichen Geschichten von Opfern und Tätern im Lager vermittelt, zeigt, dass jeder von uns ein Teil der Geschichte ist.
Die “Friedenserziehung” an japanischen Schulen hat es geschafft, die Schrecken des Krieges und die Bedeutung des Friedens zu vermitteln. Bei vielen Kindern hat sie die Abneigung gegen den Krieg geweckt. Entwickelt sich jedoch ein Bewusstsein dafür, dass jeder Einzelne ein Akteur in der Gesellschaft ist – im Frieden oder im Krieg? Diese Frage stelle ich mir.
Dafür habe ich den Eindruck, dass in Deutschland die historische Verantwortung auch für den Einzelnen eine große Rolle spielt. Dazu passt, was mir der Geschichtslehrer Marten Hagen vor der Abreise aus Papenburg sagte: “Ich denke, die Bedeutung des Erinnerns hat in unserer Gesellschaft Wurzeln geschlagen.”
Von Oktober bis Dezember 2023 war der japanische Bildungsjournalist Kota Kusakabe zu Gast in der Redaktion von Table.Media, initiiert durch das International Journalist Programme. Der Redakteur der Tageszeitung Chūnichi Shimbun nutzte den Aufenthalt, um sich ein Bild vom Bildungssystem in Deutschland zu machen.
Sollten Besuche von KZ-Gedenkstätten für Schulklassen verpflichtend sein? Seit Jahren wird diese Frage vor dem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar immer wieder diskutiert. Die aktuelle politische Lage – der Israel-Gaza-Krieg und der wachsende Antisemitismus in Deutschland – prägt die diesjährige Debatte. Table.Media hat nachgefragt, wie es die Länder bislang regeln.
Einzig in Bayern ist der Besuch einer KZ-Gedenkstätte Pflicht – für die neunten Klassen der Realschulen und Gymnasien. Die Schüler sollen dabei altersgerecht und vor Ort mehr über die historischen Ereignisse lernen. Zu diskutieren, was diese für die Gegenwart bedeuten, ist ebenfalls Teil des Lehrplans. Auch in den Mittelschulen, dem bayerischen Pendant zur Hauptschule, gibt es für die neunte Klasse die Vorgabe, eine Gedenkstätte zu besuchen. Dabei muss es sich jedoch nicht unbedingt um ein ehemaliges KZ handeln, es könne auch ein anderer Gedenkort für Opfergruppen des Nationalsozialismus sein. Gedenkstätten seien “in besonderer Weise dazu geeignet, fachliche Inhalte der historisch-politischen Bildung über konkrete Anschauung und die dort erfahrbare Authentizität zu vertiefen.”
Baden-Württemberg, Hessen, Sachsen-Anhalt und Sachsen teilen mit, dass sie den Besuch einer Gedenkstätte empfehlen. Rheinland-Pfalz stellt den Schulen frei, ob die Schülerinnen und Schüler einmal in ihrer Schullaufbahn einen Gedenk- oder Lernort besuchen, Zeitzeugen beziehungsweise deren Nachfahren sprechen oder an einem regionalgeschichtlichen Unterrichtsprojekt teilnehmen.
Das Bildungsministerium in Mecklenburg-Vorpommern äußert auf Anfrage Bedenken gegenüber einer Verpflichtung. Eine solche Pflicht widerspreche der pädagogischen Freiheit der Lehrkräfte. Zudem würden fachliche, rechtliche und organisatorische Gründe dagegen sprechen.
Die Hamburger Schulbehörde teilt mit, “der politische Wille” sei da, eine Pflicht umzusetzen. Angesichts der steigenden Zahl antisemitischer Vorfälle seit dem 7. Oktober berate man darüber, wie ein verpflichtender Besuch künftig aussehen könne. Skeptisch seien jedoch die Gedenkstätten. Außerdem würden die personellen Kapazitäten in den Gedenkstätten nach aktuellem Stand nicht ausreichen.
Mecklenburg-Vorpommern, das Saarland und Schleswig-Holstein teilten mit, sie würden anlässlich der politischen Lage ihre Ausgaben für die Besuche von Gedenkstätten und andere demokratiepädagogische Maßnahmen für 2024 erhöhen. Zusätzlich zu den erhöhten Mitteln hat der schleswig-holsteinische Landtag vergangenen November einen 10-Punkte-Plan für eine Bildungsoffensive gegen Antisemitismus erstellt. Eine Forderung darin ist, Gedenkstättenfahrten im schulischen Kontext stärker zu fördern. Kira Münsterberg
Die TikTok-Shoah-Gedenk- und Bildungsinitiative will sich künftig auch an Schulen richten. TikTok unterstützt auf seiner Plattform bislang 20 Gedenkstätten weltweit bei ihrer Erinnerungsarbeit – darunter etwa die KZ-Gedenkstätten Dachau, Bergen-Belsen und Mauthausen. Es wäre wünschenswert, dass die Videos auch als Bildungsmaterial im Unterricht zum Einsatz kommen, sagte Medienwissenschaftler Tobias Ebbrecht-Hartmann Table.Media. Er ist Professor an der Hebrew University of Jerusalem, die mit der deutschen Abteilung des Videoportals vom chinesischen Konzern ByteDance und weiteren Partnern 2021 die “Shoah Education and Commemoration Initiative” ins Leben rief.
“Bisher haben Gedenkstätten TikTok vor allem dazu genutzt, um neue Zugänge zu ihren Institutionen und den Geschichten ihrer Gedenkorte zu schaffen”, sagt Ebbrecht-Hartmann. Die entstandenen Videos mit Schülern zu behandeln, sieht er als Chance, Geschichtsvermittlung und digitale Bildung zusammenzubringen. “Gerade ein Fokus auf den Umgang mit Quellen kann die Medienkompetenz stärken.”
Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme war die erste KZ-Gedenkstätte weltweit, die auf TikTok aktiv wurde. Heute hat sie 28.500 Follower. Sie erarbeitet zur Zeit einen Workshop zur Holocaust-Vermittlung auf Social Media. “Ich kann mir vorstellen, dass Schulklassen unsere Beiträge zum Beispiel auf TikTok zur Vor- und Nachbereitung nutzen”, sagt Iris Groschek, Sprecherin der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte, zu der das ehemalige KZ Neuengamme gehört. “Lehrer könnten die Videos zum Ausgangspunkt nehmen, um mit Schülern zu diskutieren, welche Erinnerungsformen in ihren Augen angemessen sind und inwieweit Gedenkorte zur Erinnerung an die Opfer von NS-Verbrechen und ihre Themen Teil des Alltags sein sollten.”
Ebbrecht-Hartmann hat in den vergangenen Wochen in Thüringen und Berlin Lehrerfortbildungen zur Rolle von TikTok im Nahostkrieg angeboten. “Mein Eindruck war, dass immer mehr Lehrer die Plattform in den Unterricht einbeziehen wollen.” Jedoch gebe es großen Schulungsbedarf, wie sie dabei einen kompetenten Umgang mit sozialen Medien vermitteln können. Hier müsse die Politik dringend nachsteuern. Anna Parrisius
vor 79 Jahren haben sowjetische Soldaten die Menschen im Konzentrationslager Auschwitz befreit. Mehr als eine Million vor allem jüdische Menschen wurden allein in dem größten Vernichtungslager getötet. Es sind grauenvolle Bilder, die damals um die Welt gingen und die niemand vergessen kann – und vergessen sollte. Wie wichtig das ist, haben wir in den vergangenen Wochen gesehen: Die Zahlen antisemitischer Vorfälle steigen, und wieder werden Deportationsideen in Deutschland entwickelt.
Der “Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus” ist wichtig. Insbesondere auch deshalb, weil die Zahl der Holocaust-Überlebenden von Jahr zu Jahr kleiner wird. Weltweit gibt es nach Angaben der Claims Conference noch 245.000 jüdische Holocaust-Überlebende. In Deutschland sind es 14.200. Die meisten sind 86 Jahre und älter. Die wenigsten von ihnen sind noch in der Lage, an Schulen zu gehen und mit Schülern über das Unfassbare, das sie erlebt haben, zu sprechen.
Schulen müssen zeitgemäße Wege der Erinnerungskultur entwickeln. Sie sollten dabei auch Social-Media-Kanäle nutzen, sagt der israelisch-deutsche Pädagoge und Historiker Meron Mendel im Interview mit Table.Media. Er erklärt darin auch, wie er über verpflichtende Besuche von KZ-Gedenkstätten denkt und wie junge Menschen demokratiefest werden können.
Die gute Nachricht ist: Es gibt Beispiele guter Erinnerungskultur. Der Obermayer Award zeichnet entsprechende Projekte und die Personen dahinter aus. Die Preisträger werden am Montag bekannt gegeben. Meine Kollegin Anna Parrisius weiß schon, wer die Auszeichnung bekommt, und stellt ein besonders interessantes Projekt vor.
Außerdem können Sie in dieser Sonderausgabe zum Holocaust-Gedenktag auch einen interessanten Gastbeitrag von Kota Kusakabe lesen. Der Bildungsjournalist aus Japan war im Herbst drei Monate zu Gast in unserer Redaktion und hat in dieser Zeit viele Schulen besucht. Ihn beschäftigt, wie Schulen in Deutschland im Vergleich zu Japan mit der faschistischen Vergangenheit ihres Landes umgehen.
Ich wünsche Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre und ein schönes Wochenende!
Herr Mendel, wie schauen Sie in diesem Jahr auf den Holocaust-Gedenktag?
Meron Mendel: Es ist nicht nur die Geschichte, die mich in diesem Jahr beschäftigt, sondern auch die aktuelle politische Situation. Das von Correctiv aufgedeckte Geheimtreffen von ranghohen AfD-Funktionären, Rechtsextremisten und Wirtschaftsleuten im November vergangenen Jahres, bei dem die Ausweisung von Millionen Menschen geplant wurde, zeigt Parallelen zur Zeit vor 1933, die mich sehr beunruhigen. Wir haben schon einmal gesehen, wie eine demokratisch gewählte Regierung die Demokratie abschafft. Daraus sollten wir lernen.
Beobachten Sie vor diesem Hintergrund bei Schülern eine größere Aufmerksamkeit, sich mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust zu befassen?
Es ist nicht immer leicht, das Interesse von Schülerinnen und Schülern für das Thema zu gewinnen, weil so viele Themen miteinander konkurrieren. Ich erlebe zwar heute eine Generation von Jugendlichen, die im Vergleich zu den Generationen davor stark politisiert ist. Aber im Vordergrund stehen Themen wie die Klimakatastrophe und aktuell der Krieg zwischen Israel und Gaza. Doch angesichts der aktuellen politischen Situation in Deutschland ist es sehr wichtig, Brücken zu bauen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Wie gelingt das?
Gerade heute müssen wir in den Schulen darüber sprechen, wie es zum Holocaust kam und wie Demokratien in kürzester Zeit zu Unrechtsregimen werden können. Aber das ist nicht nur die Aufgabe des Geschichtslehrers. Alle Lehrkräfte und Bildungseinrichtungen sind hier gefragt und müssen darüber aufklären, wie Vorurteile entstehen, was Flucht und Vertreibung bedeuten und warum antidemokratische Kräfte aktuell unsere Gesellschaft bedrohen.
Wie gut das in der Schule gelingt, hängt natürlich immer auch von der Motivation der einzelnen Lehrkraft ab. Es gibt viele, die immer wieder neue Zugänge schaffen, mit neuen Materialien arbeiten, die Verknüpfung zu aktuellen Ereignissen aufzeigen.
Zeitzeugen gibt es kaum noch. Wie lassen sich heute Zugänge schaffen?
Ich würde das Thema Zeitzeugen nicht überschätzen. Zeitzeugen waren tatsächlich nur kurze Zeit an Schulen. Es hat nach dem Zweiten Weltkrieg 40, 50 Jahre gedauert, bis man ihnen überhaupt zuhören wollte. Und in den Familien wurde auch nur wenig darüber gesprochen. Man konnte nicht einfach am Küchentisch den Opa fragen, was mit den Juden geschehen ist und was er damit zu tun hatte.
Können Videos, Hologramme oder das Projekt Zweitzeugen die Begegnung mit Zeitzeugen ersetzen?
All das sind Hilfsmittel, aber sie können Zeitzeugengespräche, also Begegnung mit Menschen, die den Holocaust selbst erlebt haben, nicht ersetzen. Manche Formate suggerieren etwas, was sie nicht leisten können. Das Projekt Zweitzeugen versucht eine unmittelbare Erfahrung durch eine mittelbare zu ersetzen. Das funktioniert nicht. Hologramme sind ziemlich beeindruckend, aber doch technischer Schnickschnack mit wenig Mehrwert zum Beispiel gegenüber einem Video. Auch ein dreidimensionales Bild macht eine Person nicht realer als ein zweidimensionales Bild.
Was also tun?
Junge Menschen erreicht man vor allem über soziale Medien: TikTok, Instagram, YouTube. Daher muss man diese Kanäle auch für die Vermittlung von Erinnerungskultur nutzen. Es gibt da auch schon viele Beispiele, zum Beispiel die eva.stories auf Instagram. Als Historiker kann man an diesen Storys viel kritisieren, aber es spricht Jugendliche an, es bleibt etwas hängen, und es öffnet sich eine Tür. Das ist wichtig.
Es gibt auch Projekte, bei denen Jugendliche sich selbst engagieren. Welche Wirkung hat das?
Auch hier gibt es Unterschiede. Ich würde Lehrkräften nicht empfehlen, mit ihrer Schulklasse Stolpersteine zu putzen. Das ist sehr einfallslos, und es bleibt nicht viel hängen. Da gibt es interessantere Projekte, bei denen sich Schüler zum Beispiel auf Spurensuche in ihrem Umfeld begeben oder wo sie dazu beitragen, Dokumente aus der NS-Zeit zugänglich zu machen.
Sollten Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Schulzeit verpflichtend eine KZ-Gedenkstätte besuchen?
Einen KZ-Besuch finde ich sinnvoll. Ich finde es prinzipiell gut, wenn alle Jugendlichen im Rahmen der Schule die Möglichkeit bekämen, eine Gedenkstätte zu besuchen. Allerdings muss Schülern auch die Möglichkeit eingeräumt werden, an diesem Besuch nicht teilzunehmen. Es gibt Jugendliche, die das überfordert. Es muss legitim sein, wenn jemand nicht dabei sein will. Laut dem Beutelsbacher Konsens besteht für die politische Bildung ein Überwältigungsverbot. Deswegen müssen wir darauf achten, Jugendliche mit solchen Maßnahmen nicht zu überwältigen. Dazu gehört auch, dass der Besuch gut vorbereitet und begleitet werden muss. Wenn man Schulklassen unvorbereitet in eine KZ-Gedenkstätte schickt, bringt das nichts. Der KZ-Besuch allein wirkt nicht wie ein Medikament. Es muss Raum für Diskussionen und Einordnung geben.
Was meinen Sie konkret?
In den sozialen Medien werden jetzt ständig Vergleiche zwischen dem Holocaust und dem Krieg in Israel und Gaza gezogen. Es gibt wahrscheinlich keinen Teenager, der nicht mit diesen Vergleichen konfrontiert ist, der nicht auf TikTok, Instagram oder YouTube entsprechende Videos gesehen hat. Ich halte es für wichtig, deutlich zu machen, welche Bezüge es zur Gegenwart gibt, aber auch, welche Vergleiche nicht zulässig sind.
Manche Lehrkräfte versuchen, solche Diskussionen zu vermeiden. Sie haben Sorge, dass Diskussionen zu emotional werden. Woran liegt das?
Viele Lehrkräfte sind überfordert mit der Situation, weil ihnen das Hintergrundwissen zu dem Krieg fehlt, oder weil sie oft auch nicht methodisch in der Lage sind, so eine Debatte zu führen.
Lernen sie das nicht im Studium?
Die Geschichte des Nahost-Konflikts ist höchstens punktuell ein Thema im Studium, und es gibt nur wenig Fortbildungen. Hier muss mehr passieren. Seit dem 7. Oktober kommt das deutsche Schulsystem um diese Aufgabe nicht herum. Und Lehrkräfte brauchen mehr Unterstützungsangebote. Unsere Bildungsstätte hat nach Beginn des Kriegs auch mehrere Online-Workshops und einen Fachtag angeboten. Die waren alle innerhalb weniger Stunden komplett ausgebucht.
Ist es für Lehrkräfte in Deutschland besonders schwierig, über den Krieg zu diskutieren und kritische Meinungen zuzulassen, weil die Sicherheit Israels in Deutschland Staatsräson ist?
Das wird oft gesagt, aber ich erlebe das nicht so. In den Schulen wird durchaus kritisch über Israel diskutiert. Niemand erwartet, dass man hinter der Politik Netanjahus steht und alles begrüßt, was Israel macht. Problematisch wird es erst, wenn man sagt: Israel ist eine Kolonialmacht und alle Juden müssen aus der Region verschwinden.
Auf Ihrer Website steht folgendes Zitat: “In einer offenen Gesellschaft sollten sich Menschen nicht rassistisch oder antisemitisch äußern. Nicht, weil sie Angst vor negativen Folgen haben, sondern weil sie ehrlich davon überzeugt sind, dass es falsch ist.” Bekommen Schüler diese Haltung in den Schulen heute ausreichend vermittelt?
Ich denke, sie bröckelt – nicht nur in den Schulen, sondern überhaupt in der Gesellschaft. Das spiegelt sich auch darin wider, dass in einigen Regionen Deutschlands die Partei am stärksten ist, die eine klar rassistische und antisemitische Haltung hat.
Wie ist es insgesamt um die Demokratiebildung an den Schulen bestellt?
Es gibt viele Lehrmaterialien dazu, wie Demokratie funktioniert. Sicher könnte man das moderner gestalten, aber das ist für mich nicht das Hauptproblem. Kritisch mit Blick auf die Demokratiebildung sehe ich aber unser Bildungssystem und die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft. Wenn Jugendliche merken, dass sie keine Aufstiegschancen haben, dann führt das zu Frust, Verzweiflung, Wut.
Was muss sich ändern?
Wir brauchen eine grundlegende Bildungsreform. Die Struktur der Schule bereitet junge Menschen nicht auf die Teilhabe in einer modernen Demokratie vor. Wir dürfen Kinder nicht schon nach der vierten Klasse auf unterschiedliche Schulformen aufteilen und ihnen damit Chancen nehmen. Und wir müssen den Unterricht grundlegend modernisieren. Wie vor 100 Jahren gehen Schüler morgens in die Schule und lassen sich von den Lehrern den ganzen Tag etwas erklären. Und da macht es auch keinen großen Unterschied, ob sie dabei digitale Geräte nutzen. So können sich keine kritischen, neugierigen und engagierten Menschen entwickeln, die Verantwortung übernehmen können.
Der israelisch-deutsche Historiker und Pädagoge Meron Mendel leitet seit 2010 die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, die in Deutschland eine der führenden Organisationen in der Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus ist. Sein Buch “Über Israel reden” erschien im vergangenen Jahr und war für den Deutschen Sachbuchpreis 2023 nominiert.
Häufig hat Christoph Mauny es bei seiner Arbeit an weiterführenden Schulen mitbekommen: Einen KZ-Gedenkstättenbesuch zu organisieren, ist für viele Lehrer nicht einfach. Anträge für einen Besuch seien oft schon ein Jahr vorher nötig, die Gedenkstätten hoffnungslos ausgebucht. “Wenn selbst eine Thüringer Schule es nicht schafft, das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald zu besuchen, haben wir ein Problem”, sagt der Bildungsreferent der Weimarer Mal- und Zeichenschule.
Dabei gibt es oft direkt vor der Haustür Orte, die zeigen können, dass die NS-Verbrechen keine abstrakten, weit entfernten Ereignisse waren. Neben 24 Stammlagern, darunter Auschwitz, Buchenwald und Dachau, umfasste das System der Konzentrationslager rund 1.000 kleinere Außenlager. Allein Buchenwald zählte 140, die Orte dieser ehemaligen Lager erstrecken sich bis ins Ruhrgebiet und über acht Bundesländer. Viele sind in Thüringen. Der promovierte Philosoph Mauny arbeitet mit Schülern ab der achten Klasse besonders zu einem Außenlager: Ohrdruf.
Rund 20.000 Männer und Jungen aus ganz Europa wurden dort zu schwerster Arbeit gezwungen. In den USA ist Ohrdruf ein wichtiger Teil des Gedenkens an die NS-Verbrechen. Im April 1945 stießen US-Soldaten dort auf Leichenberge und abgemagerte Überlebende. Der spätere US-Präsident Eisenhower war vor Ort, US-Medien berichteten. Es war das erste Lager, das die Westalliierten befreiten.
In Deutschland ist die Geschichte des Lagers hingegen kaum bekannt. Es gibt ein öffentliches Mahnmal, aber keine Gedenkstätte. Den Großteil des Areals nutzt die Bundeswehr heute als Truppenübungsplatz.
“Deutsche Erinnerungslücke KZ Ohrdruf” heißt daher das Projekt, das Mauny im Mai 2022 initiiert hat, damals noch als Referent der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha. Mit den Materialien können Lehrer bereits eine Doppelstunde Unterricht gestalten. Mauny bietet Workshops von bis zu fünf Tagen an, für Schüler ab der achten Klasse. Dass diese Arbeit auch angesichts des erstarkenden Rechtsextremismus in Thüringen nottut, verdeutlicht ein Fakt zur Kleinstadt Ohrdruf: Seit zwei Jahren hat in dem 9.500-Einwohner-Ort die rechtsextreme Partei “Der III. Weg” ein Parteibüro.
Mit Jugendlichen geht Mauny auf das Gelände des ehemaligen Außenlagers – um sich mit ihnen den Ort, der heute kaum mehr an das Geschehene erinnert, sinnlich zu erschließen. Er organisiert Gespräche mit sogenannten “Zweitzeugen”, etwa dem niederländischen Autor Bart FM Droog, dessen Onkel Nicolaas im Außenlager mutmaßlich ums Leben kam. In ein Gymnasium hat er einmal eine Band eingeladen, die in der Pause auf dem Schulhof ein Lied von zwei bekannten jüdischen Musikern spielte, dem Jazz-Duo Johnny & Jones aus Amsterdam. Beide waren in Ohrdruf inhaftiert, kamen später im Konzentrationslager Bergen-Belsen ums Leben. “Das war sehr bewegend”, sagt Mauny.
Jede Klasse soll sich einzelnen Biografien widmen. Möglich ist das über rund 300 Namenslisten von Insassen in Ohrdruf, die von den Nationalsozialisten überliefert sind. Die Arolsen Archives, das weltweit größte Archiv zu den Opfern und Überlebenden des NS, hat sie digitalisiert. Damit die von Hand oder mit Maschine notierten Namen künftig gefunden werden können, müssen sie noch erkannt und transkribiert werden. #EveryNameCounts heißt daher ein Tool des Archivs, in dem Nutzer weltweit Daten zu den Opfern und Überlebenden des Holocausts in solchen Quellen erkennen können und das sich dezidiert an Schüler richtet. Ziel ist es, dass eines Tages biografische Angaben jedes Holocaust-Opfers und -Überlebenden online zu finden sind.
“In Zweiergruppen sehen Schüler sich Ausschnitte der Listen online an, geben die Namen ein und, wenn vermerkt, weitere Daten”, sagt Mauny. “Das geht schon in 30 bis 45 Minuten.” Am Ende spuckt der Algorithmus eine Kurzbiografie aus. “Ich bitte die Schüler, die Namen laut auszusprechen oder sie aufzuschreiben.” Viele Schüler berühre das, besonders, wenn sie Vornamen oder Geburtstag mit der Person teilen.
Die Schüler fragt Mauny, wie sie selbst in der Erinnerung an die Geschichte des Außenlagers aktiv werden wollen. “In einem der ersten Workshops haben die Teilnehmer entschieden, einen Verein zu gründen, der regelmäßig Blumen am Mahnmal hinlegt”, erzählt er.
In den Workshops schaffen die Schüler zudem immer ein Produkt – auch, um sich mit dem Erfahrenen, den “Horrorinformationen”, wie Mauny sagt, “mit Kopf, Hand und Herz” auseinanderzusetzen. “Das Schöne ist, dass dadurch ganz andere Stärken gefragt sind als sonst im Geschichtsunterricht.” Zum Beispiel haben Schüler kleine Tonplastiken geformt und in sie Namen von Lagerinsassen eingraviert. “So ist etwa eine Axt entstanden, um die Zwangsarbeit zu symbolisieren.” In die Tonmasse drückten sie noch Mohnsamen. Am Ort des ehemaligen Lagers ausgelegt, blühte es dort ein paar Wochen später.
Mehrere Videos zwischen Dokumentation und Kunst sind entstanden – verbunden mit Einführungen zu Kameraführung und Schnitt. “Ein Filmworkshop zum Holocaust lockt mehr Jugendliche als ein rein inhaltlicher Kurs”, sagt Mauny, der die Kurse auch in den Ferien anbietet.
Schüler schätzten die Verbindung aus historischer Bildung und künstlerischen Projekten. “Gleichzeitig bekomme ich mit, dass die Schulen durch Fachkräftemangel und Bürokratie überfordert sind und dass selbst engagierte Lehrer vor zusätzlichen Projekten zurückschrecken.” Eine Lösung sieht Mauny im “Lernen durch Engagement”, auch Service-Learning genannt. Die Idee: Schüler engagieren sich, angebunden an ein oder mehrere Fächer, in Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort gemeinnützig. Erste Schulen setzen das in Thüringen bereits um. “Für mich ist ein Hoffnungsanker, dass das durch das Bildungsministerium und die ,Stiftung Lernen durch Engagement’ ausgeweitet wird”, sagt Mauny.
Bundesweit könnten Schüler sich mit ehemaligen Außenlagern in ihrer Nähe und der Erinnerungskultur beschäftigen. Unterstützung soll dafür ab Mai eine neue digitale Lernplattform zum Außenlagersystem liefern namens “Suspekt: Landschaft der Verbrechen”. Im Ohrdruf-Projekt wird sie federführend durch die Arolsen Archives erarbeitet. Mauny ist sich sicher: Dass das Lager Ohrdruf so in Vergessenheit geraten ist, steht pars pro toto für andere Orte.
Von einer 17-jährigen Schülerin habe er neulich nach einem Workshop noch ein Gedicht erhalten, in dem sie das Erfahrene verarbeitete. Als wichtigste Botschaft nimmt Mauny mit: “Unsere Arbeit hat ihr Mut gegeben, dass jeder etwas bewirken kann.”
Christoph Mauny wird am Montag, den 29. Januar, im Roten Rathaus in Berlin mit dem Obermayer Award der US-amerikanischen Obermayer Foundation für sein “herausragendes Engagement zur Bewahrung jüdischer Geschichte und zur Bekämpfung von Vorurteilen in der heutigen Zeit” ausgezeichnet. Es gibt sechs weitere Preisträger aus Deutschland, darunter Dirk Erkelenz, der 2022 bereits den Deutschen Lehrkräftepreis erhalten hat.
Ende November, ein Gymnasium im niedersächsischen Papenburg: Schüler der 13. Klasse analysieren im Geschichtsunterricht Wahlplakate aus der Weimarer Republik von 1932. Es war das Jahr, in dem die Nationalsozialisten zur Partei Nummer eins wurden. Warum wurden sie unterstützt? Die Schüler sollen aus Perspektive der Wähler denken und ein Gefühl für die gesellschaftliche Atmosphäre der Zeit entwickeln.
Auf den Plakaten sind Hämmer und Dolche zu sehen, aggressive Farben dominieren. Im gesamten politischen Raum war die Atmosphäre damals aufgeladen, feindselig und gewaltbereit. Die Schüler erfahren auch, dass die Nationalsozialisten in ihren Aufrufen den Ausdruck “wir” betonten, um die Unterstützung zu erhöhen.
Nacheinander melden sich Schüler und äußern ihre Gedanken. Was können wir aus den historischen Fakten lernen? Welche Lehren ziehen wir daraus? “Ich glaube, dass die Menschen damals nur wenige Optionen sahen. Die wirtschaftliche Situation war so schlecht, dass sie für die Nationalsozialisten stimmten. Sie dachten, es sei ihre letzte Chance”, sagt ein Schüler. Eine andere Stimme: “Kompromiss ist die Lösung in der Politik. Oppositionsparteien dürfen nicht beseitigt werden.”
Sind sie es nicht leid, immer und immer wieder über den Nationalsozialismus zu sprechen? “Zuerst dachte ich manchmal: ‘Nicht schon wieder'”, sagt tatsächlich ein Schüler. “Aber mittlerweile verstehe ich, wie wichtig es ist, immer wieder zu lernen.” Davon ist auch Lehrer Marten Hagen überzeugt, der seit 34 Jahren Geschichte unterrichtet. “Mein Eindruck ist, dass Schüler heute generell sehr interessiert an der NS-Zeit sind und offen für eine tiefergehende und reflektierte Auseinandersetzung damit”, hat er beobachtet. Es könne sein, dass das so ist, weil junge Menschen zur heutigen politischen Situation viele Verbindungen sehen – auch wenn das Thema in ihren Familien und insgesamt im privaten Kontext wegen der inzwischen fehlenden Zeitzeugen nicht mehr so präsent ist.
In Japan nimmt der Blick auf die jüngere Geschichte des Landes seit 2022 in der dreijährigen Oberschule (Jahrgänge 10 bis 12) einen größeren Raum ein. Dabei soll das Hinterfragen der Dinge stärker betont werden, anstatt bloßes Wissen zu pauken. Nur wenige Schulen werden wohl so viel Zeit wie in Deutschland damit verbringen, sich mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs – aus verschiedenen Perspektiven – auseinanderzusetzen. Ein Krieg, in dem Japan in asiatischen Ländern für 20 Millionen Opfer verantwortlich war.
Als Gesellschaft scheint Japan insbesondere seine Tätergeschichte vergessen zu wollen: Seit Mitte der 1990er-Jahre hatten Generationen von Premierministern jedes Jahr im August beim Gedenktag für die Kriegstoten die Verantwortung und Reue für den Krieg in Asien zum Ausdruck gebracht. Von 2012 – als LDP-Premierminister Shinzō Abe an die Macht zurückkehrte – bis zum vorigen Jahr hat kein Premierminister bei der Zeremonie diese Schuld und Reue erwähnt.
In einer nationalen Umfrage zum Frieden gaben im Vorjahr 46 Prozent an, dass dies auch nicht notwendig sei. Demgegenüber meinten 49 Prozent, dass es eben doch notwendig sei. In den Lehrplänen für die Mittelschule (Jahrgänge 7 bis 9), die die Grundlage der Bildungsinhalte sind, heißt es lediglich, dass die Schüler “verstehen sollen, dass der Zweite Weltkrieg Auswirkungen auf die gesamte Menschheit hatte”. Eine Täterschaft wird nicht erwähnt.
In seinem Bemühen, das Verblassen der Erinnerung zu verhindern, scheint sich Deutschland deutlich von Japan zu unterscheiden. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Papenburg besuchte ich auch die nahegelegene Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Esterwegen. Dort erklärte mir Jacqueline Meurisch, Leiterin der Gedenkstättenpädagogik, dass Führungen bis zum Juni ausgebucht seien. Neben Schülern kommen auch Polizisten und Militärangehörige.
In Japan war Okinawa am Ende des Kriegs Schauplatz eines Bodenkriegs. Es kam zu schrecklichen Vorfällen, bei denen das Militär Bewohner massakrierte, die versuchten, sich dem US-Militär zu ergeben. Allerdings habe ich noch nie von Polizisten oder Angehörigen der Selbstverteidigungsstreitkräfte Japans gehört, die nach Okinawa gereist sind, um sich mit dieser unbequemen Geschichte auseinanderzusetzen.
Beeindruckend war auch die Art und Weise, wie die Ausstellung in Esterwegen präsentiert wurde. Hunderte Fotos von Gesichtern der im Lager Gestorbenen und der Überlebenden waren aufgereiht. Die Betonung des Individuums ähnelte der Gedenkstätte in Sachsenhausen, die ich davor besucht hatte. Die Ausstellung, die sorgfältig und detailliert die persönlichen Geschichten von Opfern und Tätern im Lager vermittelt, zeigt, dass jeder von uns ein Teil der Geschichte ist.
Die “Friedenserziehung” an japanischen Schulen hat es geschafft, die Schrecken des Krieges und die Bedeutung des Friedens zu vermitteln. Bei vielen Kindern hat sie die Abneigung gegen den Krieg geweckt. Entwickelt sich jedoch ein Bewusstsein dafür, dass jeder Einzelne ein Akteur in der Gesellschaft ist – im Frieden oder im Krieg? Diese Frage stelle ich mir.
Dafür habe ich den Eindruck, dass in Deutschland die historische Verantwortung auch für den Einzelnen eine große Rolle spielt. Dazu passt, was mir der Geschichtslehrer Marten Hagen vor der Abreise aus Papenburg sagte: “Ich denke, die Bedeutung des Erinnerns hat in unserer Gesellschaft Wurzeln geschlagen.”
Von Oktober bis Dezember 2023 war der japanische Bildungsjournalist Kota Kusakabe zu Gast in der Redaktion von Table.Media, initiiert durch das International Journalist Programme. Der Redakteur der Tageszeitung Chūnichi Shimbun nutzte den Aufenthalt, um sich ein Bild vom Bildungssystem in Deutschland zu machen.
Sollten Besuche von KZ-Gedenkstätten für Schulklassen verpflichtend sein? Seit Jahren wird diese Frage vor dem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar immer wieder diskutiert. Die aktuelle politische Lage – der Israel-Gaza-Krieg und der wachsende Antisemitismus in Deutschland – prägt die diesjährige Debatte. Table.Media hat nachgefragt, wie es die Länder bislang regeln.
Einzig in Bayern ist der Besuch einer KZ-Gedenkstätte Pflicht – für die neunten Klassen der Realschulen und Gymnasien. Die Schüler sollen dabei altersgerecht und vor Ort mehr über die historischen Ereignisse lernen. Zu diskutieren, was diese für die Gegenwart bedeuten, ist ebenfalls Teil des Lehrplans. Auch in den Mittelschulen, dem bayerischen Pendant zur Hauptschule, gibt es für die neunte Klasse die Vorgabe, eine Gedenkstätte zu besuchen. Dabei muss es sich jedoch nicht unbedingt um ein ehemaliges KZ handeln, es könne auch ein anderer Gedenkort für Opfergruppen des Nationalsozialismus sein. Gedenkstätten seien “in besonderer Weise dazu geeignet, fachliche Inhalte der historisch-politischen Bildung über konkrete Anschauung und die dort erfahrbare Authentizität zu vertiefen.”
Baden-Württemberg, Hessen, Sachsen-Anhalt und Sachsen teilen mit, dass sie den Besuch einer Gedenkstätte empfehlen. Rheinland-Pfalz stellt den Schulen frei, ob die Schülerinnen und Schüler einmal in ihrer Schullaufbahn einen Gedenk- oder Lernort besuchen, Zeitzeugen beziehungsweise deren Nachfahren sprechen oder an einem regionalgeschichtlichen Unterrichtsprojekt teilnehmen.
Das Bildungsministerium in Mecklenburg-Vorpommern äußert auf Anfrage Bedenken gegenüber einer Verpflichtung. Eine solche Pflicht widerspreche der pädagogischen Freiheit der Lehrkräfte. Zudem würden fachliche, rechtliche und organisatorische Gründe dagegen sprechen.
Die Hamburger Schulbehörde teilt mit, “der politische Wille” sei da, eine Pflicht umzusetzen. Angesichts der steigenden Zahl antisemitischer Vorfälle seit dem 7. Oktober berate man darüber, wie ein verpflichtender Besuch künftig aussehen könne. Skeptisch seien jedoch die Gedenkstätten. Außerdem würden die personellen Kapazitäten in den Gedenkstätten nach aktuellem Stand nicht ausreichen.
Mecklenburg-Vorpommern, das Saarland und Schleswig-Holstein teilten mit, sie würden anlässlich der politischen Lage ihre Ausgaben für die Besuche von Gedenkstätten und andere demokratiepädagogische Maßnahmen für 2024 erhöhen. Zusätzlich zu den erhöhten Mitteln hat der schleswig-holsteinische Landtag vergangenen November einen 10-Punkte-Plan für eine Bildungsoffensive gegen Antisemitismus erstellt. Eine Forderung darin ist, Gedenkstättenfahrten im schulischen Kontext stärker zu fördern. Kira Münsterberg
Die TikTok-Shoah-Gedenk- und Bildungsinitiative will sich künftig auch an Schulen richten. TikTok unterstützt auf seiner Plattform bislang 20 Gedenkstätten weltweit bei ihrer Erinnerungsarbeit – darunter etwa die KZ-Gedenkstätten Dachau, Bergen-Belsen und Mauthausen. Es wäre wünschenswert, dass die Videos auch als Bildungsmaterial im Unterricht zum Einsatz kommen, sagte Medienwissenschaftler Tobias Ebbrecht-Hartmann Table.Media. Er ist Professor an der Hebrew University of Jerusalem, die mit der deutschen Abteilung des Videoportals vom chinesischen Konzern ByteDance und weiteren Partnern 2021 die “Shoah Education and Commemoration Initiative” ins Leben rief.
“Bisher haben Gedenkstätten TikTok vor allem dazu genutzt, um neue Zugänge zu ihren Institutionen und den Geschichten ihrer Gedenkorte zu schaffen”, sagt Ebbrecht-Hartmann. Die entstandenen Videos mit Schülern zu behandeln, sieht er als Chance, Geschichtsvermittlung und digitale Bildung zusammenzubringen. “Gerade ein Fokus auf den Umgang mit Quellen kann die Medienkompetenz stärken.”
Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme war die erste KZ-Gedenkstätte weltweit, die auf TikTok aktiv wurde. Heute hat sie 28.500 Follower. Sie erarbeitet zur Zeit einen Workshop zur Holocaust-Vermittlung auf Social Media. “Ich kann mir vorstellen, dass Schulklassen unsere Beiträge zum Beispiel auf TikTok zur Vor- und Nachbereitung nutzen”, sagt Iris Groschek, Sprecherin der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte, zu der das ehemalige KZ Neuengamme gehört. “Lehrer könnten die Videos zum Ausgangspunkt nehmen, um mit Schülern zu diskutieren, welche Erinnerungsformen in ihren Augen angemessen sind und inwieweit Gedenkorte zur Erinnerung an die Opfer von NS-Verbrechen und ihre Themen Teil des Alltags sein sollten.”
Ebbrecht-Hartmann hat in den vergangenen Wochen in Thüringen und Berlin Lehrerfortbildungen zur Rolle von TikTok im Nahostkrieg angeboten. “Mein Eindruck war, dass immer mehr Lehrer die Plattform in den Unterricht einbeziehen wollen.” Jedoch gebe es großen Schulungsbedarf, wie sie dabei einen kompetenten Umgang mit sozialen Medien vermitteln können. Hier müsse die Politik dringend nachsteuern. Anna Parrisius