Burak Yilmaz geht seit drei Wochen verstärkt an Schulen, diskutiert mit Lehrern und Schülern, auch mit palästinensischen Jugendlichen. Sein Thema: Antisemitismus. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel beschäftigt viele Lehrer, wie sie mit Schülern über den Krieg in Nahost sprechen – und wie sie mit antisemitischen Haltungen umgehen können. Burak Yilmaz hat hierzu viel zu sagen. Seit 15 Jahren arbeitet der heute selbstständige Pädagoge und Autor präventiv mit jungen Menschen, insbesondere mit muslimischen Jugendlichen.
85 Jahre nach den Novemberpogromen 1938 kritisiert Yilmaz, dass Deutschland sich zu sehr auf seiner Erinnerungskultur ausruht. Er selbst bekam in seiner Schulzeit antisemitische Stereotype vermittelt. Der Bildungspolitik schreibt Yilmaz eine unrühmliche Rolle zu. “Schüler lernen weder, wie sie Antisemitismus oder Rassismus erkennen können, noch, wie sie sich in einer entsprechenden Situation verhalten können.”
Im Interview plädiert Yilmaz akut für mehr Fortbildungen und Austauschformate für Lehrkräfte. Er räumt auf mit dem Vorurteil, muslimische Jugendliche hätten keinen Bezug zum Holocaust. Und er plädiert für einen anspruchsvollen Spagat: Pädagogen sollten bei antisemitische Aussagen sofort eingreifen, gleichzeitig aber nicht in Vorurteile gegen Muslime verfallen.
Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht
Herr Yilmaz, Sie engagieren sich seit vielen Jahren gegen Antisemitismus. Was machen Sie seit dem 7. Oktober 2023?
Burak Yilmaz: Im Moment bin ich viel in Schulen unterwegs, gebe Vorträge zu Antisemitismus und führe Diskussionen mit Schülern und Lehrkräften.
Das ist sicher herausfordernd. Es kochen bestimmt oft Emotionen hoch. Wie gehen Sie damit um?
Es ist wichtig, dass solche Diskussionen ein Raum für Zweifel und Emotionen sind. Das mache ich am Anfang meines Vortrags deutlich. Ich sage zum Beispiel: “Wir leben gerade in einer Zeit, die mir sehr große Sorgen macht. Und ich weiß nicht, in welche Richtung sich das entwickelt. Obwohl ich seit 15 Jahren zu diesem Thema arbeite, bin auch ich gerade ratlos und fühle mich total hilflos. Ich biete euch jetzt für die nächsten 90 Minuten einen Raum, der für eure Fragen, für eure Zweifel da ist.”
Aber ich mache zugleich klar, dass sich alle in der Diskussion an eine Regel – die einzige Regel – halten müssen: Respekt. Ich sage: “Wir werden unterschiedliche Meinungen haben. Wir können miteinander streiten und eine Kontroverse zulassen. Aber ich will keine Beschimpfungen, keine Beleidigungen.” Bei antisemitischen Aussagen greife ich sofort ein.
Wie gehen Sie konkret in die Diskussion?
Es geht erst mal darum, Vertrauen zu schaffen. Ich frage die Schülerinnen und Schüler erst mal, was sie im Moment am meisten beschäftigt. Die einen haben vielleicht Verwandte in Gaza. Eine israelische Schülerin hat erzählt, dass ihre ältere Schwester eingezogen wird. Ich versuche, Verständnis zu zeigen und zu vermitteln. Und dieses Verständnis versuche ich auch, bei den Schülern zu entwickeln.
Oft erlebe ich, dass sich Jugendliche von vornherein rechtfertigen, dass sie ihre Sätze beginnen mit: “Ich bin kein Rassist, kein Antisemit.” Ich mache dann klar, dass sie sich nicht rechtfertigen müssen und dass ich schon eingreife, wenn ich den Eindruck habe, dass etwas entgleitet, antisemitisch oder rassistisch ist. Das gibt ihnen Sicherheit.
Das klingt sehr friedlich. Was man gerade aus Schulen hört, scheint weniger friedlich zu sein.
Wichtig ist, dass man alle Fragen zulässt und nicht gleich verurteilt. Sonst schaukelt sich schnell etwas hoch. Zum Beispiel beim Thema Solidarität. Viele Jugendliche fragen sich, wieso sie Solidarität mit Israel zeigen sollen, aber nicht mit der palästinensischen Zivilbevölkerung. Das ist doch seine sehr interessante Frage, über die man sprechen muss.
Ich mache dann klar, dass das keine Gegensätze sein müssen, dass es nicht darum geht, ob man auf der einen oder der anderen Seite steht. Und man muss in die Tiefe gehen: Wie definieren wir überhaupt Solidarität, und mit wem sind wir warum solidarisch? Ich ermuntere die Schülerinnen und Schüler, darüber zu diskutieren, auch außerhalb der Schule, in ihrem Umfeld. Das stärkt sie.
In welcher Weise?
Es ist wichtig, dass sich Jugendliche nicht beeinflussen lassen, sondern sich eine eigene Meinung bilden und diese auch vertreten. In meiner eigenen Jugend war ich mal auf einer Demo und habe irgendwann gemerkt, dass ich da eigentlich nicht sein will. Aber ich habe mich nicht getraut, etwas dagegen zu sagen. Vor solchen inneren Ambivalenzen stehen Jugendliche heute noch viel stärker, auch durch die Einflüsse von Social Media.
Hat Antisemitismus an Schulen zugenommen?
Nicht nur an Schulen, Antisemitismus hat gesamtgesellschaftlich zugenommen. Das hat gerade die Mitte-Studie gezeigt, und das zeigt auch der Report der Rias-Meldestelle. Die Grenze des Sagbaren ist verschoben. Heute werden Ressentiments geäußert, die man vor 15 Jahren noch nicht gehört hat. Es wäre sehr verkürzt zu sagen, das sei nur ein Problem der Jugend. Wenn ich in Lehrerfortbildungen und Gesprächen mit Schulleitungen ein Bewusstsein für das Thema schaffen will, stoße ich auch auf antisemitische Haltungen. Sie kommen aus verschiedenen Richtungen.
Können Sie das konkret benennen?
Verbreitet ist zum Beispiel Abwehr-Antisemitismus. Da höre ich oft: “Warum sollen wir uns heute noch mit dieser Geschichte befassen?” Antisemitismus kann auch christlich motiviert sein. Eine Schülerin sagte mir mal: “Ich mag die Juden nicht, weil sie Jesus Christus verraten haben.” Das Mädchen war vielleicht acht Jahre alt, und da frage ich mich: Wo lernt sie so was?
Antisemitismus kann auch islamisch und natürlich islamistisch begründet sein. Aktuell werden dazu viele Verschwörungsmythen geteilt. Viele Menschen machen es sich leider sehr einfach, indem sie mit dem Finger auf den Antisemitismus der anderen zeigen. Aber oft beginnt er im eigenen Kopf.
Haben tatsächlich antisemitische Haltungen zugenommen? Oder ist Antisemitismus lauter geworden?
Ich denke, beides ist der Fall. Und Antisemitismus ist nicht nur lauter, sondern auch selbstbewusster geworden. Seit Jahren steigt die Zahl judenfeindlicher Gewalttaten. Wir müssen darauf schauen, in welche Strukturen diese Gewalt eingebettet ist und aus welchen Strukturen heraus sie entsteht. Das Problem ist: Wir machen Antisemitismus nur an klaren Straftaten fest, aber es sind so viele Ressentiments und Vorurteile in den Köpfen, die nicht als Antisemitismus wahrgenommen und damit relativiert und verharmlost werden.
Welche Ursachen sehen Sie für die Zunahme von Antisemitismus?
Oft höre ich: “Wir haben ja alles weltmeisterlich aufgearbeitet. Wir haben eine tolle Erinnerungskultur.” Dieses Selbstbild ist in der Gesellschaft tief verankert. Es führt dazu, dass wir uns mit Antisemitismus nicht mehr kritisch auseinandersetzen und jeden antisemitischen Vorfall als Einzelfall deklarieren. Aber natürlich haben wir den Holocaust nicht vollständig aufgearbeitet. Antisemitismus existiert weiter in unserer Kultur – in der Literatur, in der Musik, in der Kunst. Und Stereotype werden immer weitergetragen.
Ein Beispiel: In meiner Schulzeit hat meine Klasse eine Kirche besucht, in der eine Schnitzerei mit dem letzten Abendmahl zu sehen war. Judas hatte als einziger zwei Geldsäcke an der Seite. Auf die Frage, wieso nur er, wurde uns erklärt: “Ihr wisst ja, dass die Juden so viel Geld haben.” So etwas speichert sich als Wissen, als vermeintliche Wahrheit ab, obwohl es ein Vorurteil ist.
Haben Schulen beim wachsenden Antisemitismus zu lange weggeschaut?
Ja, vor allem die Bildungspolitik. In den Lehrplänen spielt die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Rassismus keine Rolle. In Schulbüchern wird Antisemitismus in der Vergangenheit dargestellt. Er taucht 1933 auf und ist 1945 wieder verschwunden. Aber das war er natürlich nicht. Wir müssen auch auf die Zeit nach 1945 schauen und den Gegenwartsbezug thematisieren.
Schüler lernen weder, wie sie Antisemitismus oder Rassismus erkennen können, noch, wie sie sich in einer entsprechenden Situation verhalten können. Das sollte ihnen die Schule aber vermitteln. Denn wenn sie die Schule verlassen, sollten sie über das nötige Wissen und die entsprechende Handlungskompetenz verfügen, um reagieren zu können, wenn Sie Zeugen von Antisemitismus werden.
Wieso vermittelt die Schule diese Handlungskompetenz nicht?
Es gibt nicht nur Leerstellen in den Lehrplänen, sondern auch in der Ausbildung von Lehrkräften. In meinem eigenen Lehramtsstudium hatte ich nur eine einzige Vorlesung zur Geschichte des Antisemitismus in Europa: 2.000 Jahre Geschichte in 90 Minuten! Da habe ich nicht gelernt, was ich mache, wenn in der Klasse jemand den Terror der Hamas verherrlicht. Oder wenn mir jemand sagt, dass er sich nicht mit dem Holocaust beschäftigen will.
Mit solchen Problemen können wir Lehrkräfte und Schulen aber nicht allein lassen. Hier müssen wir Lehrkräfte besser ausbilden. Sie müssen mit den Emotionen von Schülern umgehen können, sie müssen wissen, was zu tun ist, wenn Emotionen überkochen. Weil sie das oft nicht wissen, weichen sie Diskussionen über weltpolitische Ereignisse aus. Aber die müssen in den Schulen geführt werden. Das ist Teil von Demokratiebildung. Wenn die in den Schulen ausbleibt, suchen Schüler Antworten in sozialen Medien und landen schnell bei Verschwörungstheorien. Problematisch ist außerdem die Haltung mancher Lehrkräfte.
Inwiefern?
Leider erlebe ich oft, dass die Reaktion von Lehrkräften auf Antisemitismus bei muslimischen Schülerinnen und Schülern Rassismus ist. Das ist ein riesengroßes Problem, denn man kann Antisemitismus nicht bekämpfen, indem man die nächste Minderheit quasi zum Abschuss freigibt. Wie soll ein Lehrer Schüler für den Holocaust sensibilisieren, wenn er doch selber voller Vorurteile gegen Muslime ist? Lehrkräfte brauchen hier eine selbstkritische Haltung.
Was kann man in der aktuellen Situation machen, um Lehrkräfte stärker zu sensibilisieren?
Akut brauchen wir mehr Fortbildungen und Austauschformate für Lehrkräfte. Es hilft schon, mit Kolleginnen und Kollegen darüber zu sprechen, was in ihren Klassen gerade los ist. Und Experten können an Fallbeispielen erklären, wie Lehrer methodisch an das Thema rangehen können. Wie fange ich Emotionen auf? Wie kann ich zu einem Perspektivwechsel anregen? Wie reagiere ich auf antisemitische Äußerungen? Welche Dynamiken spielen sich gerade in den sozialen Medien ab?
Sie sind viele Jahre mit muslimischen Jugendlichen nach Auschwitz gefahren. Wie kam es dazu?
Es gab zwei Anlässe. In dem Jugendzentrum in Duisburg-Marxloh, in dem ich seit 2008 gearbeitet habe, kamen Jugendliche, die den Hitlergruß gezeigt haben und sich antisemitisch geäußert haben. Das war für mich das erste Signal, und ich habe angefangen, mit diesen Jugendlichen über Antisemitismus zu sprechen. Später kamen andere muslimische Jugendliche auf mich zu und erzählten, dass sie von Fahrten zu Gedenkstätten ausgeschlossen wurden. Die Lehrkräfte hätten Sorge, dass sich die Schüler dort antisemitisch verhalten könnten. Und die Lehrkräfte hatten den Ausschluss offenbar auch damit begründet, dass muslimische Jugendliche ja nichts mit dem Holocaust zu tun hätten.
Die Jugendlichen waren sehr wütend. Ich habe dann spontan beschlossen, über das Jugendzentrum mit ihnen nach Auschwitz zu fahren. Daraus hat sich 2012 das Projekt “Junge Muslime in Auschwitz” entwickelt. Bevor wir gefahren sind, haben wir viel Biografiearbeit gemacht, uns lange mit dem Thema Holocaust beschäftigt, und auch mit dem jüdischen Leben heute, in unserer Stadt. Nach der ersten Fahrt ist dann ein Theaterstück entstanden, mit dem wir bundesweit auf Tour waren.
Sie betonen die Biografiearbeit, wieso ist die so wichtig?
Ich höre oft, dass muslimische Jugendliche keinen Bezug hätten zum Holocaust. Aber so ist es nicht. Viele zugewanderte Familien leben schon lange in Deutschland, natürlich haben sie dann auch eine Verbindung zur Geschichte. Und Familien ohne Zuwanderungshintergrund befassen sich heute auch nicht stärker mit dem Thema. Anfang der 80er-Jahre, als die Serie “Holocaust” die Deutschen mit ihrer Täter-Vergangenheit konfrontiert hatte, war das anders. Bis dahin war über das Thema in den meisten Familien geschwiegen worden.
Übrigens haben damals auch viele zugewanderte Familien die Serie gesehen. Viele migrantische Eltern erzählen mir heute, dass sie tatsächlich bis dahin wenig über die deutsche Vergangenheit wussten. Aber die Serie hat etwas mit ihnen gemacht. Viele hatten Angst bekommen, dass es ihnen ähnlich ergehen könnte, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. Aber sie hatten niemanden, mit dem sie darüber reden konnten, weil sie sich gesellschaftlich ausgeschlossen fühlten. Das ist ein Teil in der Biografie vieler zugewanderter Familien, über den sie sich selbst oft nicht bewusst sind. Es ist wichtig, dies aufzuarbeiten.
Aktuell sieht der Haushaltsplan vor, bei der politischen Bildung massiv zu kürzen. Ist das richtig?
Ich finde das unfassbar. Die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage hat ein großes Potenzial, unsere Gesellschaft zu spalten. Wenn Projekte der politischen Bildung gestrichen werden, müssen wir uns darauf gefasst machen, dass wir bald noch schlimmere Zustände haben. Das macht mir Angst. Wir haben eine starke rechte Szene in diesem Land, die sehr gut organisiert und strukturiert ist. Diese Kräfte werden die entstehende Lücke ausfüllen und mehr Menschen auf ihre Seite ziehen.
Vor diesem Hintergrund ist es eine Katastrophe, die Mittel für politische Bildung jetzt zu streichen. Ich würde mir das Gegenteil wünschen, also dass Politik gerade jetzt sagt: Wir werden unsere Demokratie gegen islamistische und rechtsextreme Bewegungen verteidigen. Sie sollte also eher mehr Geld statt weniger in die politische Bildung investieren.
Der 9. November steht vor der Tür. Zeitzeugen der Novemberpogrome von 1938 und den Jahren des Holocausts gibt es kaum noch. Was ist heute wichtig für die Erinnerungskultur?
Wie gesagt, der Blick in die eigene Familie hat bislang kaum eine Rolle gespielt und auch die Frage, welche Rolle der Nationalsozialismus in der eigenen Familie gespielt hat. Unsere Erinnerungskultur muss sich ändern, weil auch unsere Gesellschaft vielfältiger geworden ist. Geschichte mit zu interpretieren und mit zu gestalten, ist ein Ansatz, den ich verfolge.
Erinnerungskultur heißt für mich auch, sich proaktiv für eine gerechtere Gesellschaft für alle einzusetzen. Nicht nur an zwei, drei Gedenktagen im Jahr, sondern jeden Tag. Das ist eine Lebensaufgabe unserer Gesellschaft, die immer im Gedächtnis bleiben sollte.
Burak Yilmaz ist Berater des Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus, Felix Klein. Der 35-Jährige aus Duisburg hat ein Bachelorstudium für das Lehramt absolviert und ist Theaterpädagoge. Seit 2008 arbeitet er in Jugendzentren und engagiert sich in der Prävention gegen Antisemitismus. 2012 hat er das Projekt “Junge Muslime in Auschwitz” initiiert und daraus ein Theaterstück entwickelt, das bis heute in Schulen aufgeführt wird. 2021 erschien sein Buch “Ehrensache – Kämpfen gegen Judenhass”. Für sein Engagement gegen Antisemitismus hat Burak Yilmaz 2018 das Bundesverdienstkreuz bekommen.
Burak Yilmaz geht seit drei Wochen verstärkt an Schulen, diskutiert mit Lehrern und Schülern, auch mit palästinensischen Jugendlichen. Sein Thema: Antisemitismus. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel beschäftigt viele Lehrer, wie sie mit Schülern über den Krieg in Nahost sprechen – und wie sie mit antisemitischen Haltungen umgehen können. Burak Yilmaz hat hierzu viel zu sagen. Seit 15 Jahren arbeitet der heute selbstständige Pädagoge und Autor präventiv mit jungen Menschen, insbesondere mit muslimischen Jugendlichen.
85 Jahre nach den Novemberpogromen 1938 kritisiert Yilmaz, dass Deutschland sich zu sehr auf seiner Erinnerungskultur ausruht. Er selbst bekam in seiner Schulzeit antisemitische Stereotype vermittelt. Der Bildungspolitik schreibt Yilmaz eine unrühmliche Rolle zu. “Schüler lernen weder, wie sie Antisemitismus oder Rassismus erkennen können, noch, wie sie sich in einer entsprechenden Situation verhalten können.”
Im Interview plädiert Yilmaz akut für mehr Fortbildungen und Austauschformate für Lehrkräfte. Er räumt auf mit dem Vorurteil, muslimische Jugendliche hätten keinen Bezug zum Holocaust. Und er plädiert für einen anspruchsvollen Spagat: Pädagogen sollten bei antisemitische Aussagen sofort eingreifen, gleichzeitig aber nicht in Vorurteile gegen Muslime verfallen.
Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht
Herr Yilmaz, Sie engagieren sich seit vielen Jahren gegen Antisemitismus. Was machen Sie seit dem 7. Oktober 2023?
Burak Yilmaz: Im Moment bin ich viel in Schulen unterwegs, gebe Vorträge zu Antisemitismus und führe Diskussionen mit Schülern und Lehrkräften.
Das ist sicher herausfordernd. Es kochen bestimmt oft Emotionen hoch. Wie gehen Sie damit um?
Es ist wichtig, dass solche Diskussionen ein Raum für Zweifel und Emotionen sind. Das mache ich am Anfang meines Vortrags deutlich. Ich sage zum Beispiel: “Wir leben gerade in einer Zeit, die mir sehr große Sorgen macht. Und ich weiß nicht, in welche Richtung sich das entwickelt. Obwohl ich seit 15 Jahren zu diesem Thema arbeite, bin auch ich gerade ratlos und fühle mich total hilflos. Ich biete euch jetzt für die nächsten 90 Minuten einen Raum, der für eure Fragen, für eure Zweifel da ist.”
Aber ich mache zugleich klar, dass sich alle in der Diskussion an eine Regel – die einzige Regel – halten müssen: Respekt. Ich sage: “Wir werden unterschiedliche Meinungen haben. Wir können miteinander streiten und eine Kontroverse zulassen. Aber ich will keine Beschimpfungen, keine Beleidigungen.” Bei antisemitischen Aussagen greife ich sofort ein.
Wie gehen Sie konkret in die Diskussion?
Es geht erst mal darum, Vertrauen zu schaffen. Ich frage die Schülerinnen und Schüler erst mal, was sie im Moment am meisten beschäftigt. Die einen haben vielleicht Verwandte in Gaza. Eine israelische Schülerin hat erzählt, dass ihre ältere Schwester eingezogen wird. Ich versuche, Verständnis zu zeigen und zu vermitteln. Und dieses Verständnis versuche ich auch, bei den Schülern zu entwickeln.
Oft erlebe ich, dass sich Jugendliche von vornherein rechtfertigen, dass sie ihre Sätze beginnen mit: “Ich bin kein Rassist, kein Antisemit.” Ich mache dann klar, dass sie sich nicht rechtfertigen müssen und dass ich schon eingreife, wenn ich den Eindruck habe, dass etwas entgleitet, antisemitisch oder rassistisch ist. Das gibt ihnen Sicherheit.
Das klingt sehr friedlich. Was man gerade aus Schulen hört, scheint weniger friedlich zu sein.
Wichtig ist, dass man alle Fragen zulässt und nicht gleich verurteilt. Sonst schaukelt sich schnell etwas hoch. Zum Beispiel beim Thema Solidarität. Viele Jugendliche fragen sich, wieso sie Solidarität mit Israel zeigen sollen, aber nicht mit der palästinensischen Zivilbevölkerung. Das ist doch seine sehr interessante Frage, über die man sprechen muss.
Ich mache dann klar, dass das keine Gegensätze sein müssen, dass es nicht darum geht, ob man auf der einen oder der anderen Seite steht. Und man muss in die Tiefe gehen: Wie definieren wir überhaupt Solidarität, und mit wem sind wir warum solidarisch? Ich ermuntere die Schülerinnen und Schüler, darüber zu diskutieren, auch außerhalb der Schule, in ihrem Umfeld. Das stärkt sie.
In welcher Weise?
Es ist wichtig, dass sich Jugendliche nicht beeinflussen lassen, sondern sich eine eigene Meinung bilden und diese auch vertreten. In meiner eigenen Jugend war ich mal auf einer Demo und habe irgendwann gemerkt, dass ich da eigentlich nicht sein will. Aber ich habe mich nicht getraut, etwas dagegen zu sagen. Vor solchen inneren Ambivalenzen stehen Jugendliche heute noch viel stärker, auch durch die Einflüsse von Social Media.
Hat Antisemitismus an Schulen zugenommen?
Nicht nur an Schulen, Antisemitismus hat gesamtgesellschaftlich zugenommen. Das hat gerade die Mitte-Studie gezeigt, und das zeigt auch der Report der Rias-Meldestelle. Die Grenze des Sagbaren ist verschoben. Heute werden Ressentiments geäußert, die man vor 15 Jahren noch nicht gehört hat. Es wäre sehr verkürzt zu sagen, das sei nur ein Problem der Jugend. Wenn ich in Lehrerfortbildungen und Gesprächen mit Schulleitungen ein Bewusstsein für das Thema schaffen will, stoße ich auch auf antisemitische Haltungen. Sie kommen aus verschiedenen Richtungen.
Können Sie das konkret benennen?
Verbreitet ist zum Beispiel Abwehr-Antisemitismus. Da höre ich oft: “Warum sollen wir uns heute noch mit dieser Geschichte befassen?” Antisemitismus kann auch christlich motiviert sein. Eine Schülerin sagte mir mal: “Ich mag die Juden nicht, weil sie Jesus Christus verraten haben.” Das Mädchen war vielleicht acht Jahre alt, und da frage ich mich: Wo lernt sie so was?
Antisemitismus kann auch islamisch und natürlich islamistisch begründet sein. Aktuell werden dazu viele Verschwörungsmythen geteilt. Viele Menschen machen es sich leider sehr einfach, indem sie mit dem Finger auf den Antisemitismus der anderen zeigen. Aber oft beginnt er im eigenen Kopf.
Haben tatsächlich antisemitische Haltungen zugenommen? Oder ist Antisemitismus lauter geworden?
Ich denke, beides ist der Fall. Und Antisemitismus ist nicht nur lauter, sondern auch selbstbewusster geworden. Seit Jahren steigt die Zahl judenfeindlicher Gewalttaten. Wir müssen darauf schauen, in welche Strukturen diese Gewalt eingebettet ist und aus welchen Strukturen heraus sie entsteht. Das Problem ist: Wir machen Antisemitismus nur an klaren Straftaten fest, aber es sind so viele Ressentiments und Vorurteile in den Köpfen, die nicht als Antisemitismus wahrgenommen und damit relativiert und verharmlost werden.
Welche Ursachen sehen Sie für die Zunahme von Antisemitismus?
Oft höre ich: “Wir haben ja alles weltmeisterlich aufgearbeitet. Wir haben eine tolle Erinnerungskultur.” Dieses Selbstbild ist in der Gesellschaft tief verankert. Es führt dazu, dass wir uns mit Antisemitismus nicht mehr kritisch auseinandersetzen und jeden antisemitischen Vorfall als Einzelfall deklarieren. Aber natürlich haben wir den Holocaust nicht vollständig aufgearbeitet. Antisemitismus existiert weiter in unserer Kultur – in der Literatur, in der Musik, in der Kunst. Und Stereotype werden immer weitergetragen.
Ein Beispiel: In meiner Schulzeit hat meine Klasse eine Kirche besucht, in der eine Schnitzerei mit dem letzten Abendmahl zu sehen war. Judas hatte als einziger zwei Geldsäcke an der Seite. Auf die Frage, wieso nur er, wurde uns erklärt: “Ihr wisst ja, dass die Juden so viel Geld haben.” So etwas speichert sich als Wissen, als vermeintliche Wahrheit ab, obwohl es ein Vorurteil ist.
Haben Schulen beim wachsenden Antisemitismus zu lange weggeschaut?
Ja, vor allem die Bildungspolitik. In den Lehrplänen spielt die Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Rassismus keine Rolle. In Schulbüchern wird Antisemitismus in der Vergangenheit dargestellt. Er taucht 1933 auf und ist 1945 wieder verschwunden. Aber das war er natürlich nicht. Wir müssen auch auf die Zeit nach 1945 schauen und den Gegenwartsbezug thematisieren.
Schüler lernen weder, wie sie Antisemitismus oder Rassismus erkennen können, noch, wie sie sich in einer entsprechenden Situation verhalten können. Das sollte ihnen die Schule aber vermitteln. Denn wenn sie die Schule verlassen, sollten sie über das nötige Wissen und die entsprechende Handlungskompetenz verfügen, um reagieren zu können, wenn Sie Zeugen von Antisemitismus werden.
Wieso vermittelt die Schule diese Handlungskompetenz nicht?
Es gibt nicht nur Leerstellen in den Lehrplänen, sondern auch in der Ausbildung von Lehrkräften. In meinem eigenen Lehramtsstudium hatte ich nur eine einzige Vorlesung zur Geschichte des Antisemitismus in Europa: 2.000 Jahre Geschichte in 90 Minuten! Da habe ich nicht gelernt, was ich mache, wenn in der Klasse jemand den Terror der Hamas verherrlicht. Oder wenn mir jemand sagt, dass er sich nicht mit dem Holocaust beschäftigen will.
Mit solchen Problemen können wir Lehrkräfte und Schulen aber nicht allein lassen. Hier müssen wir Lehrkräfte besser ausbilden. Sie müssen mit den Emotionen von Schülern umgehen können, sie müssen wissen, was zu tun ist, wenn Emotionen überkochen. Weil sie das oft nicht wissen, weichen sie Diskussionen über weltpolitische Ereignisse aus. Aber die müssen in den Schulen geführt werden. Das ist Teil von Demokratiebildung. Wenn die in den Schulen ausbleibt, suchen Schüler Antworten in sozialen Medien und landen schnell bei Verschwörungstheorien. Problematisch ist außerdem die Haltung mancher Lehrkräfte.
Inwiefern?
Leider erlebe ich oft, dass die Reaktion von Lehrkräften auf Antisemitismus bei muslimischen Schülerinnen und Schülern Rassismus ist. Das ist ein riesengroßes Problem, denn man kann Antisemitismus nicht bekämpfen, indem man die nächste Minderheit quasi zum Abschuss freigibt. Wie soll ein Lehrer Schüler für den Holocaust sensibilisieren, wenn er doch selber voller Vorurteile gegen Muslime ist? Lehrkräfte brauchen hier eine selbstkritische Haltung.
Was kann man in der aktuellen Situation machen, um Lehrkräfte stärker zu sensibilisieren?
Akut brauchen wir mehr Fortbildungen und Austauschformate für Lehrkräfte. Es hilft schon, mit Kolleginnen und Kollegen darüber zu sprechen, was in ihren Klassen gerade los ist. Und Experten können an Fallbeispielen erklären, wie Lehrer methodisch an das Thema rangehen können. Wie fange ich Emotionen auf? Wie kann ich zu einem Perspektivwechsel anregen? Wie reagiere ich auf antisemitische Äußerungen? Welche Dynamiken spielen sich gerade in den sozialen Medien ab?
Sie sind viele Jahre mit muslimischen Jugendlichen nach Auschwitz gefahren. Wie kam es dazu?
Es gab zwei Anlässe. In dem Jugendzentrum in Duisburg-Marxloh, in dem ich seit 2008 gearbeitet habe, kamen Jugendliche, die den Hitlergruß gezeigt haben und sich antisemitisch geäußert haben. Das war für mich das erste Signal, und ich habe angefangen, mit diesen Jugendlichen über Antisemitismus zu sprechen. Später kamen andere muslimische Jugendliche auf mich zu und erzählten, dass sie von Fahrten zu Gedenkstätten ausgeschlossen wurden. Die Lehrkräfte hätten Sorge, dass sich die Schüler dort antisemitisch verhalten könnten. Und die Lehrkräfte hatten den Ausschluss offenbar auch damit begründet, dass muslimische Jugendliche ja nichts mit dem Holocaust zu tun hätten.
Die Jugendlichen waren sehr wütend. Ich habe dann spontan beschlossen, über das Jugendzentrum mit ihnen nach Auschwitz zu fahren. Daraus hat sich 2012 das Projekt “Junge Muslime in Auschwitz” entwickelt. Bevor wir gefahren sind, haben wir viel Biografiearbeit gemacht, uns lange mit dem Thema Holocaust beschäftigt, und auch mit dem jüdischen Leben heute, in unserer Stadt. Nach der ersten Fahrt ist dann ein Theaterstück entstanden, mit dem wir bundesweit auf Tour waren.
Sie betonen die Biografiearbeit, wieso ist die so wichtig?
Ich höre oft, dass muslimische Jugendliche keinen Bezug hätten zum Holocaust. Aber so ist es nicht. Viele zugewanderte Familien leben schon lange in Deutschland, natürlich haben sie dann auch eine Verbindung zur Geschichte. Und Familien ohne Zuwanderungshintergrund befassen sich heute auch nicht stärker mit dem Thema. Anfang der 80er-Jahre, als die Serie “Holocaust” die Deutschen mit ihrer Täter-Vergangenheit konfrontiert hatte, war das anders. Bis dahin war über das Thema in den meisten Familien geschwiegen worden.
Übrigens haben damals auch viele zugewanderte Familien die Serie gesehen. Viele migrantische Eltern erzählen mir heute, dass sie tatsächlich bis dahin wenig über die deutsche Vergangenheit wussten. Aber die Serie hat etwas mit ihnen gemacht. Viele hatten Angst bekommen, dass es ihnen ähnlich ergehen könnte, wenn sie sich nicht an die Regeln halten. Aber sie hatten niemanden, mit dem sie darüber reden konnten, weil sie sich gesellschaftlich ausgeschlossen fühlten. Das ist ein Teil in der Biografie vieler zugewanderter Familien, über den sie sich selbst oft nicht bewusst sind. Es ist wichtig, dies aufzuarbeiten.
Aktuell sieht der Haushaltsplan vor, bei der politischen Bildung massiv zu kürzen. Ist das richtig?
Ich finde das unfassbar. Die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage hat ein großes Potenzial, unsere Gesellschaft zu spalten. Wenn Projekte der politischen Bildung gestrichen werden, müssen wir uns darauf gefasst machen, dass wir bald noch schlimmere Zustände haben. Das macht mir Angst. Wir haben eine starke rechte Szene in diesem Land, die sehr gut organisiert und strukturiert ist. Diese Kräfte werden die entstehende Lücke ausfüllen und mehr Menschen auf ihre Seite ziehen.
Vor diesem Hintergrund ist es eine Katastrophe, die Mittel für politische Bildung jetzt zu streichen. Ich würde mir das Gegenteil wünschen, also dass Politik gerade jetzt sagt: Wir werden unsere Demokratie gegen islamistische und rechtsextreme Bewegungen verteidigen. Sie sollte also eher mehr Geld statt weniger in die politische Bildung investieren.
Der 9. November steht vor der Tür. Zeitzeugen der Novemberpogrome von 1938 und den Jahren des Holocausts gibt es kaum noch. Was ist heute wichtig für die Erinnerungskultur?
Wie gesagt, der Blick in die eigene Familie hat bislang kaum eine Rolle gespielt und auch die Frage, welche Rolle der Nationalsozialismus in der eigenen Familie gespielt hat. Unsere Erinnerungskultur muss sich ändern, weil auch unsere Gesellschaft vielfältiger geworden ist. Geschichte mit zu interpretieren und mit zu gestalten, ist ein Ansatz, den ich verfolge.
Erinnerungskultur heißt für mich auch, sich proaktiv für eine gerechtere Gesellschaft für alle einzusetzen. Nicht nur an zwei, drei Gedenktagen im Jahr, sondern jeden Tag. Das ist eine Lebensaufgabe unserer Gesellschaft, die immer im Gedächtnis bleiben sollte.
Burak Yilmaz ist Berater des Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus, Felix Klein. Der 35-Jährige aus Duisburg hat ein Bachelorstudium für das Lehramt absolviert und ist Theaterpädagoge. Seit 2008 arbeitet er in Jugendzentren und engagiert sich in der Prävention gegen Antisemitismus. 2012 hat er das Projekt “Junge Muslime in Auschwitz” initiiert und daraus ein Theaterstück entwickelt, das bis heute in Schulen aufgeführt wird. 2021 erschien sein Buch “Ehrensache – Kämpfen gegen Judenhass”. Für sein Engagement gegen Antisemitismus hat Burak Yilmaz 2018 das Bundesverdienstkreuz bekommen.