Table.Briefing: Bildung

Niedersachsen-Bilanz + Schulabgänger ohne Perspektive

  • Vize-Ministerpräsidentin Julia Willie Hamburg im Interview
  • Klemm: 50.000 Jugendliche verlassen Schule ohne Abschluss
Liebe Leserin, lieber Leser,

zum Wochenstart blicken wir nach Niedersachsen, wo die SPD vor wenigen Monaten das Kultusministerium räumen musste. Denn nach der Wahl übernahm die neue Vize-Ministerpräsidentin des Landes, Julia Willie Hamburg, das Ressort. Sie war wohl überrascht, als Mitte Februar ausgerechnet eine ihrer Grundschulen bundesweit Schlagzeilen machte. Weil Lehrer fehlten, rief die Leiterin der Schule die Vier-Tage-Woche aus. Hamburg intervenierte sofort. Warum? Das hat sie meinem Kollegen Christian Füller in einem Interview erklärt, in dem sie auch über Niedersachsens ernüchternde Digitalbilanz spricht.

Eigentlich hätte man Julia Willie Hamburg noch mit einer weiteren Zahl konfrontieren müssen: 2021 hatten sechs Prozent der Schulabgänger in ihrem Bundesland keinen Abschluss. Niedersachsen liegt damit genau im Bundesdurchschnitt, wie neue Berechnungen zeigen, die die Bertelsmann-Stiftung heute veröffentlicht. Der Bildungsökonom Klaus Klemm dokumentiert, dass die Bildungsarmut in Deutschland seit 10 Jahren stagniert. Jedes Jahr fallen 50.000 Jugendliche durchs Raster.

Einen ARD-Brennpunkt wird es dennoch nicht geben; genauso wenig einen nationalen Bildungsgipfel, der seinen Namen wirklich verdient. Ob die Kultusminister bei ihrer Konferenz nächste Woche in Berlin reagieren, bleibt abzuwarten.

Bis dahin, können Sie sich bei uns informieren. Ich wünsche eine gute Lektüre!

Ihr
Moritz Baumann
Bild von Moritz  Baumann

Interview

“Der Digitalpakt 2 muss Geld für Schülertablets enthalten”

Niedersachsen Digitalpakt Julia Willie Hamburg
Schulministerin Julia Willie Hamburg (Bündnis 90/Die Grünen)

Frau Hamburg, haben Sie Ihre Lehrerinnen und Lehrer schon festgebunden?

Julia Willie Hamburg: An den Schulen? Nein, wozu sollte ich das tun!

Weil Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sie Ihnen abjagen will. Mit einer Umzugs- und einer Gehalts-Prämie wirbt er anderen Bundesländern die Lehrkräfte ab. 

Wir werden sehen, ob sowas am Ende tatsächlich funktioniert. Unsere Erfahrung in Niedersachsen ist, dass Prämien nicht automatisch dazu beitragen, dass Leute ihren Wohnort wechseln.

Sieht man daran nicht auch, wie unwichtig Beschlüsse der Kultusminister und ihrer Konferenz, der KMK, sind? 

Ich finde, das sieht eher wie Aktionismus aus, der dem Wahlkampf in Bayern geschuldet ist.

Nun, Sie, die Kultusminister, hatten beschlossen, sich Lehrer nicht gegenseitig abspenstig zu machen. Markus Söder ist das egal.

Meine Überzeugung bleibt, dass wir gut daran tun, uns nicht gegenseitig die Lehrkräfte wegzunehmen. Denn wir haben ein gemeinsames und vor allem gravierendes Problem.

Ärgert es Sie als stellvertretende Ministerpräsidentin, dass Sie als Schulministerin etwas beschließen – und einer ihrer Kollegen Ministerpräsidenten dann reingrätscht? 

Es erschwert den Prozess der guten Zusammenarbeit der KultusministerInnen, um gemeinsam Lösungen gegen den Lehrermangel zu finden. Insofern ist das nicht hilfreich. Ich bin aber erstmal dankbar, dass die anderen Länder nicht in diesen Überbietungswettbewerb einsteigen. Das hätte ja auch passieren können. 

Weil wir gerade auf der Bundesebene sind: Wie lange wollen Sie der Ministerin für Bildung in Berlin noch dabei zuschauen, wie sie das solide Bildungskapitel im Koalitions-Vertrag verstolpert? 

Ich bin drei Monate im Amt. Ich kann nicht als erste Amtshandlung sagen, ich weiß alles besser als die Bundesministerin. Das ist nicht meine Art.

“Die Digitalisierung können Länder und Kommunen nicht alleine schultern”

Frau Stark-Watzinger will den zweiten Digitalpakt schneller machen. Was schlagen Sie Ihrer Kollegin vor?

Auf der einen Seite zu schauen, wie das Geld besser ankommt und auf der anderen Seite, wie wir Schwerpunkte und damit auf mehr Nachhaltigkeit setzen können.

Können Sie sagen, was das bedeutet?

Wir wollen nachhaltige Strukturen sichern. Das, was wir jetzt anschaffen, wird irgendwann veraltet sein. Es braucht also Mechanismen, wie die Digitalisierung von Schulen dauerhaft finanzierbar ist – gerade für die Schulträger. Die Kommunen wollen da keine Gelder investieren, wo sie befürchten müssen, dass sie in zehn Jahren dauerhaft auf den Folgekosten sitzen bleiben. Das ist etwas, was wir beantworten müssen. 

Mit anderen Worten, der Bund soll sich zu einer Dauerfinanzierung der Digitalisierung verpflichten.

Ja, denn eine derart gigantische Aufgabe wie die Digitalisierung können Länder und Kommunen nicht alleine schultern. Unser gemeinsames zentrales Ziel dabei ist es, zunächst einmal die Schulen alle digital auf den Stand der Zeit zu bringen. Niedersachsen möchte zudem gerne Schülerinnen und Schüler mit digitalen Endgeräten versorgen. Darauf haben wir uns im Koalitionsvertrag festgelegt. Natürlich wird das dann auch eine Position sein, die wir gegenüber dem Bund vertreten. Das heißt, das Thema Lernmittelbeschaffung gehört auf die Tagesordnung des Digitalpakts.

Im Digitalpakt 2 sollte ein Budget für Schülertablets enthalten sein? 

Ja, auf jeden Fall – vorausgesetzt, die Basis-Infrastruktur steht. Im Koalitionsvertrag steht, dass wir den Einsatz digitaler Endgeräte für Menschen mit geringem Einkommen absichern wollen. Ein Tablet zu haben, ist heute eine Frage gesellschaftlicher Teilhabe. Insofern müssen wir miteinander diskutieren, wie das gehen kann. Ein Tablet zu beschaffen, ist für Schülerinnen und Schüler und gerade für Eltern mit geringem Einkommen nicht einfach. Manchmal unmöglich.

“Es bringt nichts, wenn ich über dem Land Laptops ausschütte”

Verzeihung, aber das klingt nicht besonders glaubwürdig. Sie haben in Niedersachsen fast eine Milliarde Euro des Digitalpakts noch nicht abgerufen – und fordern vom Bund schon neues Geld für Schüler-Tablets. 

Es geht eben um unterschiedliche Zwecke: das eine ist für die digitale Infrastruktur. Das andere ist für Endgeräte. Es bringt nichts, wenn ich über dem Land Laptops für Schülerinnen und Schüler ausschütte – aber am Ende hat die Schule noch keine digitale Infrastruktur wie zuverlässiges WLan und schnelles Netz.

Ich stelle Ihnen mal die Frage eines Schülers, den ich gerade im Landtag getroffen habe. “Warum müssen wir denn jetzt am Gymnasium in Osnabrück unsere Tablets selber bezahlen?”, fragt er. Und das, obwohl in Niedersachsen Millionen Digitalpaktmittel des Bundes ungenutzt herumliegen. 

Der Hintergrund ist, dass die Kommunen mit den Geldern aus diesem Basis-Digitalpakt schon planen und arbeiten. Sie wollen und müssen damit grundsätzliche infrastrukturelle Vorhaben umsetzen. Wir erleben übrigens, dass gerade jetzt eine unglaubliche Dynamik in die Beantragung gekommen ist. Das war ja in der Anfangsphase relativ zäh. 

Sie erkennen da eine Bewegung, die ich nicht sehe, Frau Hamburg. Im Basis-Digitalpakt, der seit 2019 läuft, hat Niedersachsen erst 15,7 Prozent seiner Bundesmittel beansprucht. Vom Digitalpakt für IT-Administratoren exakt 0,2 Prozent. 

Wir sehen die Bewegung auch deswegen, weil die Kommunen wissen, dass sie – um bis zum Zeitpunkt X anzufangen – die Mittel bald beantragt haben müssen. Da sind wohl einige, die auf den letzten Drücker loslegen. Aber dann richtig!

“Ernüchternde” Digitalpakt-Bilanz

Frau Hamburg, die Antragsfrist endet bereits 2024!

Ich habe den Eindruck, dass viele Schulträger es so konzipiert haben, dass sie es schaffen, in den Fristen alles Wichtige zu beantragen. Entscheidend ist ja übrigens auch nicht der Mittelabfluss, sondern die Höhe der bereits bewilligten Anträge. Und hier liegen wir mit gut 276 Millionen Euro bei knapp 60 Prozent. Uns muss es aber natürlich darum gehen, dass überall in Niedersachsen die Schulen entsprechend digital grundausgestattet sind. Das heißt, unser Fokus muss auch darauf liegen, dass es bei den Kommunen ankommt und dass da die Grundausstattung der Schulen stattfindet. Erst dann können wir mit anderen Themen darauf aufbauen.

Sind Sie zufrieden damit, dass Niedersachsen eine so kümmerliche Digitalpakt-Bilanz hat? 

Digitalisierung gehört mittlerweile fest zu Schule und dafür sind die Zahlen ernüchternd. Das kann man festhalten. Wir diskutieren deswegen gerade auch, wie wir den Mittel-Abfluss beschleunigen können. Es gibt Gespräche mit den Kommunen, wie das gehen kann. Wir werden also dafür sorgen, dass die Mittel des Digitalpakts schneller und flächendeckend an den Schulen ankommen. 

Niedersachsen hat Furore gemacht, weil eine Grundschule eine Vier-Tage-Woche verkündete. 

Da hat eine Schule für bundesweites Aufsehen gesorgt. Weil sie in eine Debatte hinein gestoßen ist, die gerade geführt wird. Die Schule hatte gar nicht intendiert, sich daran zu beteiligen. Die Schule hat selbst nie von einer Vier-Tage-Woche gesprochen oder das als Konzept angedacht.

Hamburg schließt flächendeckende Vier-Tage-Woche aus

Aber das ist doch keine Debatte, die Lehrkräfte dort fehlen real. 

Ja, die Grundschule selbst hatte einen kurzfristigen Ausfall dreier Lehrkräfte. Deshalb hatte sie für einen kurzen Zeitraum als befristete Notmaßnahme geplant, jeden Jahrgang einmal pro Woche mit dem Angebot einer Notbetreuung zu Hause zu lassen. So lange bis Vertretungslehrkräfte eingestellt werden konnten. Wir haben umgehend interveniert beziehungsweise unterstützt und konnten andere Lösungen finden. Die sind mittlerweile auch umgesetzt. Es gibt an dieser Schule keine Vier-Tage-Woche. Schon am Tag danach wurde die andere Lösung den Eltern kommuniziert. 

Sie haben das als Ministerin verhindert. Müssen Sie jetzt bei jeder Grundschule höchstpersönlich den Lehrermangel beheben?

Nein, das war ein Grundsatzbeschluss von mir: In Niedersachsen wird es keine Vier-Tage-Woche geben. Das wird kein pädagogisches, auf Dauer angelegtes Konzept. Das Land plant so etwas nicht im Umgang mit dem Lehrermangel – und hat es auch nicht geplant. 

Sie sind sich wirklich sicher, dass Sie auch künftig genug Lehrer auf die Matte bringen, um eine volle Fünf-Tages-Schulwoche garantieren zu können?

Dass es auch in Niedersachsen Fachkräftemangel gibt, ist mir sehr bewusst. Dass wir aber flächendeckend zu einer Vier-Tage-Woche greifen, um Lehrkräfte zu sparen – das ist nicht vorgesehen. Insbesondere nicht an Grundschulen, wo Verlässlichkeit einen ganz anderen Wert hat, als es an weiterführenden Schulen der Fall ist.

Konzepte wie der Frei-Day scheitern am Lehrermangel

Soll das heißen, an Sekundarschulen könnte es kommen?

Es ist nicht geplant. Und ich werde jetzt auch nicht von oben herab Maßnahmen verkünden. Mitte März treffe ich mich mit den Fachverbänden der Lehrkräfte, Gewerkschaften und der Bildung zu einem Kongress. Mir ist wichtig, dass wir miteinander abwägen, welche Schritte sinnvoll sind. Aber klar ist: Der Fachkräftemangel wird die nächsten zehn, 20 Jahre andauern. Da können wir nicht dem Zufall überlassen, was an Schulen passiert. Wir müssen das bestmöglich steuern. Das sind keine schönen Debatten, aber wir haben sie wenigstens in der Hand. 

Nochmal zu den Sekundarstufen der Schulen: Was ist dort anders als an der Grundschule in Bezug auf den Lehrermangel?

Man muss unterscheiden, ob Kinder schon selbst lernen und auf sich aufpassen können. Oder ob sie das noch nicht können. 

Das bedeutet: Schüler, die schon alt genug sind, sollen sich in bestimmten Phasen selber beschäftigen – etwa, wenn keine Lehrer da sind.

Mein Problem ist, dass wir reformorientierte Ansätze im Moment gar nicht sinnvoll diskutieren können. Das wird sofort mit dem Fachkräftemangel verbunden. Selbstlernzeiten, Projektlernen, Frei-Day: Das sind wichtige pädagogische Ansätze für eigenständiges Lernen und so sollten sie auch betrachtet werden.

  • Bettina Stark-Watzinger
  • Digitalpakt
  • Lehrermangel
  • Markus Söder

Wie autonom sollte die Schule der Zukunft sein? Diese und andere Fragen diskutiert Bildung.Table-Redaktionsleiter Moritz Baumann am 13. März mit Cordula Heckmann (Leiterin, Rütli-Campus Berlin), Dr. Thomas de Maizière (Vorsitzender, Deutsche Telekom Stiftung) und Udo Michallik (Generalsekretär, KMK). Jetzt anmelden.

Analyse

Kein Abschluss, keine Perspektive

Es ist wieder einmal der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm, der das Versagen der deutschen Bildungspolitik dokumentiert. 2021 hatten sechs Prozent der Schulabgänger keinen Abschluss in der Tasche. Das sind 50.000 Jugendliche, die nur mit Mühe einen Ausbildungsbetrieb finden. Und die Quote – das ist das Erschreckende – stagniert seit 10 Jahren, wie Klemm in einer aktuellen Auswertung für die Bertelsmann-Stiftung zeigt (zum Download).

10 Jahre kein Fortschritt. Das ist die Bilanz. Dabei hatten sich die Kultusminister schon 2008 beim Dresdner Bildungsgipfel darauf geeinigt, die Quote von 8 auf 4 Prozent zu halbieren – bis 2015. Stattdessen erwartet Klemm in den kommenden Jahren noch mehr Schüler ohne Abschluss. Eine Spätfolge der Pandemie, sagt er und spricht von einer “mehr als beunruhigenden Vergeudung menschlicher Potenziale”.

Schularten: Fast die Hälfte der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss kam 2020 von einer Förderschule. Deutlich weniger gingen auf eine Hauptschule (13 Prozent), eine Gesamtschule (20) oder eine Realschule, ans Gymnasium oder auf eine Waldorfschule (6). “Es braucht mehr gemeinsamen Unterricht im inklusiven Schulsystem und allgemeinbildende Schulen müssen dann auch besser ausgestattet werden”, sagt Klemm.

Bundesländer: Die Quote der Schulabgänger ohne Abschluss liegt in Bremen bei zehn Prozent, in Bayern dagegen bei nur fünf Prozent, was Klemm maßgeblich mit dem hohen Anteil an armen und bildungsfernen Familien in der Hansestadt erklärt. Sogar innerhalb einzelner Bundesländer sind die Unterschiede immens. Teilweise schwankt die Quote je nach Landkreis um den Faktor sieben. “Genauso wie in Bremen, Hamburg und Berlin sollten die Kultusminister bundesweit Sozialindikatoren nutzen und in sozial schwächeren Regionen mehr Lehrer einsetzen“, fordert Klemm.

Lesen Sie auch: Länder ringen um Abkehr vom Königsteiner Schlüssel

Ost-West-Vergleich: Hier zeigt sich, dass in den östlichen Bundesländern mehr Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen, wobei sie sich den West-Bundesländern seit 2011 immer weiter angleichen. Klemm hat daher ergänzend Daten des IQB-Bildungstrends hinzugezogen, die zeigen, wie viele Schüler die Mindeststandards für den Hauptschulabschluss erreichen. Das Ergebnis: Im Osten erreichten mehr Schüler die Mindeststandards als einen Abschluss. Im Westen ist es umgekehrt.

“In den östlichen Bundesländern packen die Lehrkräfte offenbar strenger zu als es erforderlich wäre”, sagt Klemm, während es in den westlichen Ländern leichter sei, den Abschluss zu erhalten. Doch damit hilft man den Jugendlichen nicht unbedingt. “Wir wissen: Jugendliche brechen eine Ausbildung dann ab, wenn sie mit der Theorie nicht klarkommen”, erklärt Klemm.

Hintergrund: Nach der Definition sind Schulabgänger ohne Abschluss überwiegend keine Schulabbrecher. Vielmehr sind es Jugendliche, die nach Ende der Schulpflicht die Schule einfach ohne bestandene Abschlussprüfungen verlassen. In allen Bundesländern haben die Jungen ein höheres Risiko, genauso wie Jugendliche mit ausländischem Pass. Die KMK erhebt keine bundesweiten Daten zum Migrationshintergrund. Dabei sollten die Ministerien gerade diese Gruppe von Jugendlichen in den Blick nehmen, meint Klemm und ergänzt: “Die Schulen müssen viel mehr für die Sprachförderung tun.”

***

Für Dirk Zorn, Programmleiter bei der Bertelsmann-Stiftung, ist die Bildungskrise insgesamt auch eine Datenkrise. Schulen müssten digitale Möglichkeiten nutzen, um die Kompetenzentwicklung aller Schüler systematisch in den Blick zu nehmen. “Nur so können wir Rückstände unmittelbar erkennen und bedürftige Kinder intensiv fördern”, sagt er. Gerade bei Jugendlichen, die drohen, die Schule ohne Abschluss zu verlassen, dürften Bildungspolitik und -praxis nicht länger “im Blindflug” reagieren.

Denn das hat gravierende Folgen für den Arbeitsmarkt. Daten des Nationalen Bildungspanels zeigen, dass nur ein Drittel der Jugendlichen mit und ohne Hauptschulabschluss vier Jahre nach Ende ihrer Schulzeit eine Ausbildung abgeschlossen hat. Ohne abgeschlossene Ausbildung versechsfacht sich das Risiko, in die Arbeitslosigkeit zu rutschen.

Dennoch, so Zorn, leiteten die meisten Länder den Jobcentern keine vollumfänglichen Daten über die Jugendlichen zu, obwohl sie die Schülerdatennorm eigentlich gesetzlich dazu verpflichtet. “Das tun bisher nur Hamburg und Bremen“, sagt der Bertelsmann-Forscher. Fünf weitere Bundesländer meldeten einmalig, wenn ein Schüler keinen Schulabschluss erreicht. Die Agentur für Arbeit kann dann eine Beratung anbieten. Doch oft liegen die Probleme so tief, dass eigentlich die Sozialbehörden tätig werden müssten. Das geschieht regelmäßig nicht, weshalb tausende Jugendliche jedes Jahr durchs Raster fallen.

  • Hauptschule
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    • Vize-Ministerpräsidentin Julia Willie Hamburg im Interview
    • Klemm: 50.000 Jugendliche verlassen Schule ohne Abschluss
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    zum Wochenstart blicken wir nach Niedersachsen, wo die SPD vor wenigen Monaten das Kultusministerium räumen musste. Denn nach der Wahl übernahm die neue Vize-Ministerpräsidentin des Landes, Julia Willie Hamburg, das Ressort. Sie war wohl überrascht, als Mitte Februar ausgerechnet eine ihrer Grundschulen bundesweit Schlagzeilen machte. Weil Lehrer fehlten, rief die Leiterin der Schule die Vier-Tage-Woche aus. Hamburg intervenierte sofort. Warum? Das hat sie meinem Kollegen Christian Füller in einem Interview erklärt, in dem sie auch über Niedersachsens ernüchternde Digitalbilanz spricht.

    Eigentlich hätte man Julia Willie Hamburg noch mit einer weiteren Zahl konfrontieren müssen: 2021 hatten sechs Prozent der Schulabgänger in ihrem Bundesland keinen Abschluss. Niedersachsen liegt damit genau im Bundesdurchschnitt, wie neue Berechnungen zeigen, die die Bertelsmann-Stiftung heute veröffentlicht. Der Bildungsökonom Klaus Klemm dokumentiert, dass die Bildungsarmut in Deutschland seit 10 Jahren stagniert. Jedes Jahr fallen 50.000 Jugendliche durchs Raster.

    Einen ARD-Brennpunkt wird es dennoch nicht geben; genauso wenig einen nationalen Bildungsgipfel, der seinen Namen wirklich verdient. Ob die Kultusminister bei ihrer Konferenz nächste Woche in Berlin reagieren, bleibt abzuwarten.

    Bis dahin, können Sie sich bei uns informieren. Ich wünsche eine gute Lektüre!

    Ihr
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    “Der Digitalpakt 2 muss Geld für Schülertablets enthalten”

    Niedersachsen Digitalpakt Julia Willie Hamburg
    Schulministerin Julia Willie Hamburg (Bündnis 90/Die Grünen)

    Frau Hamburg, haben Sie Ihre Lehrerinnen und Lehrer schon festgebunden?

    Julia Willie Hamburg: An den Schulen? Nein, wozu sollte ich das tun!

    Weil Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sie Ihnen abjagen will. Mit einer Umzugs- und einer Gehalts-Prämie wirbt er anderen Bundesländern die Lehrkräfte ab. 

    Wir werden sehen, ob sowas am Ende tatsächlich funktioniert. Unsere Erfahrung in Niedersachsen ist, dass Prämien nicht automatisch dazu beitragen, dass Leute ihren Wohnort wechseln.

    Sieht man daran nicht auch, wie unwichtig Beschlüsse der Kultusminister und ihrer Konferenz, der KMK, sind? 

    Ich finde, das sieht eher wie Aktionismus aus, der dem Wahlkampf in Bayern geschuldet ist.

    Nun, Sie, die Kultusminister, hatten beschlossen, sich Lehrer nicht gegenseitig abspenstig zu machen. Markus Söder ist das egal.

    Meine Überzeugung bleibt, dass wir gut daran tun, uns nicht gegenseitig die Lehrkräfte wegzunehmen. Denn wir haben ein gemeinsames und vor allem gravierendes Problem.

    Ärgert es Sie als stellvertretende Ministerpräsidentin, dass Sie als Schulministerin etwas beschließen – und einer ihrer Kollegen Ministerpräsidenten dann reingrätscht? 

    Es erschwert den Prozess der guten Zusammenarbeit der KultusministerInnen, um gemeinsam Lösungen gegen den Lehrermangel zu finden. Insofern ist das nicht hilfreich. Ich bin aber erstmal dankbar, dass die anderen Länder nicht in diesen Überbietungswettbewerb einsteigen. Das hätte ja auch passieren können. 

    Weil wir gerade auf der Bundesebene sind: Wie lange wollen Sie der Ministerin für Bildung in Berlin noch dabei zuschauen, wie sie das solide Bildungskapitel im Koalitions-Vertrag verstolpert? 

    Ich bin drei Monate im Amt. Ich kann nicht als erste Amtshandlung sagen, ich weiß alles besser als die Bundesministerin. Das ist nicht meine Art.

    “Die Digitalisierung können Länder und Kommunen nicht alleine schultern”

    Frau Stark-Watzinger will den zweiten Digitalpakt schneller machen. Was schlagen Sie Ihrer Kollegin vor?

    Auf der einen Seite zu schauen, wie das Geld besser ankommt und auf der anderen Seite, wie wir Schwerpunkte und damit auf mehr Nachhaltigkeit setzen können.

    Können Sie sagen, was das bedeutet?

    Wir wollen nachhaltige Strukturen sichern. Das, was wir jetzt anschaffen, wird irgendwann veraltet sein. Es braucht also Mechanismen, wie die Digitalisierung von Schulen dauerhaft finanzierbar ist – gerade für die Schulträger. Die Kommunen wollen da keine Gelder investieren, wo sie befürchten müssen, dass sie in zehn Jahren dauerhaft auf den Folgekosten sitzen bleiben. Das ist etwas, was wir beantworten müssen. 

    Mit anderen Worten, der Bund soll sich zu einer Dauerfinanzierung der Digitalisierung verpflichten.

    Ja, denn eine derart gigantische Aufgabe wie die Digitalisierung können Länder und Kommunen nicht alleine schultern. Unser gemeinsames zentrales Ziel dabei ist es, zunächst einmal die Schulen alle digital auf den Stand der Zeit zu bringen. Niedersachsen möchte zudem gerne Schülerinnen und Schüler mit digitalen Endgeräten versorgen. Darauf haben wir uns im Koalitionsvertrag festgelegt. Natürlich wird das dann auch eine Position sein, die wir gegenüber dem Bund vertreten. Das heißt, das Thema Lernmittelbeschaffung gehört auf die Tagesordnung des Digitalpakts.

    Im Digitalpakt 2 sollte ein Budget für Schülertablets enthalten sein? 

    Ja, auf jeden Fall – vorausgesetzt, die Basis-Infrastruktur steht. Im Koalitionsvertrag steht, dass wir den Einsatz digitaler Endgeräte für Menschen mit geringem Einkommen absichern wollen. Ein Tablet zu haben, ist heute eine Frage gesellschaftlicher Teilhabe. Insofern müssen wir miteinander diskutieren, wie das gehen kann. Ein Tablet zu beschaffen, ist für Schülerinnen und Schüler und gerade für Eltern mit geringem Einkommen nicht einfach. Manchmal unmöglich.

    “Es bringt nichts, wenn ich über dem Land Laptops ausschütte”

    Verzeihung, aber das klingt nicht besonders glaubwürdig. Sie haben in Niedersachsen fast eine Milliarde Euro des Digitalpakts noch nicht abgerufen – und fordern vom Bund schon neues Geld für Schüler-Tablets. 

    Es geht eben um unterschiedliche Zwecke: das eine ist für die digitale Infrastruktur. Das andere ist für Endgeräte. Es bringt nichts, wenn ich über dem Land Laptops für Schülerinnen und Schüler ausschütte – aber am Ende hat die Schule noch keine digitale Infrastruktur wie zuverlässiges WLan und schnelles Netz.

    Ich stelle Ihnen mal die Frage eines Schülers, den ich gerade im Landtag getroffen habe. “Warum müssen wir denn jetzt am Gymnasium in Osnabrück unsere Tablets selber bezahlen?”, fragt er. Und das, obwohl in Niedersachsen Millionen Digitalpaktmittel des Bundes ungenutzt herumliegen. 

    Der Hintergrund ist, dass die Kommunen mit den Geldern aus diesem Basis-Digitalpakt schon planen und arbeiten. Sie wollen und müssen damit grundsätzliche infrastrukturelle Vorhaben umsetzen. Wir erleben übrigens, dass gerade jetzt eine unglaubliche Dynamik in die Beantragung gekommen ist. Das war ja in der Anfangsphase relativ zäh. 

    Sie erkennen da eine Bewegung, die ich nicht sehe, Frau Hamburg. Im Basis-Digitalpakt, der seit 2019 läuft, hat Niedersachsen erst 15,7 Prozent seiner Bundesmittel beansprucht. Vom Digitalpakt für IT-Administratoren exakt 0,2 Prozent. 

    Wir sehen die Bewegung auch deswegen, weil die Kommunen wissen, dass sie – um bis zum Zeitpunkt X anzufangen – die Mittel bald beantragt haben müssen. Da sind wohl einige, die auf den letzten Drücker loslegen. Aber dann richtig!

    “Ernüchternde” Digitalpakt-Bilanz

    Frau Hamburg, die Antragsfrist endet bereits 2024!

    Ich habe den Eindruck, dass viele Schulträger es so konzipiert haben, dass sie es schaffen, in den Fristen alles Wichtige zu beantragen. Entscheidend ist ja übrigens auch nicht der Mittelabfluss, sondern die Höhe der bereits bewilligten Anträge. Und hier liegen wir mit gut 276 Millionen Euro bei knapp 60 Prozent. Uns muss es aber natürlich darum gehen, dass überall in Niedersachsen die Schulen entsprechend digital grundausgestattet sind. Das heißt, unser Fokus muss auch darauf liegen, dass es bei den Kommunen ankommt und dass da die Grundausstattung der Schulen stattfindet. Erst dann können wir mit anderen Themen darauf aufbauen.

    Sind Sie zufrieden damit, dass Niedersachsen eine so kümmerliche Digitalpakt-Bilanz hat? 

    Digitalisierung gehört mittlerweile fest zu Schule und dafür sind die Zahlen ernüchternd. Das kann man festhalten. Wir diskutieren deswegen gerade auch, wie wir den Mittel-Abfluss beschleunigen können. Es gibt Gespräche mit den Kommunen, wie das gehen kann. Wir werden also dafür sorgen, dass die Mittel des Digitalpakts schneller und flächendeckend an den Schulen ankommen. 

    Niedersachsen hat Furore gemacht, weil eine Grundschule eine Vier-Tage-Woche verkündete. 

    Da hat eine Schule für bundesweites Aufsehen gesorgt. Weil sie in eine Debatte hinein gestoßen ist, die gerade geführt wird. Die Schule hatte gar nicht intendiert, sich daran zu beteiligen. Die Schule hat selbst nie von einer Vier-Tage-Woche gesprochen oder das als Konzept angedacht.

    Hamburg schließt flächendeckende Vier-Tage-Woche aus

    Aber das ist doch keine Debatte, die Lehrkräfte dort fehlen real. 

    Ja, die Grundschule selbst hatte einen kurzfristigen Ausfall dreier Lehrkräfte. Deshalb hatte sie für einen kurzen Zeitraum als befristete Notmaßnahme geplant, jeden Jahrgang einmal pro Woche mit dem Angebot einer Notbetreuung zu Hause zu lassen. So lange bis Vertretungslehrkräfte eingestellt werden konnten. Wir haben umgehend interveniert beziehungsweise unterstützt und konnten andere Lösungen finden. Die sind mittlerweile auch umgesetzt. Es gibt an dieser Schule keine Vier-Tage-Woche. Schon am Tag danach wurde die andere Lösung den Eltern kommuniziert. 

    Sie haben das als Ministerin verhindert. Müssen Sie jetzt bei jeder Grundschule höchstpersönlich den Lehrermangel beheben?

    Nein, das war ein Grundsatzbeschluss von mir: In Niedersachsen wird es keine Vier-Tage-Woche geben. Das wird kein pädagogisches, auf Dauer angelegtes Konzept. Das Land plant so etwas nicht im Umgang mit dem Lehrermangel – und hat es auch nicht geplant. 

    Sie sind sich wirklich sicher, dass Sie auch künftig genug Lehrer auf die Matte bringen, um eine volle Fünf-Tages-Schulwoche garantieren zu können?

    Dass es auch in Niedersachsen Fachkräftemangel gibt, ist mir sehr bewusst. Dass wir aber flächendeckend zu einer Vier-Tage-Woche greifen, um Lehrkräfte zu sparen – das ist nicht vorgesehen. Insbesondere nicht an Grundschulen, wo Verlässlichkeit einen ganz anderen Wert hat, als es an weiterführenden Schulen der Fall ist.

    Konzepte wie der Frei-Day scheitern am Lehrermangel

    Soll das heißen, an Sekundarschulen könnte es kommen?

    Es ist nicht geplant. Und ich werde jetzt auch nicht von oben herab Maßnahmen verkünden. Mitte März treffe ich mich mit den Fachverbänden der Lehrkräfte, Gewerkschaften und der Bildung zu einem Kongress. Mir ist wichtig, dass wir miteinander abwägen, welche Schritte sinnvoll sind. Aber klar ist: Der Fachkräftemangel wird die nächsten zehn, 20 Jahre andauern. Da können wir nicht dem Zufall überlassen, was an Schulen passiert. Wir müssen das bestmöglich steuern. Das sind keine schönen Debatten, aber wir haben sie wenigstens in der Hand. 

    Nochmal zu den Sekundarstufen der Schulen: Was ist dort anders als an der Grundschule in Bezug auf den Lehrermangel?

    Man muss unterscheiden, ob Kinder schon selbst lernen und auf sich aufpassen können. Oder ob sie das noch nicht können. 

    Das bedeutet: Schüler, die schon alt genug sind, sollen sich in bestimmten Phasen selber beschäftigen – etwa, wenn keine Lehrer da sind.

    Mein Problem ist, dass wir reformorientierte Ansätze im Moment gar nicht sinnvoll diskutieren können. Das wird sofort mit dem Fachkräftemangel verbunden. Selbstlernzeiten, Projektlernen, Frei-Day: Das sind wichtige pädagogische Ansätze für eigenständiges Lernen und so sollten sie auch betrachtet werden.

    • Bettina Stark-Watzinger
    • Digitalpakt
    • Lehrermangel
    • Markus Söder

    Wie autonom sollte die Schule der Zukunft sein? Diese und andere Fragen diskutiert Bildung.Table-Redaktionsleiter Moritz Baumann am 13. März mit Cordula Heckmann (Leiterin, Rütli-Campus Berlin), Dr. Thomas de Maizière (Vorsitzender, Deutsche Telekom Stiftung) und Udo Michallik (Generalsekretär, KMK). Jetzt anmelden.

    Analyse

    Kein Abschluss, keine Perspektive

    Es ist wieder einmal der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm, der das Versagen der deutschen Bildungspolitik dokumentiert. 2021 hatten sechs Prozent der Schulabgänger keinen Abschluss in der Tasche. Das sind 50.000 Jugendliche, die nur mit Mühe einen Ausbildungsbetrieb finden. Und die Quote – das ist das Erschreckende – stagniert seit 10 Jahren, wie Klemm in einer aktuellen Auswertung für die Bertelsmann-Stiftung zeigt (zum Download).

    10 Jahre kein Fortschritt. Das ist die Bilanz. Dabei hatten sich die Kultusminister schon 2008 beim Dresdner Bildungsgipfel darauf geeinigt, die Quote von 8 auf 4 Prozent zu halbieren – bis 2015. Stattdessen erwartet Klemm in den kommenden Jahren noch mehr Schüler ohne Abschluss. Eine Spätfolge der Pandemie, sagt er und spricht von einer “mehr als beunruhigenden Vergeudung menschlicher Potenziale”.

    Schularten: Fast die Hälfte der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss kam 2020 von einer Förderschule. Deutlich weniger gingen auf eine Hauptschule (13 Prozent), eine Gesamtschule (20) oder eine Realschule, ans Gymnasium oder auf eine Waldorfschule (6). “Es braucht mehr gemeinsamen Unterricht im inklusiven Schulsystem und allgemeinbildende Schulen müssen dann auch besser ausgestattet werden”, sagt Klemm.

    Bundesländer: Die Quote der Schulabgänger ohne Abschluss liegt in Bremen bei zehn Prozent, in Bayern dagegen bei nur fünf Prozent, was Klemm maßgeblich mit dem hohen Anteil an armen und bildungsfernen Familien in der Hansestadt erklärt. Sogar innerhalb einzelner Bundesländer sind die Unterschiede immens. Teilweise schwankt die Quote je nach Landkreis um den Faktor sieben. “Genauso wie in Bremen, Hamburg und Berlin sollten die Kultusminister bundesweit Sozialindikatoren nutzen und in sozial schwächeren Regionen mehr Lehrer einsetzen“, fordert Klemm.

    Lesen Sie auch: Länder ringen um Abkehr vom Königsteiner Schlüssel

    Ost-West-Vergleich: Hier zeigt sich, dass in den östlichen Bundesländern mehr Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen, wobei sie sich den West-Bundesländern seit 2011 immer weiter angleichen. Klemm hat daher ergänzend Daten des IQB-Bildungstrends hinzugezogen, die zeigen, wie viele Schüler die Mindeststandards für den Hauptschulabschluss erreichen. Das Ergebnis: Im Osten erreichten mehr Schüler die Mindeststandards als einen Abschluss. Im Westen ist es umgekehrt.

    “In den östlichen Bundesländern packen die Lehrkräfte offenbar strenger zu als es erforderlich wäre”, sagt Klemm, während es in den westlichen Ländern leichter sei, den Abschluss zu erhalten. Doch damit hilft man den Jugendlichen nicht unbedingt. “Wir wissen: Jugendliche brechen eine Ausbildung dann ab, wenn sie mit der Theorie nicht klarkommen”, erklärt Klemm.

    Hintergrund: Nach der Definition sind Schulabgänger ohne Abschluss überwiegend keine Schulabbrecher. Vielmehr sind es Jugendliche, die nach Ende der Schulpflicht die Schule einfach ohne bestandene Abschlussprüfungen verlassen. In allen Bundesländern haben die Jungen ein höheres Risiko, genauso wie Jugendliche mit ausländischem Pass. Die KMK erhebt keine bundesweiten Daten zum Migrationshintergrund. Dabei sollten die Ministerien gerade diese Gruppe von Jugendlichen in den Blick nehmen, meint Klemm und ergänzt: “Die Schulen müssen viel mehr für die Sprachförderung tun.”

    ***

    Für Dirk Zorn, Programmleiter bei der Bertelsmann-Stiftung, ist die Bildungskrise insgesamt auch eine Datenkrise. Schulen müssten digitale Möglichkeiten nutzen, um die Kompetenzentwicklung aller Schüler systematisch in den Blick zu nehmen. “Nur so können wir Rückstände unmittelbar erkennen und bedürftige Kinder intensiv fördern”, sagt er. Gerade bei Jugendlichen, die drohen, die Schule ohne Abschluss zu verlassen, dürften Bildungspolitik und -praxis nicht länger “im Blindflug” reagieren.

    Denn das hat gravierende Folgen für den Arbeitsmarkt. Daten des Nationalen Bildungspanels zeigen, dass nur ein Drittel der Jugendlichen mit und ohne Hauptschulabschluss vier Jahre nach Ende ihrer Schulzeit eine Ausbildung abgeschlossen hat. Ohne abgeschlossene Ausbildung versechsfacht sich das Risiko, in die Arbeitslosigkeit zu rutschen.

    Dennoch, so Zorn, leiteten die meisten Länder den Jobcentern keine vollumfänglichen Daten über die Jugendlichen zu, obwohl sie die Schülerdatennorm eigentlich gesetzlich dazu verpflichtet. “Das tun bisher nur Hamburg und Bremen“, sagt der Bertelsmann-Forscher. Fünf weitere Bundesländer meldeten einmalig, wenn ein Schüler keinen Schulabschluss erreicht. Die Agentur für Arbeit kann dann eine Beratung anbieten. Doch oft liegen die Probleme so tief, dass eigentlich die Sozialbehörden tätig werden müssten. Das geschieht regelmäßig nicht, weshalb tausende Jugendliche jedes Jahr durchs Raster fallen.

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