Table.Briefing: Bildung

Mehr Zeit für Ganztag + Streit um Digitalpakt und Lehrerfortbildung + Nahost-Konflikt im Unterricht

Liebe Leserin, lieber Leser,

wird 2026 jeder Erstklässler wie geplant ein Recht auf Ganztagsbetreuung haben? Wer sich das zuletzt nicht mehr so recht vorstellen konnte, den wird eine Forderung, die die Ministerpräsidenten auf ihrer Jahreskonferenz in Leipzig beschließen wollen, kaum überraschen.

Geht es nach ihnen, sollen die Kommunen zwei Jahre mehr Zeit für die Finanzierung bekommen. Und machen damit eine neue Baustelle auf. Wie das im Bund aufgenommen wird und wie der Ganztagsschulverband und die Kommunen eine mögliche Verschiebung bewerten, hat Thorsten Denkler für Sie aufgeschrieben.

Eine andere bildungspolitische Baustelle können Sie in unserer zweiten Analyse besuchen: den Digitalpakt II. Unser neuer Autor Ralf Pauli greift eine Forderung von Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger nach einer umfangreichen Fortbildungsverpflichtung auf.

Im Text erfahren Sie, wie es um die Pflicht zu Lehrerfortbildungen in den Ländern bestellt ist und wie relevant Fortbildungen aus Forschersicht sind. Und: Nicht nur die Qualifizierung der Lehrkräfte ist wichtig.

Ich wünsche Ihnen eine gute Tour über alle Baustellen!

Ihre
Anna Parrisius
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Analyse

Ganztag: Warum die Länder plötzlich mehr Zeit vom Bund fordern

Die Forderung der Ministerpräsidenten ist präzise formuliert: Sie wollen für das Mammutprojekt Ganztagsausbau mehr Zeit vom Bund. Das geht aus einer Beschlussvorlage hervor, die die Ministerpräsidenten auf ihrer laufenden Jahreskonferenz in Leipzig annehmen wollen. 

Wenn möglich sollen demnach die im Ganztagsfinanzhilfegesetz (GaFinHG) festlegten Fristen um zwei Jahre verschoben werden. Es soll den Kommunen dann bis Ende 2028 möglich sein, Fördergeld vom Bund für Investitionen in den Ganztag bewilligt zu bekommen. Die neuen Anbauten, Mensen und Küchen müssten dann bis Ende 2029 fertiggestellt sein.

Personalnot verzögert Ganztagsausbau

Die Begründung klingt plausibel: Der Fachkräftemangel sorgt für Personalnot auch im Bau- und Planungswesen. Außerdem habe sich der Bund mit dem Scharfstellen der Verwaltungsvereinbarung Investitionsprogramm Ganztagsausbau” zu viel Zeit gelassen. Das Gesetz sei bereits im Herbst 2021 von der schwarz-roten-Vorgängerregierung beschlossen worden. Die Verwaltungsvereinbarung trat aber erst im Mai 2023 in Kraft. Es sei daher bereits mit Beginn der Förderprogramme in den Ländern absehbar, dass die Fristen des Gesetzes “nicht eingehalten werden können”, heißt es in der Beschlussvorlage.

Der MPK-Beschluss ist für den Bund nicht bindend. Geprüft werden soll das Anliegen aber, ist aus der Bundesregierung zu hören. Allerdings sind die beiden beteiligten Ministerien unterschiedlich offen für eine Fristverlängerung.

Paus offen für Fristverlängerung

Im Forschungs- und Bildungsministerium von Bettina Stark-Watzinger (FDP) treibt die Sorge um, eine Fristverlängerung könnte de facto dazu führen, den ab 2026 geltenden Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in Grundschulen aufzuweichen. Wie sollen Eltern den Rechtsanspruch einklagen können, wenn sich die Kommunen länger als geplant Zeit lassen dürfen, die baulichen und personellen Voraussetzungen zu schaffen? 

Im Familienministerium von Ministerin Lisa Paus (Grüne) wird die Sorge nicht geteilt. Da gibt es großes Verständnis für die Nöte der Kommunen. Der Beschluss der MPK solle jedenfalls zum Anlass genommen werden “mit den Ländern ins Gespräch zu kommen”, heißt es aus Regierungskreisen.

Kein klares Bild im Bundestag

Sollte sich der Bund auf die MPK-Forderung einlassen, liefe das wohl auf eine Änderung des GaFinHG hinaus. Eine klare Haltung ist unter den Ampel-Parteien bisher nicht erkennbar. Die zuständige Grünen-Abgeordnete Franziska Krumwiede-Steiner sagt, am Ende des Tages sei es wichtig, “dass die Maßnahmen vor Ort umsetzbar sind”. Wenn die Länder deutliche Signale senden und eine Fristverlängerung im Ganztagshilfegesetz fordern, “sollte der Bund diese Möglichkeit prüfen”. Entscheidend sei, “dass der Rechtsanspruch auf Ganztag auch gut umsetzbar ist”.

Etwas anders klingt es aus den Reihen der SPD. Bildungspolitikerin Jasmine Hostert sagt, sie und ihre Fraktion verstünden zwar, dass die Rahmenbedingungen gerade schwierig seien. Sie wolle die Kommunen auch “nicht überfordern”. Aus ihrer Perspektive aber “muss es allen ein Anliegen sein, dass wir solche Strukturstärkungen nicht auf die lange Bank schieben“. 

Der Ganz­tags­schul­ver­ban­d sähe es lieber, wenn nichts mit “der heißen Nadel gestrickt” werde, sagt Verbandsvorsitzende Eva Rei­ter. Eine Verlängerung diene der Planungssicherheit. Sie eröffne “die Chance, dass nichts überstürzt, unausgegoren geplant und gebaut werden muss”. Im besten Fall gebe es genug Zeit, um Schulen, Kooperationspartner, Lehrkräfte, pädagogisches Personal, Eltern, Schüler einbinden zu können. Die Gefahr für den Rechtsanspruch will sie aber nicht wegwischen. “An seiner Realisierung darf nicht gerüttelt werden”, warnt Reiter.

Kommunen: Länder nicht unschuldig

Es gibt aber auch Kritik an den Ländern, nötige Regelungen verschleppt zu haben und jetzt auf Fristverlängerungen pochen. In Nordrhein-Westfalen etwa fühlen sich die Städte und Gemeinden von der regierenden schwarz-grünen Koalition im Stich gelassen, ist vom NRW-Städtetag zu hören. Entgegen der Zusage im Koalitionsvertrag habe die Landesregierung bisher kein Ausführungsgesetz für den Ganztag an Schulen in NRW vorgelegt. Die Kommunen fürchten, dass sie “auf den Kosten und Risiken für den Ganztagsausbau sitzenbleiben” werden.

Fast drei Milliarden Euro stellt der Bund für den Ausbau der Ganztagsbetreuung an Grundschulen bis Ende 2027 bereit. Das Investitionsprogramm steht in engem Zusammenhang mit dem Rechtsanspruch auf Ganztags für Kinder im Grundschulalter. Ab dem Schuljahr 2026/27 gilt der Rechtsanspruch für Kinder ab der 1. Klassenstufe. Danach geht es schrittweise weiter, bis im Schuljahr 2029/30 alle Kinder der Klassenstufen eins bis vier einen Anspruch haben.

Der Bedarf wächst, die Zeit drängt

Die Zeit drängt, selbst wenn die Frist für die Finanzierung verlängert werden würde. Zum einen steigt der Bedarf. In vielen Kommunen gibt es Wartelisten für Ganztagsplätze an Grundschulen. Eltern drängen darauf, Familie und Beruf besser unter einen Hut bringen zu können. Ganz zu schweigen von der vom jüngsten PISA-Schock erhärteten Erkenntnis, dass der Ganztag pädagogisch mehr als angeraten ist, wie Bildungsforscher mahnen. 

Es wird zwar gerne darauf verwiesen, dass es bereits heute fast flächendeckend Ganztagsangebote gebe. Aber das ist ein ungeordneter Flickenteppich, wie Experten sagen. Und: eben auch nur fast. Nach der jüngsten Ganztagsschulstatistik der KMK konnten im Schuljahr 2021/2022 knapp 18 Prozent der Grundschulen den Eltern gar kein Angebot für Ganztagsbetreuung machen.

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Digitalpakt II: Warum die Lehrerfortbildung das Vorhaben gefährdet

Für eine Einigung auf den Digitalpakt II müssen Bund und Länder noch dicke Bretter bohren. Allen voran in der Finanzierung. Das Bundesbildungsministerium (BMBF) beharrt auf einer 50-prozentigen Beteiligung der Länder. Diese sind dazu jedoch nur dann bereit, wenn ihre bisherigen Investitionen in digitale Schulen vollumfassend angerechnet werden.

Als Stolperstein für einen schnellen Kompromiss könnte sich noch eine weitere Bundesforderung herausstellen. Geht es nach Ministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), müssen sich die Länder mit Start des Digitalpaktes II verpflichten, alle Lehrkräfte für digitales Lehren und Lernen fortzubilden. Und zwar 30 Stunden pro Jahr. Die Länder wollen sich hier ungern reinreden lassen. Entsprechend zurückhaltend äußert sich die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Christine Streichert-Clivot (SPD): “Die Kultusministerkonferenz sieht die Lehrkräftefortbildung traditionell in der Zuständigkeit der Länder”, sagt sie zu Table.Briefings.

KMK: Konkrete Vorgaben “nicht praktikabel”

Zwar setzt auch die KMK auf Fortbildungen. In allen Ländern sind Lehrkräfte verpflichtet, sich stetig fortzubilden. Die Kontrolle aber obliegt in der Regel den Schulleitungen. Vorgaben zum zeitlichen Umfang hält Streichert-Clivot für “nicht praktikabel”. Begründung: Die Wirksamkeit hängt von zu vielen Faktoren ab. Also etwa davon, ob es für jede Lehrkraft passgenaue Formate und Inhalte gibt, wie die Unterstützung der Schulleitungen aussieht und wie hoch die Eigenmotivation der Lehrkräfte ist.

Ähnlich sieht es die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig, Koordinatorin der SPD-geführten Länder in der KMK: “Wir halten eine bundeseinheitliche Verpflichtung an dieser Stelle nicht für zielführend”, sagt Hubig. Eine feste Stundenzahl bringe einen “enormen bürokratischen Mehraufwand” mit sich.

Sowohl Streichert-Clivot als auch Hubig berichten von einer hohen Motivation der Lehrkräfte, sich auch ohne feste Vorgaben fortzubilden. Eine Umfrage von Table.Briefings unter den Schulministerien zeigt jedoch, dass sich nicht alle Ministerien an die KMK-Linie halten. Fünf Länder schreiben derzeit explizit vor, wie viel Zeit ihre Lehrkräfte allgemein pro Schuljahr in Fortbildungen investieren müssen.

Fünf Länder scheren aus

  • In Bayern sind (innerhalb von vier Jahren) zwölf Fortbildungstage à fünf Stunden nachzuweisen.
  • In Berlin sind es zehn Stunden pro Schuljahr.
  • In Bremen und Hamburg sind es 30 Stunden, an Hamburger Berufsschulen 45 Stunden.
  • In Mecklenburg-Vorpommern ist die Teilnahme an mindestens einem schulinternen Fortbildungstag Pflicht.

Die übrigen elf Bundesländer legen keinen zeitlichen Umfang für Fortbildungen fest. Mit inhaltlichen Vorgaben halten sich die Länder noch stärker zurück. Eine Pflicht, sich etwa regelmäßig mit dem Einsatz digitaler Medien auseinandersetzen, wie es der Bund fordert, gibt es bislang nirgends.

Ziel: gemeinsame Standards

Die Potsdamer Bildungsforscherin Katharina Scheiter wünscht sich mehr Verbindlichkeit. Scheiter ist Professorin für Digitale Bildung und Co-Leiterin der sogenannten Transferstelle im Kompetenzverbund lernen:digital. Das Projekt, das der Bund für zweieinhalb Jahre (die Transferstelle für 3,5 Jahre) mit insgesamt 205 Millionen Euro fördert, soll die Lehrkräftefortbildung rund um digitalen Unterricht auf den neuesten Stand der Forschung und anschließend in die Anwendung bringen.

Dazu ist Scheiter im regelmäßigen Austausch mit Ministerien und den Landesinstituten für Lehrerfortbildung und Schulentwicklung. Ein Ziel: länderübergreifende Standards etablieren. Auch in Programmen wie “QuaMath” entwickeln die Länder gemeinsame Fortbildungsangebote.

Lesen Sie auch: QuaMath – Wie viele Schulen beim Start in die Praxis dabei sind

“Wir wissen mittlerweile sehr genau, welche Qualitätsstandards wir bei Fortbildungen anlegen müssen”, sagt Scheiter. So würden derzeit vor allem modulare Fortbildungen konzipiert. In der Forschung sei es Konsens, dass auf einzelne Themen spezialisierte Fortbildungen wenig brächten.

“Seminare zu digitalen Medien adressieren oft sehr konkrete Unterrichtssituationen, etwa wie eine Lehrkraft ChatGPT in den Unterricht einbindet”, erklärt Scheiter. Für tiefergehende Kompetenzen müssten Lehrkräfte Seminare besuchen, die aus mehreren aufeinander aufbauenden Einheiten besteht. Sofern die Personalsituation an Schulen dies überhaupt zulässt.

Forscherin beklagt fehlendes Monitoring

Als großes Hindernis für ein gutes, flächendeckendes Fortbildungsangebot sieht Scheiter das fehlende Monitoring. An der internationalen OECD-Studie TALIS (Teaching and Learning International Survey), die in regelmäßigen Abständen die Fortbildungsroutine von Lehrkräften abfragt, nimmt Deutschland nicht teil.

“Es wird hierzulande leider nicht systematisch erfasst, welche Bedarfe oder Barrieren Lehrkräfte bei Fortbildungen haben”, sagt Scheiter. Von persönlich zugeschnittenen didaktischen Fortbildungsangeboten, wie sie PISA-Vorbild Estland derzeit erprobt, sei Deutschland “noch sehr weit entfernt”.

Auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) sieht Handlungsbedarf. In ihrem Ende 2023 veröffentlichten Gutachten forderte das Beratergremium der KMK “eine datenbasierte Angebotsplanung auf der Grundlage einer systematischen Erfassung individueller, schulischer und schulübergreifender Bedarfe”. Weiter mahnten die SWK-Experten “eine systematische Qualitätssicherung hinsichtlich der Gewinnung von Fortbildenden” an.

Train-the-Trainer-Prinzip

Wie wichtig die ist, bekräftigt die Lehrerausbilderin Carola Junghans von der Universität Oldenburg. Die Pädagogin bildet bundesweit jene fort, die selbst Lehrkräfte fortbilden. “Ausbildung der Ausbildenden” nennt sie das Konzept. Ein Curriculum, das Junghans zusammen mit Kollegen für Ausbilder an Studienseminaren entwickelt hat, wendet das Niedersächsische Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung seit 2016 an.

Andere Länder bieten unter dem Begriff “train the trainer” ähnliche Seminare an. Das Problem: Für Lehrkräfte, die vom Schulunterricht in die Lehreraus- und fortbildung wechseln, besteht nicht in allen Ländern die Pflicht, sich dafür extra zu qualifizieren. “Die Vorgaben sind teils sehr unterschiedlich”, berichtet Junghans.

Ein Versäumnis, das es eigentlich nicht geben dürfte. In einem KMK-Eckpunktepapier von 2020 heißt es: “Für die Durchführung von Fortbildungsmaßnahmen sind die Dozentinnen und Dozenten […] angemessen methodisch-didaktisch, fachlich-inhaltlich sowie technisch zu qualifizieren.” Weiteren Handlungsbedarf erkennen die Bildungsminister aber aktuell nicht. Bleibt dies so, dürfte es knifflig werden für den Digitalpakt II. Kommenden Dienstag wollen Bund und Länder weiterverhandeln.

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News

Wie Habecks Deutschlandfonds die Bildung adressiert

Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) adressiert mit seinem am Mittwoch präsentierten Konzept für einen Deutschlandfonds auch die Bildung. Eine zweite Säule des möglichen Fonds soll Geld für Infrastruktur, Bildung und Digitalisierung bereitstellen. In dem Papier heißt es: “Ob Energie- und Kommunikationsnetze, Verkehrswege oder Bildungseinrichtungen – öffentliche Infrastrukturen sind die Lebensadern unserer Wirtschaft und Gesellschaft und essenzieller Teil des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks.”

Schätzung: 70 Milliarden Euro Investitionsstau

Bis 2030 müssten Schätzungen zufolge mehr als 70 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen in Bildung und Forschung fließen, um “Rückstände bei Kita-, Schul- und Hochschulgebäuden”, aufzuholen. Hinzu kämen “umfangreiche zusätzliche Ausgaben für notwendiges Betreuungs- und Bildungspersonal“. Damit könne “die Grundlage” für den “Wohlstand der Zukunft” gelegt werden.

Die Berechnung fußt nach Angaben des BMWK auf einer Studie des “Dezernat Zukunft – Institut für Makrofinanzen” zum öffentlichen Finanzbedarf “für die Modernisierung Deutschlands”, die im September erschienen ist. Sie summiert die zusätzlichen öffentlichen Finanzbedarfe “zur Erreichung breit akzeptierter Ziele bis 2030” nur für die Bildung in Bund, Ländern und Kommunen über alle Bereiche hinweg sogar auf 127 Milliarden Euro. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat in ihrem jüngsten Kommunalpanel den Investitionsrückstau allein in den Kommunen und nur für Schulgebäude mit 54,8 Milliarden Euro angegeben. Thorsten Denkler

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Lehrplan: Wie Lehrkräfte den Nahostkonflikt behandeln müssen

Nur Bayern und Baden-Württemberg haben den Nahostkonflikt als Pflichtthema im Lehrplan verankert, jeweils im Geschichtsunterricht. Das ergibt eine Umfrage von Table.Briefings, auf die alle Bildungsministerien der Länder antworteten.

  • In Bayern ist die Entwicklung des Nahostkonflikts fester Bestandteil des Geschichtsunterrichts in Jahrgangsstufe 10 an der Realschule und in der 13. Klasse des Gymnasiums.
  • Baden-Württemberg sieht die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts im Kontext der Dekolonialisierung als verpflichtendes Thema für den Geschichtsunterricht in Klasse neun, zehn oder der Oberstufe vor.

In den anderen Bundesländern steht das Thema nicht verpflichtend im Lehrplan. Lehrkräfte können den Nahostkonflikt stattdessen wahlweise, meist als ein Beispiel für einen internationalen Konflikt im Geschichts- oder Politikunterricht, behandeln. Für Bremen teilte eine Sprecherin der Bildungssenatorin mit, der Nahostkonflikt sei “selbstverständlich Gegenstand der pädagogischen Arbeit an allen Schulen”, da in den Fächern Politik und Gesellschaft Aktualität eines der didaktischen Grundprinzipien sei.

KMK-Präsidentin hält “exemplarisches Lernen” für wichtig

Aus Hamburg heißt es, die Schulen forderten “ein hinreichendes Maß eigenständiger Gestaltungsmöglichkeiten”, auch aufgrund der Heterogenität der Schülerschaft im Stadtstaat. Nur die Hälfte der Unterrichtszeit sei in den von 2020 bis 2023 überarbeiteten Lehrplänen daher durch Pflichtthemen abgedeckt. Zum Beispiel im Modul “Internationale Konflikte” könnten die Lehrkräfte den Nahostkonflikt behandeln. Eine explizite Aufnahme des Konflikts sei daher “nicht erforderlich”. Mehrere Länder schreiben, sie sähen darüber hinaus thematische Anknüpfungspunkte in vielen Fächern, etwa auch im Ethik- oder Religionsunterricht, in Geografie oder Deutsch.

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) sagte Table.Briefings, in den Lehrplänen sei der Umgang mit Kriegen und internationalen Konflikten fest verankert. Dabei gehe es aber immer um exemplarisches Lernen, bei dem wir eine ganzheitliche Perspektive einnehmen müssen”. In Zeiten, in denen Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus zunehme, sei es wichtig, Ursachen von Konflikten und Kriegen zu thematisieren, um das Bewusstsein der Schüler für die komplexen Zusammenhänge zu schärfen.

Shai Hoffmann: Viele Betroffene suchen Orientierung bei Lehrkräften

Der Bildungsaktivist Shai Hoffmann fordert, den Nahostkonflikt verpflichtend im Lehrplan zu politischer Bildung zu verankern. Im Nahen Osten würden noch über Jahrzehnte Folgen des 7. Oktobers spürbar sein. In den Schulklassen säßen viele Betroffene, die bei ihren Lehrkräften Orientierung suchen, die sie zu Hause oft nicht bekommen”, sagt er. Deutschland könne das Thema als postmigrantische Gesellschaft nicht aussparen. Hoffmann, ein Deutsch-Jude mit israelischen Wurzeln, hat nach dem 7. Oktober 2023 “Trialoge” mit der Deutsch-Palästinenserin Jouanna Hassoun an Schulen gestartet. Bis Jahresende soll das Format bundesweit etwa 120 Schulen erreicht haben. Anna Parrisius

Lesen Sie auch: Krieg in Nahost: Wie Lehrkräfte über ihn sprechen können

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Ausbildung: Wie der Kanzler und Siemens indische Fachkräfte locken

Die Siemens Stiftung sowie Siemens Limited in Indien und mit Pratham eine der größten Bildungsstiftungen Indiens haben an diesem Donnerstag in Neu-Delhi das Projekt “STEM Education for Innovation: Experimento India” gestartet, gab die Siemens-Stiftung bekannt.

Grundlage wird das internationale MINT-Bildungsprogramm Experimento der Siemens Stiftung sein, das bereits in zwölf Ländern auf drei Kontinenten eingesetzt wird. Es soll jetzt an die Bedürfnisse indischer Schüler angepasst werden und ist auf die MINT-Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zugeschnitten.

Deutsch-indische Regierungskonsultationen starten

Derzeit ist eine deutsche Regierungsdelegation unter der Leitung von Bundeskanzler Olaf Scholz auf einer dreitägigen Reise in Indien unterwegs. Dabei sind auch Arbeitsmininister Hubertus Heil, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger.

Auf der To-Do-Liste der deutsch-indischen Regierungskonsultationen, die an diesem Freitag in Neu-Delhi mit Ministerpräsident Narendra Modi und seinem Kabinett beginnen, stehen auch Fragen der Fachkräftegewinnung. Vergangene Woche hatte das Bundeskabinett eine Strategie zur leichteren Anwerbung von indischen Fachkräften beschlossen.

Damit die Anwerbung erfolgreich ist, umfasst die Strategie

  • eine bessere Vermittlung in passende Jobs,
  • mehr Unterstützung im Spracherwerb,
  • eine effizientere Anerkennung von Berufsqualifikationen,
  • moderne Verwaltungsverfahren sowie
  • eine gestärkte Willkommenskultur in Deutschland.

Die Strategie soll der indischen Regierung an diesem Freitag vorgestellt werden.

Arbeitsminister Heil sagt vor der Abreise: “In Indien kommen pro Monat eine Million Menschen zusätzlich auf den Arbeitsmarkt.” Das bevölkerungsreichste Land der Welt sei damit ein “idealer Partner”. Thorsten Denkler

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Edtech-Awards: Welches Start-up ins Finale zieht

Das interaktive Schulbuch SchuBu hat den deutsch-österreichischen Vorentscheid für die Global EdTech Startup Awards (GESA) gewonnen. Das Start-up aus Österreich hat sich damit auf dem EdTech Next Summit in Bielefeld für das Finale des weltweit größten Start-up-Wettbewerbs für Bildungstechnologien qualifiziert. Das Finale findet im Januar in London statt.

Den zweiten Platz hat DigiReporter belegt, ein datenschutzkonformes Redaktionssystem aus Deutschland, mit dem Schüler Schulzeitungen erstellen können. Der dritte Platz ging an die in Frankfurt ansässige Online-Universität Tomorrow University.

“SchuBu hat das beste Gesamtpaket präsentiert und auch international Möglichkeiten für Expansion“, begründete die Jury ihre Entscheidung. Sie bewertete unter anderem das Potenzial auf dem Markt, aber auch den pädagogischen Ansatz. Acht Start-ups waren für den Vorentscheid nominiert (wir berichteten). Die ersten drei Plätze dürfen an einem Bootcamp für Start-ups teilnehmen. SchuBu wird sein Produkt im Januar auf der weltweit größten Bildungsmesse BETT einer internationalen Jury vortragen. Vera Kraft

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Bertelsmann-Studie: Junge Menschen interessieren sich für Wirtschaftsthemen

Ein Großteil der 14- bis 25-Jährigen wünscht sich mehr Wirtschaftsthemen an Schulen. Das zeigt eine repräsentative Umfrage unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die die Bertelsmann Stiftung am Donnerstag veröffentlicht hat. Demnach wünschen sich fast vier von fünf Befragten, dass Themen wie Rente, Weiterbildung oder Bezahlung eine größere Rolle im Unterricht spielen.

Die Studie legt auch nahe, dass Wirtschaftsthemen an Schulen zu kurz kommen. So tut sich rund jeder zweite Befragte schwer damit, tagesaktuelle Wirtschaftsnachrichten zu verstehen. Ebensoviele finden, dass Wirtschaftsnachrichten häufig zu kompliziert seien. Erst im September zeigte eine Untersuchung in allen Bundesländern, wie groß der Nachholbedarf in der ökonomischen Bildung an weiterführenden Schulen ist.

Wirtschaftsthemen wichtig für junge Menschen

Die Umfrage der Bertelsmann Stiftung zeigt indes ein großes Interesse junger Menschen an Wirtschaftsthemen. Das trifft besonders auf Themen zu, die sie persönlich betreffen. So wollen 81 Prozent der Befragten mehr über die berufliche Weiterentwicklung und das Lernen nach der Schule wissen. Ähnlich groß ist das Interesse an Fragen zur Finanzierung des Lebens im Rentenalter (79 Prozent), der Chancengleichheit in Bildung und Beruf (78 Prozent) sowie an Work-Life-Balance (77 Prozent).

Wie die Autoren der Studie schreiben, gibt es große Unterschiede nach Geschlecht und Bildungsniveau. Demnach befassen sich junge Männer (63 Prozent) generell lieber mit Wirtschaftsthemen als junge Frauen (44 Prozent). Allerdings trifft diese Diskrepanz nicht auf alle wirtschaftliche Themen in gleichem Maße zu: An der Lohnlücke zwischen den Geschlechtern (Gender Pay Gap) zeigen sich deutlich mehr Frauen als Männer interessiert.

Wirtschaft gehört zur Demokratie

Der Bildungsabschluss hat der Studie zufolge Einfluss auf das Interesse an Wirtschaftsthemen, wenn auch keinen großen. Personen mit mittleren und höheren Abschlüssen haben ein geringfügig stärkeres Interesse an Wirtschaftsthemen als Personen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen.

Ein überraschender Befund: Mit dem Bildungsgrad steigt der Eindruck, nicht ausreichend in wirtschaftspolitischen Entscheidungen berücksichtigt zu werden. “Junge Menschen fordern mehr Mitsprache bei Themen, die sie betreffen”, sagt Sandra Zillinger, Expertin der BertelsmannStiftung für Jugend und Wirtschaft. “Das gilt auch für die Wirtschaft.”

Weitgehend einig sind sich junge Menschen, wenn es um das Verhältnis der Wirtschaft zur Demokratie geht: So stimmen 80 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass “eine funktionierende Wirtschaft und eine stabile Demokratie zusammenhängen”.

Für die Studie befragte die Bertelsmann-Stiftung zwischen Februar und März dieses Jahres gut 1.700 junge Menschen im Internet. Ergänzend dazu fanden den Angaben zufolge persönliche Interviews mit jungen Menschen aus “schwieriger zu erreichenden Gruppen” statt. Ralf Pauli

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Live.Briefing: Wie die Siebengebirgsschule als Vorbild wirkt

Die Arbeit der Siebengebirgsschule, Förderschule in Bonn und Gewinnerin des Deutschen Schulpreises 2024, stößt auf großes Interesse in der deutschen Schullandschaft. “Für die Regelschulen sind wir gerade besonders interessant.” 

Das hob Schulleiter Achim Bäumer am Donnerstag im Live.Briefing von Table.Briefings und der Robert Bosch Stiftung hervor. Es stand unter der Überschrift: “Eine Förderschule gewinnt den Deutschen Schulpreis 2024: Rücken- oder Gegenwind für die Inklusion?”

Lesen Sie auch: Siebengebirgsschule – Wie eine Förderschule den Weg zu einer “Schule für alle” weist  

Wöchentlich gebe es zahlreiche Hospitationen an seiner Schule mit den Förderschwerpunkten Lernen, emotionale-soziale Entwicklung und Sprache, sagte Bäumer. Förderschulen seien eher selten darunter. 

Die Schulpreis-Jury hatte gelobt, dass “eine bedürfnisorientierte, radikal individuelle Förderung” den Kindern und Jugendlichen der Schule “ihren Weg zum Schulabschluss” eröffne. Klassische Stundenpläne, festgelegte Räume, feste Pausenzeiten oder feste Klassenverbünde gibt es an der Schule nicht. Dazu kommt unter anderem ein maßgeschneiderter Einsatz von digitalen Tools.

Bohl bemängelt fehlenden Mut in der Bildungspolitik

Frauke Ackfeld, unter anderem Mitglied im “Netzwerk Inklusion Frankfurt”, kritisierte im Live.Briefing, dass eine Schule, die den Schulpreis erhalte, immer inklusiv sein sollte. Den Schulpreis an eine Förderschule zu verleihen, findet die Eltern-Vertreterin irritierend, weil diese Schulart die Exklusion von Schülern mit Förderbedarf aus dem Regelsystem manifestiere. Dagmar Wolf, Leiterin des Bereichs Bildung bei der Robert Bosch Stiftung, sagte, sie glaube nicht, “dass wir mit der Auszeichnung einer Förderschule das System Förderschule manifestieren”. Diese Systemdebatte müsse an anderer Stelle geführt werden. Die Bosch-Stiftung vergibt den Schulpreis gemeinsam mit der Heidehof Stiftung.

“Solange wir in Deutschland dieses System der Mehrgliedrigkeit haben und ,Abschulen’ immer noch ein probates Mittel in Schulen ist, das genutzt wird, werden wir das Problem der Inklusion nicht hinreichend lösen können”, sagte Wolf. Thorsten Bohl, Leiter der Tübingen School of Education und Sprecher der Schulpreis-Jury, sagte, die Bildungspolitik habe in weiten Teilen nicht den Mut, “ein kohärentes Schulsystem aufzustellen”.

Wrase: “Keine wesentlichen Entwicklungen”

Inklusion ist auch ein Thema der laufenden Ministerpräsidentenkonferenz in Leipzig. Wie berichtet, hatte sich der Verband Sonderpädagogik in einem offenen Brief an die Länderspitzen gewandt. Er fordert unter anderem, sich für die Weiterentwicklung der Inklusion im Bildungsbereich einzusetzen.

Lesen Sie auch: Vor MPK – Was die Sonderpädagogen von den Länderchefs fordern

Dass Handlungsbedarf besteht, unterstrich Michael Wrase, Bildungsrechtler vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und der Universität Hildesheim im Live.Briefing. Der Anteil der Schüler an Förderschulen sei heute vergleichbar mit dem vor der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die Deutschland 2009 unterzeichnet hat. “Wir haben da keine wesentlichen Entwicklungen”, stellt Wrase fest. Die UN-BRK hat eine “fast vollständige” Inklusion von Schülern mit Behinderungen in allgemeinbildenden Schulen zum Ziel. Der Weg dorthin ist noch weit. hsc

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Menno Baumann: Was Deutschlands renommiertester Intensivpädagoge fordert 

Menno Baumann, Intensivpädagoge und Sachverständiger.

Kinder, die “Systeme sprengen”, haben Menno Baumann schon immer interessiert. Beim Film “Systemsprenger”, der 2019 in den Kinos erschien, beriet der renommierte Professor für Intensivpädagogik, der an der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf forscht, das Team. Baumann forscht schon lange zu Kindern, die die Kinder- und Jugendhilfe oder Schulen überfordern und verbindet das mit seiner Arbeit mit Jugendlichen. Als Forscher und Intensivpädagoge versucht Baumann, das Verhalten dieser jungen Menschen durch ihre Biografien besser zu verstehen. Jugendliche, die schwere Gewalttaten begangen haben, sind etwa in der Regel selbst Opfer von Gewalt. 

Nach seinem Studium der Sonderpädagogik war der gebürtige Ostfriese zunächst als Förderschullehrer tätig und wechselte dann in die Jugendhilfe. In seiner berufsbegleitenden Promotion an der Universität Hannover verband er den Blick der Hirnforschung und der Erziehungswissenschaften auf Kinder, die “Systeme sprengen”. Auch in seiner Habilitation an der Universität Oldenburg war das sein Thema. Heute arbeitet er neben seiner Forschung als Diagnostiker, Fachberater und Sachverständiger für pädagogisch-psychologische Fragestellungen des Familienrechts.  

Jugendgewalt nicht dramatisieren

Er warnt davor, Fälle von Jugendgewalt zu dramatisieren. “Im Vergleich zu den 2000er-Jahren ist die Gewalt von Jugendlichen stark gesunken“, sagt er. Allerdings nehme sie seit 2015 – mit einer Unterbrechung durch die Corona-Pandemie – wieder etwas zu. Ursachen sieht Baumann darin, dass aktuell wieder mehr junge Menschen in Armut, auf engem Wohnraum und unter Stress aufwachsen.  

Gerade Kinder, die einen Migrationshintergrund haben, aus einer sozial benachteiligten Familie kommen oder eine Entwicklungsbeeinträchtigung wie ADHS haben, könnten viel zu häufig ihr Leistungspotential in der Schule nicht einbringen. Sie blieben so leicht in generationsübergreifenden Prozessen von Ausgrenzung, Armut und Gewalt hängen.  

Lesen Sie auch: Intensivpädagoge Baumann über Gewalt an Schulen: “Grenzverletzungen sind in einem bestimmten Alter typisch” 

Lehrkräfte sollten bei Schülergewalt eingreifen

Aber nicht nur Kinder und Jugendliche werden häufiger übergriffig, auch Erwachsene. “Lehrkräfte berichten in Deeskalationstrainings zum Beispiel von Eltern, die Autoreifen zerstechen oder versuchen, verbal einzuschüchtern.”  

Lehrkräften rät Baumann im Umgang mit gewalttätigen Schülern vor allem dazu, einzugreifen, um Schlimmeres zu vermeiden. Strafe und Ausgrenzung, etwa durch eine Suspendierung, hält er aber nicht für zielführend. Stattdessen müssten die Jugendlichen in sozialpädagogische Angebote eingebunden werden. Jugendämter und Familiengerichte könnten daneben einen gewissen Druck ausüben, indem sie mit Konsequenzen drohen. 

Konzepte gegen Gewalt werden kaum umgesetzt

Gute Konzepte für den Umgang mit Jugendlichen, die Gewalt ausüben, gebe es eigentlich schon lange, sie würden aber immer noch zu häufig gar nicht oder nur bruchstückhaft umgesetzt. Hier sieht Baumann Handlungsbedarf. Daneben müsse die Politik in Bildungsgerechtigkeit investieren, die Schulsozialarbeit ausbauen und den Lehrkräften mehr Zeit für Beziehungsarbeit geben. “Gerade im Jugendalter ist die Akzeptanz von Regeln und Normen stärker abhängig von der Beziehung zur Klassenlehrkraft als von der Beziehung zu den eigenen Eltern”, erklärt Baumann. “Doch das positiv zu nutzen, dafür haben die Lehrkräfte in den weiterführenden Schulen de facto keine Zeit.”    

Für zentral hält er dabei auch anonyme Social-Media-Sprechstunden an Schulen, wie Schulleiterin Silke Müller sie an ihrer Waldschule Hatten in Niedersachsen eingeführt hat. Mit Sorge betrachtet Baumann etwa, dass in der Pandemie das Ausmaß sexualisierter Gewalt durch Erwachsene online gestiegen ist. Schülerinnen und Schüler müssten lernen, sich vor solchen Inhalten zu schützen.  

Hier hält Baumann aber auch gesetzliche Änderungen für notwendig: Wenn Lehrkräfte etwa davon erfahren, dass Schüler kinderpornografische Inhalte teilen, müssen sie eigentlich persönlich Anzeige wegen eines Sexualdelikts erstatten. Besser wäre es aus Sicht von Baumann, wenn die Schule hier als Dienstherr aktiv würde. “Sonst leidet die Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler – und die Lehrkraft wird schnell zur Zielscheibe”.  Janna Degener-Storr

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Best of Table

Research.Table. Antisemitismusresolution: Forschende unterbreiten konsensorientierte Formulierungsvorschläge. Mit wachsender Sorge beobachten Wissenschaftler, wie schwer sich die Parteien der Ampel-Koalition und der CDU/CSU tun, sich auf eine Antisemitismusresolution zu einigen. Eine prominente Gruppe um den Rechtswissenschaftler Ralf Michaels zeigt nun auf, wie es gelingen könnte. Mehr lesen Sie hier.

Research.Table. “Man sollte darüber nachdenken, die Zukunftskonzepte langfristig aufzugeben”. Beim Exzellenzwettbewerb sieht Peter-André Alt von der Wübben Stiftung Wissenschaft Verbesserungspotenzial. Um über Reformen zu beraten, schlägt er für 2026 eine Geberkonferenz vor, bei der vor allem auch diejenigen mitreden, die es betrifft: die Universitäten. Mehr lesen Sie hier.

Research.Table. Regierungsbildung Thüringen: BSW könnte bald die Forschungspolitik des Freistaats verantworten. Noch gibt es kein grünes Licht für eine Brombeer-Koalition in Thüringen. Sollte diese zustande kommen, könnte nach Information von Table.Briefings das Bündnis Sahra Wagenknecht für die Forschungspolitik im Freistaat verantwortlich sein. Welche Schwerpunkte die Partei setzen will. Mehr lesen Sie hier.

Presseschau

Tagesschau: Mobbing auf Whatsapp und Tiktok. Eine Umfrage zeigt, dass jeder fünfte Schüler in Deutschland bereits Opfer von Cybermobbing wurde. Das entspricht zwei Millionen Kindern und Jugendlichen. Jeder vierte betroffene Schüler hatte bereits Suizidgedanken aufgrund der Hetze im Netz. Am häufigsten findet das Cybermobbing an der Schule statt. Inzwischen geben 70 Prozent der Lehrkräfte an, mit dem Problem überfordert zu sein. (Jeder fünfte Schüler wird Opfer von Cybermobbing

rbb: Ende für das Azubi-Ticket in Berlin und Brandenburg. In Berlin und Brandenburg soll nun das Angebot des Azubi-Tickets für den öffentlichen Nahverkehr auslaufen. Das Angebot sei durch die Alternative des Deutschlandtickets unattraktiver geworden. Ein Nachfolgeangebot sei jedoch geplant. Dieses soll sich an dem bisherigen Angebot für Studenten orientieren. Diese erhalten zu ihrem Semesterticket ein vergünstigtes Deutschlandticket. (Berlin und Brandenburg lassen Azubi-Ticket auslaufen

mdr: Existenzängste freier Schulen in Sachsen-Anhalt. In Sachsen-Anhalt soll die staatliche Teilfinanzierung der freien Schulen gekürzt werden. Die freien Schulträger kritisieren dieses Vorhaben und fordern, sie mehr in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Bei dem Gesetzesvorhaben ginge die Regierung nicht von den tatsächlich anfallenden Kosten pro Schüler aus. Das Bildungsministerium weist die Vorwürfe jedoch zurück. (Freie Schulen in Sachsen-Anhalt bangen um Existenz

FAZ: Sabine Döring über Wissenschaftsfreiheit. In einem Gastbeitrag klärt die ehemalige BMBF-Staatssekretärin Sabine Döring vor dem Hintergrund der Fördermittelaffäre über den Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Politik auf. Die Wissenschaft sei unabhängig von der Politik, doch diese sei auf die Ergebnisse der Wissenschaft angewiesen. Zudem beklagt sie, dass die mangelnde Aufklärung und die Beförderung von Schlüsselakteuren der Affäre eine Gefahr der Wissenschaftsfreiheit darstellen. (Wahrheit und Bullshit

rbb: Berliner Eltern gegen temporäre Aussetzung von Klassenfahrten. Der Berliner Senat hat beschlossen, dass in den nächsten sechs Wochen Schulen keine Klassenfahrten buchen dürfen, für die der Senat einen Zuschuss zahlen müsste. Die Elternvertreter kritisieren diese Maßnahme und die kurzfristige Kommunikation des Senats. Einige Fahrten seien aufgrund der Ankündigung abgesagt worden. (Berliner Eltern schreiben Brandbrief an Wegner und Günther-Wünsch

Bildung.Table Redaktion

BILDUNG.TABLE REDAKTION

Licenses:
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    wird 2026 jeder Erstklässler wie geplant ein Recht auf Ganztagsbetreuung haben? Wer sich das zuletzt nicht mehr so recht vorstellen konnte, den wird eine Forderung, die die Ministerpräsidenten auf ihrer Jahreskonferenz in Leipzig beschließen wollen, kaum überraschen.

    Geht es nach ihnen, sollen die Kommunen zwei Jahre mehr Zeit für die Finanzierung bekommen. Und machen damit eine neue Baustelle auf. Wie das im Bund aufgenommen wird und wie der Ganztagsschulverband und die Kommunen eine mögliche Verschiebung bewerten, hat Thorsten Denkler für Sie aufgeschrieben.

    Eine andere bildungspolitische Baustelle können Sie in unserer zweiten Analyse besuchen: den Digitalpakt II. Unser neuer Autor Ralf Pauli greift eine Forderung von Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger nach einer umfangreichen Fortbildungsverpflichtung auf.

    Im Text erfahren Sie, wie es um die Pflicht zu Lehrerfortbildungen in den Ländern bestellt ist und wie relevant Fortbildungen aus Forschersicht sind. Und: Nicht nur die Qualifizierung der Lehrkräfte ist wichtig.

    Ich wünsche Ihnen eine gute Tour über alle Baustellen!

    Ihre
    Anna Parrisius
    Bild von Anna  Parrisius

    Analyse

    Ganztag: Warum die Länder plötzlich mehr Zeit vom Bund fordern

    Die Forderung der Ministerpräsidenten ist präzise formuliert: Sie wollen für das Mammutprojekt Ganztagsausbau mehr Zeit vom Bund. Das geht aus einer Beschlussvorlage hervor, die die Ministerpräsidenten auf ihrer laufenden Jahreskonferenz in Leipzig annehmen wollen. 

    Wenn möglich sollen demnach die im Ganztagsfinanzhilfegesetz (GaFinHG) festlegten Fristen um zwei Jahre verschoben werden. Es soll den Kommunen dann bis Ende 2028 möglich sein, Fördergeld vom Bund für Investitionen in den Ganztag bewilligt zu bekommen. Die neuen Anbauten, Mensen und Küchen müssten dann bis Ende 2029 fertiggestellt sein.

    Personalnot verzögert Ganztagsausbau

    Die Begründung klingt plausibel: Der Fachkräftemangel sorgt für Personalnot auch im Bau- und Planungswesen. Außerdem habe sich der Bund mit dem Scharfstellen der Verwaltungsvereinbarung Investitionsprogramm Ganztagsausbau” zu viel Zeit gelassen. Das Gesetz sei bereits im Herbst 2021 von der schwarz-roten-Vorgängerregierung beschlossen worden. Die Verwaltungsvereinbarung trat aber erst im Mai 2023 in Kraft. Es sei daher bereits mit Beginn der Förderprogramme in den Ländern absehbar, dass die Fristen des Gesetzes “nicht eingehalten werden können”, heißt es in der Beschlussvorlage.

    Der MPK-Beschluss ist für den Bund nicht bindend. Geprüft werden soll das Anliegen aber, ist aus der Bundesregierung zu hören. Allerdings sind die beiden beteiligten Ministerien unterschiedlich offen für eine Fristverlängerung.

    Paus offen für Fristverlängerung

    Im Forschungs- und Bildungsministerium von Bettina Stark-Watzinger (FDP) treibt die Sorge um, eine Fristverlängerung könnte de facto dazu führen, den ab 2026 geltenden Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz in Grundschulen aufzuweichen. Wie sollen Eltern den Rechtsanspruch einklagen können, wenn sich die Kommunen länger als geplant Zeit lassen dürfen, die baulichen und personellen Voraussetzungen zu schaffen? 

    Im Familienministerium von Ministerin Lisa Paus (Grüne) wird die Sorge nicht geteilt. Da gibt es großes Verständnis für die Nöte der Kommunen. Der Beschluss der MPK solle jedenfalls zum Anlass genommen werden “mit den Ländern ins Gespräch zu kommen”, heißt es aus Regierungskreisen.

    Kein klares Bild im Bundestag

    Sollte sich der Bund auf die MPK-Forderung einlassen, liefe das wohl auf eine Änderung des GaFinHG hinaus. Eine klare Haltung ist unter den Ampel-Parteien bisher nicht erkennbar. Die zuständige Grünen-Abgeordnete Franziska Krumwiede-Steiner sagt, am Ende des Tages sei es wichtig, “dass die Maßnahmen vor Ort umsetzbar sind”. Wenn die Länder deutliche Signale senden und eine Fristverlängerung im Ganztagshilfegesetz fordern, “sollte der Bund diese Möglichkeit prüfen”. Entscheidend sei, “dass der Rechtsanspruch auf Ganztag auch gut umsetzbar ist”.

    Etwas anders klingt es aus den Reihen der SPD. Bildungspolitikerin Jasmine Hostert sagt, sie und ihre Fraktion verstünden zwar, dass die Rahmenbedingungen gerade schwierig seien. Sie wolle die Kommunen auch “nicht überfordern”. Aus ihrer Perspektive aber “muss es allen ein Anliegen sein, dass wir solche Strukturstärkungen nicht auf die lange Bank schieben“. 

    Der Ganz­tags­schul­ver­ban­d sähe es lieber, wenn nichts mit “der heißen Nadel gestrickt” werde, sagt Verbandsvorsitzende Eva Rei­ter. Eine Verlängerung diene der Planungssicherheit. Sie eröffne “die Chance, dass nichts überstürzt, unausgegoren geplant und gebaut werden muss”. Im besten Fall gebe es genug Zeit, um Schulen, Kooperationspartner, Lehrkräfte, pädagogisches Personal, Eltern, Schüler einbinden zu können. Die Gefahr für den Rechtsanspruch will sie aber nicht wegwischen. “An seiner Realisierung darf nicht gerüttelt werden”, warnt Reiter.

    Kommunen: Länder nicht unschuldig

    Es gibt aber auch Kritik an den Ländern, nötige Regelungen verschleppt zu haben und jetzt auf Fristverlängerungen pochen. In Nordrhein-Westfalen etwa fühlen sich die Städte und Gemeinden von der regierenden schwarz-grünen Koalition im Stich gelassen, ist vom NRW-Städtetag zu hören. Entgegen der Zusage im Koalitionsvertrag habe die Landesregierung bisher kein Ausführungsgesetz für den Ganztag an Schulen in NRW vorgelegt. Die Kommunen fürchten, dass sie “auf den Kosten und Risiken für den Ganztagsausbau sitzenbleiben” werden.

    Fast drei Milliarden Euro stellt der Bund für den Ausbau der Ganztagsbetreuung an Grundschulen bis Ende 2027 bereit. Das Investitionsprogramm steht in engem Zusammenhang mit dem Rechtsanspruch auf Ganztags für Kinder im Grundschulalter. Ab dem Schuljahr 2026/27 gilt der Rechtsanspruch für Kinder ab der 1. Klassenstufe. Danach geht es schrittweise weiter, bis im Schuljahr 2029/30 alle Kinder der Klassenstufen eins bis vier einen Anspruch haben.

    Der Bedarf wächst, die Zeit drängt

    Die Zeit drängt, selbst wenn die Frist für die Finanzierung verlängert werden würde. Zum einen steigt der Bedarf. In vielen Kommunen gibt es Wartelisten für Ganztagsplätze an Grundschulen. Eltern drängen darauf, Familie und Beruf besser unter einen Hut bringen zu können. Ganz zu schweigen von der vom jüngsten PISA-Schock erhärteten Erkenntnis, dass der Ganztag pädagogisch mehr als angeraten ist, wie Bildungsforscher mahnen. 

    Es wird zwar gerne darauf verwiesen, dass es bereits heute fast flächendeckend Ganztagsangebote gebe. Aber das ist ein ungeordneter Flickenteppich, wie Experten sagen. Und: eben auch nur fast. Nach der jüngsten Ganztagsschulstatistik der KMK konnten im Schuljahr 2021/2022 knapp 18 Prozent der Grundschulen den Eltern gar kein Angebot für Ganztagsbetreuung machen.

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    Digitalpakt II: Warum die Lehrerfortbildung das Vorhaben gefährdet

    Für eine Einigung auf den Digitalpakt II müssen Bund und Länder noch dicke Bretter bohren. Allen voran in der Finanzierung. Das Bundesbildungsministerium (BMBF) beharrt auf einer 50-prozentigen Beteiligung der Länder. Diese sind dazu jedoch nur dann bereit, wenn ihre bisherigen Investitionen in digitale Schulen vollumfassend angerechnet werden.

    Als Stolperstein für einen schnellen Kompromiss könnte sich noch eine weitere Bundesforderung herausstellen. Geht es nach Ministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), müssen sich die Länder mit Start des Digitalpaktes II verpflichten, alle Lehrkräfte für digitales Lehren und Lernen fortzubilden. Und zwar 30 Stunden pro Jahr. Die Länder wollen sich hier ungern reinreden lassen. Entsprechend zurückhaltend äußert sich die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Christine Streichert-Clivot (SPD): “Die Kultusministerkonferenz sieht die Lehrkräftefortbildung traditionell in der Zuständigkeit der Länder”, sagt sie zu Table.Briefings.

    KMK: Konkrete Vorgaben “nicht praktikabel”

    Zwar setzt auch die KMK auf Fortbildungen. In allen Ländern sind Lehrkräfte verpflichtet, sich stetig fortzubilden. Die Kontrolle aber obliegt in der Regel den Schulleitungen. Vorgaben zum zeitlichen Umfang hält Streichert-Clivot für “nicht praktikabel”. Begründung: Die Wirksamkeit hängt von zu vielen Faktoren ab. Also etwa davon, ob es für jede Lehrkraft passgenaue Formate und Inhalte gibt, wie die Unterstützung der Schulleitungen aussieht und wie hoch die Eigenmotivation der Lehrkräfte ist.

    Ähnlich sieht es die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig, Koordinatorin der SPD-geführten Länder in der KMK: “Wir halten eine bundeseinheitliche Verpflichtung an dieser Stelle nicht für zielführend”, sagt Hubig. Eine feste Stundenzahl bringe einen “enormen bürokratischen Mehraufwand” mit sich.

    Sowohl Streichert-Clivot als auch Hubig berichten von einer hohen Motivation der Lehrkräfte, sich auch ohne feste Vorgaben fortzubilden. Eine Umfrage von Table.Briefings unter den Schulministerien zeigt jedoch, dass sich nicht alle Ministerien an die KMK-Linie halten. Fünf Länder schreiben derzeit explizit vor, wie viel Zeit ihre Lehrkräfte allgemein pro Schuljahr in Fortbildungen investieren müssen.

    Fünf Länder scheren aus

    • In Bayern sind (innerhalb von vier Jahren) zwölf Fortbildungstage à fünf Stunden nachzuweisen.
    • In Berlin sind es zehn Stunden pro Schuljahr.
    • In Bremen und Hamburg sind es 30 Stunden, an Hamburger Berufsschulen 45 Stunden.
    • In Mecklenburg-Vorpommern ist die Teilnahme an mindestens einem schulinternen Fortbildungstag Pflicht.

    Die übrigen elf Bundesländer legen keinen zeitlichen Umfang für Fortbildungen fest. Mit inhaltlichen Vorgaben halten sich die Länder noch stärker zurück. Eine Pflicht, sich etwa regelmäßig mit dem Einsatz digitaler Medien auseinandersetzen, wie es der Bund fordert, gibt es bislang nirgends.

    Ziel: gemeinsame Standards

    Die Potsdamer Bildungsforscherin Katharina Scheiter wünscht sich mehr Verbindlichkeit. Scheiter ist Professorin für Digitale Bildung und Co-Leiterin der sogenannten Transferstelle im Kompetenzverbund lernen:digital. Das Projekt, das der Bund für zweieinhalb Jahre (die Transferstelle für 3,5 Jahre) mit insgesamt 205 Millionen Euro fördert, soll die Lehrkräftefortbildung rund um digitalen Unterricht auf den neuesten Stand der Forschung und anschließend in die Anwendung bringen.

    Dazu ist Scheiter im regelmäßigen Austausch mit Ministerien und den Landesinstituten für Lehrerfortbildung und Schulentwicklung. Ein Ziel: länderübergreifende Standards etablieren. Auch in Programmen wie “QuaMath” entwickeln die Länder gemeinsame Fortbildungsangebote.

    Lesen Sie auch: QuaMath – Wie viele Schulen beim Start in die Praxis dabei sind

    “Wir wissen mittlerweile sehr genau, welche Qualitätsstandards wir bei Fortbildungen anlegen müssen”, sagt Scheiter. So würden derzeit vor allem modulare Fortbildungen konzipiert. In der Forschung sei es Konsens, dass auf einzelne Themen spezialisierte Fortbildungen wenig brächten.

    “Seminare zu digitalen Medien adressieren oft sehr konkrete Unterrichtssituationen, etwa wie eine Lehrkraft ChatGPT in den Unterricht einbindet”, erklärt Scheiter. Für tiefergehende Kompetenzen müssten Lehrkräfte Seminare besuchen, die aus mehreren aufeinander aufbauenden Einheiten besteht. Sofern die Personalsituation an Schulen dies überhaupt zulässt.

    Forscherin beklagt fehlendes Monitoring

    Als großes Hindernis für ein gutes, flächendeckendes Fortbildungsangebot sieht Scheiter das fehlende Monitoring. An der internationalen OECD-Studie TALIS (Teaching and Learning International Survey), die in regelmäßigen Abständen die Fortbildungsroutine von Lehrkräften abfragt, nimmt Deutschland nicht teil.

    “Es wird hierzulande leider nicht systematisch erfasst, welche Bedarfe oder Barrieren Lehrkräfte bei Fortbildungen haben”, sagt Scheiter. Von persönlich zugeschnittenen didaktischen Fortbildungsangeboten, wie sie PISA-Vorbild Estland derzeit erprobt, sei Deutschland “noch sehr weit entfernt”.

    Auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) sieht Handlungsbedarf. In ihrem Ende 2023 veröffentlichten Gutachten forderte das Beratergremium der KMK “eine datenbasierte Angebotsplanung auf der Grundlage einer systematischen Erfassung individueller, schulischer und schulübergreifender Bedarfe”. Weiter mahnten die SWK-Experten “eine systematische Qualitätssicherung hinsichtlich der Gewinnung von Fortbildenden” an.

    Train-the-Trainer-Prinzip

    Wie wichtig die ist, bekräftigt die Lehrerausbilderin Carola Junghans von der Universität Oldenburg. Die Pädagogin bildet bundesweit jene fort, die selbst Lehrkräfte fortbilden. “Ausbildung der Ausbildenden” nennt sie das Konzept. Ein Curriculum, das Junghans zusammen mit Kollegen für Ausbilder an Studienseminaren entwickelt hat, wendet das Niedersächsische Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung seit 2016 an.

    Andere Länder bieten unter dem Begriff “train the trainer” ähnliche Seminare an. Das Problem: Für Lehrkräfte, die vom Schulunterricht in die Lehreraus- und fortbildung wechseln, besteht nicht in allen Ländern die Pflicht, sich dafür extra zu qualifizieren. “Die Vorgaben sind teils sehr unterschiedlich”, berichtet Junghans.

    Ein Versäumnis, das es eigentlich nicht geben dürfte. In einem KMK-Eckpunktepapier von 2020 heißt es: “Für die Durchführung von Fortbildungsmaßnahmen sind die Dozentinnen und Dozenten […] angemessen methodisch-didaktisch, fachlich-inhaltlich sowie technisch zu qualifizieren.” Weiteren Handlungsbedarf erkennen die Bildungsminister aber aktuell nicht. Bleibt dies so, dürfte es knifflig werden für den Digitalpakt II. Kommenden Dienstag wollen Bund und Länder weiterverhandeln.

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    Wie Habecks Deutschlandfonds die Bildung adressiert

    Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) adressiert mit seinem am Mittwoch präsentierten Konzept für einen Deutschlandfonds auch die Bildung. Eine zweite Säule des möglichen Fonds soll Geld für Infrastruktur, Bildung und Digitalisierung bereitstellen. In dem Papier heißt es: “Ob Energie- und Kommunikationsnetze, Verkehrswege oder Bildungseinrichtungen – öffentliche Infrastrukturen sind die Lebensadern unserer Wirtschaft und Gesellschaft und essenzieller Teil des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks.”

    Schätzung: 70 Milliarden Euro Investitionsstau

    Bis 2030 müssten Schätzungen zufolge mehr als 70 Milliarden Euro an zusätzlichen Investitionen in Bildung und Forschung fließen, um “Rückstände bei Kita-, Schul- und Hochschulgebäuden”, aufzuholen. Hinzu kämen “umfangreiche zusätzliche Ausgaben für notwendiges Betreuungs- und Bildungspersonal“. Damit könne “die Grundlage” für den “Wohlstand der Zukunft” gelegt werden.

    Die Berechnung fußt nach Angaben des BMWK auf einer Studie des “Dezernat Zukunft – Institut für Makrofinanzen” zum öffentlichen Finanzbedarf “für die Modernisierung Deutschlands”, die im September erschienen ist. Sie summiert die zusätzlichen öffentlichen Finanzbedarfe “zur Erreichung breit akzeptierter Ziele bis 2030” nur für die Bildung in Bund, Ländern und Kommunen über alle Bereiche hinweg sogar auf 127 Milliarden Euro. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat in ihrem jüngsten Kommunalpanel den Investitionsrückstau allein in den Kommunen und nur für Schulgebäude mit 54,8 Milliarden Euro angegeben. Thorsten Denkler

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    Lehrplan: Wie Lehrkräfte den Nahostkonflikt behandeln müssen

    Nur Bayern und Baden-Württemberg haben den Nahostkonflikt als Pflichtthema im Lehrplan verankert, jeweils im Geschichtsunterricht. Das ergibt eine Umfrage von Table.Briefings, auf die alle Bildungsministerien der Länder antworteten.

    • In Bayern ist die Entwicklung des Nahostkonflikts fester Bestandteil des Geschichtsunterrichts in Jahrgangsstufe 10 an der Realschule und in der 13. Klasse des Gymnasiums.
    • Baden-Württemberg sieht die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts im Kontext der Dekolonialisierung als verpflichtendes Thema für den Geschichtsunterricht in Klasse neun, zehn oder der Oberstufe vor.

    In den anderen Bundesländern steht das Thema nicht verpflichtend im Lehrplan. Lehrkräfte können den Nahostkonflikt stattdessen wahlweise, meist als ein Beispiel für einen internationalen Konflikt im Geschichts- oder Politikunterricht, behandeln. Für Bremen teilte eine Sprecherin der Bildungssenatorin mit, der Nahostkonflikt sei “selbstverständlich Gegenstand der pädagogischen Arbeit an allen Schulen”, da in den Fächern Politik und Gesellschaft Aktualität eines der didaktischen Grundprinzipien sei.

    KMK-Präsidentin hält “exemplarisches Lernen” für wichtig

    Aus Hamburg heißt es, die Schulen forderten “ein hinreichendes Maß eigenständiger Gestaltungsmöglichkeiten”, auch aufgrund der Heterogenität der Schülerschaft im Stadtstaat. Nur die Hälfte der Unterrichtszeit sei in den von 2020 bis 2023 überarbeiteten Lehrplänen daher durch Pflichtthemen abgedeckt. Zum Beispiel im Modul “Internationale Konflikte” könnten die Lehrkräfte den Nahostkonflikt behandeln. Eine explizite Aufnahme des Konflikts sei daher “nicht erforderlich”. Mehrere Länder schreiben, sie sähen darüber hinaus thematische Anknüpfungspunkte in vielen Fächern, etwa auch im Ethik- oder Religionsunterricht, in Geografie oder Deutsch.

    Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) sagte Table.Briefings, in den Lehrplänen sei der Umgang mit Kriegen und internationalen Konflikten fest verankert. Dabei gehe es aber immer um exemplarisches Lernen, bei dem wir eine ganzheitliche Perspektive einnehmen müssen”. In Zeiten, in denen Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus zunehme, sei es wichtig, Ursachen von Konflikten und Kriegen zu thematisieren, um das Bewusstsein der Schüler für die komplexen Zusammenhänge zu schärfen.

    Shai Hoffmann: Viele Betroffene suchen Orientierung bei Lehrkräften

    Der Bildungsaktivist Shai Hoffmann fordert, den Nahostkonflikt verpflichtend im Lehrplan zu politischer Bildung zu verankern. Im Nahen Osten würden noch über Jahrzehnte Folgen des 7. Oktobers spürbar sein. In den Schulklassen säßen viele Betroffene, die bei ihren Lehrkräften Orientierung suchen, die sie zu Hause oft nicht bekommen”, sagt er. Deutschland könne das Thema als postmigrantische Gesellschaft nicht aussparen. Hoffmann, ein Deutsch-Jude mit israelischen Wurzeln, hat nach dem 7. Oktober 2023 “Trialoge” mit der Deutsch-Palästinenserin Jouanna Hassoun an Schulen gestartet. Bis Jahresende soll das Format bundesweit etwa 120 Schulen erreicht haben. Anna Parrisius

    Lesen Sie auch: Krieg in Nahost: Wie Lehrkräfte über ihn sprechen können

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    Ausbildung: Wie der Kanzler und Siemens indische Fachkräfte locken

    Die Siemens Stiftung sowie Siemens Limited in Indien und mit Pratham eine der größten Bildungsstiftungen Indiens haben an diesem Donnerstag in Neu-Delhi das Projekt “STEM Education for Innovation: Experimento India” gestartet, gab die Siemens-Stiftung bekannt.

    Grundlage wird das internationale MINT-Bildungsprogramm Experimento der Siemens Stiftung sein, das bereits in zwölf Ländern auf drei Kontinenten eingesetzt wird. Es soll jetzt an die Bedürfnisse indischer Schüler angepasst werden und ist auf die MINT-Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zugeschnitten.

    Deutsch-indische Regierungskonsultationen starten

    Derzeit ist eine deutsche Regierungsdelegation unter der Leitung von Bundeskanzler Olaf Scholz auf einer dreitägigen Reise in Indien unterwegs. Dabei sind auch Arbeitsmininister Hubertus Heil, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger.

    Auf der To-Do-Liste der deutsch-indischen Regierungskonsultationen, die an diesem Freitag in Neu-Delhi mit Ministerpräsident Narendra Modi und seinem Kabinett beginnen, stehen auch Fragen der Fachkräftegewinnung. Vergangene Woche hatte das Bundeskabinett eine Strategie zur leichteren Anwerbung von indischen Fachkräften beschlossen.

    Damit die Anwerbung erfolgreich ist, umfasst die Strategie

    • eine bessere Vermittlung in passende Jobs,
    • mehr Unterstützung im Spracherwerb,
    • eine effizientere Anerkennung von Berufsqualifikationen,
    • moderne Verwaltungsverfahren sowie
    • eine gestärkte Willkommenskultur in Deutschland.

    Die Strategie soll der indischen Regierung an diesem Freitag vorgestellt werden.

    Arbeitsminister Heil sagt vor der Abreise: “In Indien kommen pro Monat eine Million Menschen zusätzlich auf den Arbeitsmarkt.” Das bevölkerungsreichste Land der Welt sei damit ein “idealer Partner”. Thorsten Denkler

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    Edtech-Awards: Welches Start-up ins Finale zieht

    Das interaktive Schulbuch SchuBu hat den deutsch-österreichischen Vorentscheid für die Global EdTech Startup Awards (GESA) gewonnen. Das Start-up aus Österreich hat sich damit auf dem EdTech Next Summit in Bielefeld für das Finale des weltweit größten Start-up-Wettbewerbs für Bildungstechnologien qualifiziert. Das Finale findet im Januar in London statt.

    Den zweiten Platz hat DigiReporter belegt, ein datenschutzkonformes Redaktionssystem aus Deutschland, mit dem Schüler Schulzeitungen erstellen können. Der dritte Platz ging an die in Frankfurt ansässige Online-Universität Tomorrow University.

    “SchuBu hat das beste Gesamtpaket präsentiert und auch international Möglichkeiten für Expansion“, begründete die Jury ihre Entscheidung. Sie bewertete unter anderem das Potenzial auf dem Markt, aber auch den pädagogischen Ansatz. Acht Start-ups waren für den Vorentscheid nominiert (wir berichteten). Die ersten drei Plätze dürfen an einem Bootcamp für Start-ups teilnehmen. SchuBu wird sein Produkt im Januar auf der weltweit größten Bildungsmesse BETT einer internationalen Jury vortragen. Vera Kraft

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    Bertelsmann-Studie: Junge Menschen interessieren sich für Wirtschaftsthemen

    Ein Großteil der 14- bis 25-Jährigen wünscht sich mehr Wirtschaftsthemen an Schulen. Das zeigt eine repräsentative Umfrage unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die die Bertelsmann Stiftung am Donnerstag veröffentlicht hat. Demnach wünschen sich fast vier von fünf Befragten, dass Themen wie Rente, Weiterbildung oder Bezahlung eine größere Rolle im Unterricht spielen.

    Die Studie legt auch nahe, dass Wirtschaftsthemen an Schulen zu kurz kommen. So tut sich rund jeder zweite Befragte schwer damit, tagesaktuelle Wirtschaftsnachrichten zu verstehen. Ebensoviele finden, dass Wirtschaftsnachrichten häufig zu kompliziert seien. Erst im September zeigte eine Untersuchung in allen Bundesländern, wie groß der Nachholbedarf in der ökonomischen Bildung an weiterführenden Schulen ist.

    Wirtschaftsthemen wichtig für junge Menschen

    Die Umfrage der Bertelsmann Stiftung zeigt indes ein großes Interesse junger Menschen an Wirtschaftsthemen. Das trifft besonders auf Themen zu, die sie persönlich betreffen. So wollen 81 Prozent der Befragten mehr über die berufliche Weiterentwicklung und das Lernen nach der Schule wissen. Ähnlich groß ist das Interesse an Fragen zur Finanzierung des Lebens im Rentenalter (79 Prozent), der Chancengleichheit in Bildung und Beruf (78 Prozent) sowie an Work-Life-Balance (77 Prozent).

    Wie die Autoren der Studie schreiben, gibt es große Unterschiede nach Geschlecht und Bildungsniveau. Demnach befassen sich junge Männer (63 Prozent) generell lieber mit Wirtschaftsthemen als junge Frauen (44 Prozent). Allerdings trifft diese Diskrepanz nicht auf alle wirtschaftliche Themen in gleichem Maße zu: An der Lohnlücke zwischen den Geschlechtern (Gender Pay Gap) zeigen sich deutlich mehr Frauen als Männer interessiert.

    Wirtschaft gehört zur Demokratie

    Der Bildungsabschluss hat der Studie zufolge Einfluss auf das Interesse an Wirtschaftsthemen, wenn auch keinen großen. Personen mit mittleren und höheren Abschlüssen haben ein geringfügig stärkeres Interesse an Wirtschaftsthemen als Personen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen.

    Ein überraschender Befund: Mit dem Bildungsgrad steigt der Eindruck, nicht ausreichend in wirtschaftspolitischen Entscheidungen berücksichtigt zu werden. “Junge Menschen fordern mehr Mitsprache bei Themen, die sie betreffen”, sagt Sandra Zillinger, Expertin der BertelsmannStiftung für Jugend und Wirtschaft. “Das gilt auch für die Wirtschaft.”

    Weitgehend einig sind sich junge Menschen, wenn es um das Verhältnis der Wirtschaft zur Demokratie geht: So stimmen 80 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass “eine funktionierende Wirtschaft und eine stabile Demokratie zusammenhängen”.

    Für die Studie befragte die Bertelsmann-Stiftung zwischen Februar und März dieses Jahres gut 1.700 junge Menschen im Internet. Ergänzend dazu fanden den Angaben zufolge persönliche Interviews mit jungen Menschen aus “schwieriger zu erreichenden Gruppen” statt. Ralf Pauli

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    Live.Briefing: Wie die Siebengebirgsschule als Vorbild wirkt

    Die Arbeit der Siebengebirgsschule, Förderschule in Bonn und Gewinnerin des Deutschen Schulpreises 2024, stößt auf großes Interesse in der deutschen Schullandschaft. “Für die Regelschulen sind wir gerade besonders interessant.” 

    Das hob Schulleiter Achim Bäumer am Donnerstag im Live.Briefing von Table.Briefings und der Robert Bosch Stiftung hervor. Es stand unter der Überschrift: “Eine Förderschule gewinnt den Deutschen Schulpreis 2024: Rücken- oder Gegenwind für die Inklusion?”

    Lesen Sie auch: Siebengebirgsschule – Wie eine Förderschule den Weg zu einer “Schule für alle” weist  

    Wöchentlich gebe es zahlreiche Hospitationen an seiner Schule mit den Förderschwerpunkten Lernen, emotionale-soziale Entwicklung und Sprache, sagte Bäumer. Förderschulen seien eher selten darunter. 

    Die Schulpreis-Jury hatte gelobt, dass “eine bedürfnisorientierte, radikal individuelle Förderung” den Kindern und Jugendlichen der Schule “ihren Weg zum Schulabschluss” eröffne. Klassische Stundenpläne, festgelegte Räume, feste Pausenzeiten oder feste Klassenverbünde gibt es an der Schule nicht. Dazu kommt unter anderem ein maßgeschneiderter Einsatz von digitalen Tools.

    Bohl bemängelt fehlenden Mut in der Bildungspolitik

    Frauke Ackfeld, unter anderem Mitglied im “Netzwerk Inklusion Frankfurt”, kritisierte im Live.Briefing, dass eine Schule, die den Schulpreis erhalte, immer inklusiv sein sollte. Den Schulpreis an eine Förderschule zu verleihen, findet die Eltern-Vertreterin irritierend, weil diese Schulart die Exklusion von Schülern mit Förderbedarf aus dem Regelsystem manifestiere. Dagmar Wolf, Leiterin des Bereichs Bildung bei der Robert Bosch Stiftung, sagte, sie glaube nicht, “dass wir mit der Auszeichnung einer Förderschule das System Förderschule manifestieren”. Diese Systemdebatte müsse an anderer Stelle geführt werden. Die Bosch-Stiftung vergibt den Schulpreis gemeinsam mit der Heidehof Stiftung.

    “Solange wir in Deutschland dieses System der Mehrgliedrigkeit haben und ,Abschulen’ immer noch ein probates Mittel in Schulen ist, das genutzt wird, werden wir das Problem der Inklusion nicht hinreichend lösen können”, sagte Wolf. Thorsten Bohl, Leiter der Tübingen School of Education und Sprecher der Schulpreis-Jury, sagte, die Bildungspolitik habe in weiten Teilen nicht den Mut, “ein kohärentes Schulsystem aufzustellen”.

    Wrase: “Keine wesentlichen Entwicklungen”

    Inklusion ist auch ein Thema der laufenden Ministerpräsidentenkonferenz in Leipzig. Wie berichtet, hatte sich der Verband Sonderpädagogik in einem offenen Brief an die Länderspitzen gewandt. Er fordert unter anderem, sich für die Weiterentwicklung der Inklusion im Bildungsbereich einzusetzen.

    Lesen Sie auch: Vor MPK – Was die Sonderpädagogen von den Länderchefs fordern

    Dass Handlungsbedarf besteht, unterstrich Michael Wrase, Bildungsrechtler vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und der Universität Hildesheim im Live.Briefing. Der Anteil der Schüler an Förderschulen sei heute vergleichbar mit dem vor der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die Deutschland 2009 unterzeichnet hat. “Wir haben da keine wesentlichen Entwicklungen”, stellt Wrase fest. Die UN-BRK hat eine “fast vollständige” Inklusion von Schülern mit Behinderungen in allgemeinbildenden Schulen zum Ziel. Der Weg dorthin ist noch weit. hsc

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    Menno Baumann: Was Deutschlands renommiertester Intensivpädagoge fordert 

    Menno Baumann, Intensivpädagoge und Sachverständiger.

    Kinder, die “Systeme sprengen”, haben Menno Baumann schon immer interessiert. Beim Film “Systemsprenger”, der 2019 in den Kinos erschien, beriet der renommierte Professor für Intensivpädagogik, der an der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf forscht, das Team. Baumann forscht schon lange zu Kindern, die die Kinder- und Jugendhilfe oder Schulen überfordern und verbindet das mit seiner Arbeit mit Jugendlichen. Als Forscher und Intensivpädagoge versucht Baumann, das Verhalten dieser jungen Menschen durch ihre Biografien besser zu verstehen. Jugendliche, die schwere Gewalttaten begangen haben, sind etwa in der Regel selbst Opfer von Gewalt. 

    Nach seinem Studium der Sonderpädagogik war der gebürtige Ostfriese zunächst als Förderschullehrer tätig und wechselte dann in die Jugendhilfe. In seiner berufsbegleitenden Promotion an der Universität Hannover verband er den Blick der Hirnforschung und der Erziehungswissenschaften auf Kinder, die “Systeme sprengen”. Auch in seiner Habilitation an der Universität Oldenburg war das sein Thema. Heute arbeitet er neben seiner Forschung als Diagnostiker, Fachberater und Sachverständiger für pädagogisch-psychologische Fragestellungen des Familienrechts.  

    Jugendgewalt nicht dramatisieren

    Er warnt davor, Fälle von Jugendgewalt zu dramatisieren. “Im Vergleich zu den 2000er-Jahren ist die Gewalt von Jugendlichen stark gesunken“, sagt er. Allerdings nehme sie seit 2015 – mit einer Unterbrechung durch die Corona-Pandemie – wieder etwas zu. Ursachen sieht Baumann darin, dass aktuell wieder mehr junge Menschen in Armut, auf engem Wohnraum und unter Stress aufwachsen.  

    Gerade Kinder, die einen Migrationshintergrund haben, aus einer sozial benachteiligten Familie kommen oder eine Entwicklungsbeeinträchtigung wie ADHS haben, könnten viel zu häufig ihr Leistungspotential in der Schule nicht einbringen. Sie blieben so leicht in generationsübergreifenden Prozessen von Ausgrenzung, Armut und Gewalt hängen.  

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    Lehrkräfte sollten bei Schülergewalt eingreifen

    Aber nicht nur Kinder und Jugendliche werden häufiger übergriffig, auch Erwachsene. “Lehrkräfte berichten in Deeskalationstrainings zum Beispiel von Eltern, die Autoreifen zerstechen oder versuchen, verbal einzuschüchtern.”  

    Lehrkräften rät Baumann im Umgang mit gewalttätigen Schülern vor allem dazu, einzugreifen, um Schlimmeres zu vermeiden. Strafe und Ausgrenzung, etwa durch eine Suspendierung, hält er aber nicht für zielführend. Stattdessen müssten die Jugendlichen in sozialpädagogische Angebote eingebunden werden. Jugendämter und Familiengerichte könnten daneben einen gewissen Druck ausüben, indem sie mit Konsequenzen drohen. 

    Konzepte gegen Gewalt werden kaum umgesetzt

    Gute Konzepte für den Umgang mit Jugendlichen, die Gewalt ausüben, gebe es eigentlich schon lange, sie würden aber immer noch zu häufig gar nicht oder nur bruchstückhaft umgesetzt. Hier sieht Baumann Handlungsbedarf. Daneben müsse die Politik in Bildungsgerechtigkeit investieren, die Schulsozialarbeit ausbauen und den Lehrkräften mehr Zeit für Beziehungsarbeit geben. “Gerade im Jugendalter ist die Akzeptanz von Regeln und Normen stärker abhängig von der Beziehung zur Klassenlehrkraft als von der Beziehung zu den eigenen Eltern”, erklärt Baumann. “Doch das positiv zu nutzen, dafür haben die Lehrkräfte in den weiterführenden Schulen de facto keine Zeit.”    

    Für zentral hält er dabei auch anonyme Social-Media-Sprechstunden an Schulen, wie Schulleiterin Silke Müller sie an ihrer Waldschule Hatten in Niedersachsen eingeführt hat. Mit Sorge betrachtet Baumann etwa, dass in der Pandemie das Ausmaß sexualisierter Gewalt durch Erwachsene online gestiegen ist. Schülerinnen und Schüler müssten lernen, sich vor solchen Inhalten zu schützen.  

    Hier hält Baumann aber auch gesetzliche Änderungen für notwendig: Wenn Lehrkräfte etwa davon erfahren, dass Schüler kinderpornografische Inhalte teilen, müssen sie eigentlich persönlich Anzeige wegen eines Sexualdelikts erstatten. Besser wäre es aus Sicht von Baumann, wenn die Schule hier als Dienstherr aktiv würde. “Sonst leidet die Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler – und die Lehrkraft wird schnell zur Zielscheibe”.  Janna Degener-Storr

    • Bildungsgerechtigkeit
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    Research.Table. Antisemitismusresolution: Forschende unterbreiten konsensorientierte Formulierungsvorschläge. Mit wachsender Sorge beobachten Wissenschaftler, wie schwer sich die Parteien der Ampel-Koalition und der CDU/CSU tun, sich auf eine Antisemitismusresolution zu einigen. Eine prominente Gruppe um den Rechtswissenschaftler Ralf Michaels zeigt nun auf, wie es gelingen könnte. Mehr lesen Sie hier.

    Research.Table. “Man sollte darüber nachdenken, die Zukunftskonzepte langfristig aufzugeben”. Beim Exzellenzwettbewerb sieht Peter-André Alt von der Wübben Stiftung Wissenschaft Verbesserungspotenzial. Um über Reformen zu beraten, schlägt er für 2026 eine Geberkonferenz vor, bei der vor allem auch diejenigen mitreden, die es betrifft: die Universitäten. Mehr lesen Sie hier.

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    Presseschau

    Tagesschau: Mobbing auf Whatsapp und Tiktok. Eine Umfrage zeigt, dass jeder fünfte Schüler in Deutschland bereits Opfer von Cybermobbing wurde. Das entspricht zwei Millionen Kindern und Jugendlichen. Jeder vierte betroffene Schüler hatte bereits Suizidgedanken aufgrund der Hetze im Netz. Am häufigsten findet das Cybermobbing an der Schule statt. Inzwischen geben 70 Prozent der Lehrkräfte an, mit dem Problem überfordert zu sein. (Jeder fünfte Schüler wird Opfer von Cybermobbing

    rbb: Ende für das Azubi-Ticket in Berlin und Brandenburg. In Berlin und Brandenburg soll nun das Angebot des Azubi-Tickets für den öffentlichen Nahverkehr auslaufen. Das Angebot sei durch die Alternative des Deutschlandtickets unattraktiver geworden. Ein Nachfolgeangebot sei jedoch geplant. Dieses soll sich an dem bisherigen Angebot für Studenten orientieren. Diese erhalten zu ihrem Semesterticket ein vergünstigtes Deutschlandticket. (Berlin und Brandenburg lassen Azubi-Ticket auslaufen

    mdr: Existenzängste freier Schulen in Sachsen-Anhalt. In Sachsen-Anhalt soll die staatliche Teilfinanzierung der freien Schulen gekürzt werden. Die freien Schulträger kritisieren dieses Vorhaben und fordern, sie mehr in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Bei dem Gesetzesvorhaben ginge die Regierung nicht von den tatsächlich anfallenden Kosten pro Schüler aus. Das Bildungsministerium weist die Vorwürfe jedoch zurück. (Freie Schulen in Sachsen-Anhalt bangen um Existenz

    FAZ: Sabine Döring über Wissenschaftsfreiheit. In einem Gastbeitrag klärt die ehemalige BMBF-Staatssekretärin Sabine Döring vor dem Hintergrund der Fördermittelaffäre über den Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Politik auf. Die Wissenschaft sei unabhängig von der Politik, doch diese sei auf die Ergebnisse der Wissenschaft angewiesen. Zudem beklagt sie, dass die mangelnde Aufklärung und die Beförderung von Schlüsselakteuren der Affäre eine Gefahr der Wissenschaftsfreiheit darstellen. (Wahrheit und Bullshit

    rbb: Berliner Eltern gegen temporäre Aussetzung von Klassenfahrten. Der Berliner Senat hat beschlossen, dass in den nächsten sechs Wochen Schulen keine Klassenfahrten buchen dürfen, für die der Senat einen Zuschuss zahlen müsste. Die Elternvertreter kritisieren diese Maßnahme und die kurzfristige Kommunikation des Senats. Einige Fahrten seien aufgrund der Ankündigung abgesagt worden. (Berliner Eltern schreiben Brandbrief an Wegner und Günther-Wünsch

    Bildung.Table Redaktion

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