Table.Briefing: Bildung

+++ Alert +++ Wie das Startchancen-Programm starten soll + Bildungsexperten: Wovon der Erfolg des Programms abhängt

Liebe Leserin, lieber Leser,

das Startchancen-Programm ist in trockenen Tüchern. 20 Milliarden Euro von Bund und Ländern über zehn Jahre, vor allem für Grundschulen in sozial schwierigen Lagen. Das Kernziel: Die Zahl der Schülerinnen und Schüler an den Startchancen-Schulen zu halbieren, die die Mindeststandards in Mathe und Deutsch nicht erreichen. 

Ist das jetzt die große Antwort auf Pisa-Schock 2.0, IQB-Ernüchterung und Iglu-Alarm? Nicht ganz, wenn man auf die Einschätzung von drei renommierten Bildungsexperten schaut. Dagmar Wolf (Robert Bosch Stiftung), Benjamin Edelstein (WZB) und Marcel Helbig (LIfBi) schildern im Gespräch mit Table.Media, wie sie das bildungspolitische Vorzeige-Projekt der Ampel-Koalition einordnen. Sie sind skeptisch, ob mit der Programm-Struktur tatsächlich die Basis-Kompetenzen von Schülern verbessert werden können. Ein Gedanke, den auch Markus Warnke, Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung, in seinem Standpunkt deutlich formuliert. 

Und trotzdem schwingt bei allen vier Bildungsexperten eine Menge Optimismus mit: Denn das Programm steht auch für einige bildungspolitische Durchbrüche. Nicht zuletzt: Alle 16 Bundesländer werden einen Sozialindex einführen. Dicke Bretter gibt es allerdings noch genug, die in Deutschlands Bildungslandschaft gebohrt werden müssen: Die künftige Rolle der Schulaufsicht gehört dazu. Genauso aber auch die fast ritualisierten Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern. Wie schön, dass beide beim Digitalpakt gleich wieder auf der Verhandlungsbühne stehen.

Ihr
Holger Schleper
Bild von Holger  Schleper

Analyse

Durchbruch nach Klausurtagung: Was die Startchancen-Einigung für den Digitalpakt II bedeutet

Gemeinsamer Auftritt bei der Bundespressekonferenz: die Bildungsministerinnen Prien, Hubig, Streichert-Clivot und Stark-Watzinger.

Nach langen und zähen Verhandlungen gibt es eine Einigung: Das Startchancen-Programm kommt. In einer digitalen Sonderkonferenz haben die Kultusministerinnen und -minister die gemeinsam mit dem Bund erarbeiteten Vereinbarungen einstimmig verabschiedet. Auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger gab anschließend ihre Zustimmung.

Wie Table.Media aus Teilnehmerkreisen erfuhr, stand in den finalen Verhandlungsrunden vor allem die Frage nach der Initialphase des Programms im Mittelpunkt. Im Gegensatz zum Vorschlag des Bundes drückten die Länder dabei dem Vernehmen nach offenbar auf die Bremse. Aufgrund der langwierigen Verhandlungen seien die Vorstellungen des BMBF in Teilen nicht mehr realisierbar, heißt es. Die wissenschaftliche Begleitung beispielsweise könne erst mit Verzögerung beginnen.

Das Programm beginnt zunächst nur mit einem Teil der geplanten 4.000 Schulen. Laut Bund-Länder-Vereinbarung sollen ab dem ersten Programmjahr mindestens 1.000 Schulen an den Start gehen. Spätestens zum Schuljahr 2026/27 sollen dann alle benannt sein. Die Auswahl der ersten Schulen muss in den Ländern bis zum 1. Juni erfolgt sein. Da dafür ein Sozialindex erforderlich ist, steht auch fest, dass jedes Land in den kommenden Monaten seine Sozialkriterien ausformuliert haben muss. Sie müssen den dafür im Programm gesetzten Vorgaben entsprechen. Schulen, die ab dem Schuljahr 2025/26 und danach Teil des Programms werden, benennt jedes Land wiederum bis spätestens zum 1. Juni 2025 – der zweite Stichtag.

Bürokratie als “Wermutstropfen”

Stefanie Hubig, Bildungsministerin in Rheinland-Pfalz und Koordinatorin der A-Länder in der KMK, sprach von einem “langen Weg bis zum heutigen Tag”, der sich aber gelohnt habe. Als Stärke des Programms hob sie die Sozialindexierung hervor, “für die sich vor allem die A-Länder von Anfang an eingesetzt haben”. Auf Grundlage der Indizes sollen die Mittel an die Länder verteilt und die 4.000 Startchancen-Schulen ausgewählt werden. “Jetzt müssen wir die Ärmel hochkrempeln, damit die Hilfe schnell ankommt”, sagte Hubig. Hilfreich sei dabei, dass es durch die Bund-Länder-Initiative “Schumas” und einzelne Länderprogramme schon Erfahrungen gebe, die mit in das Startchancen-Konzept eingeflossen seien. “Gleichwohl wird die flächendeckende Umsetzung auch etwas Zeit brauchen”, so die SPD-Politikerin.

Ähnlich äußerte sich Schleswig-Holsteins Bildungsministerin und B-Länder-Koordinatorin Karin Prien. “Das ist ein guter Tag für gerechtere Bildung in Deutschland, auch wenn es ein sehr langer und beschwerlicher Weg gewesen ist.” Ein “Wermutstropfen” des Programms sei die bürokratische Belastung, die Schulen und Schulträgern durch das Programm drohe.

Die Bund-Länder-Vereinbarung sowie die Verwaltungsvereinbarung zur Gewährung von Finanzhilfen des Bundes sollen nun “sternförmig”, also in Kopien an die 16 Länder verschickt und abschließend von Stark-Watzinger unterzeichnet werden. Erst wenn alle Unterschriften vorliegen, kann Bundesfinanzminister Christian Lindner eine Änderung des Finanzausgleichsgesetzes einleiten. Diese ist notwendig, da die Säulen II und III durch Umsatzsteuerpunkte statt durch direkte Haushaltsmittel finanziert werden sollen. Läuft alles nach Plan, kann das Programm zum 1. August 2024 starten.

“Substanzielle Fortschritte” beim Digitalpakt

Vorausgegangen war der Einigung eine Klausurtagung zwischen Bund und Ländern zum Digitalpakt II. Zwei Tage lang hatten die Vertreter zunächst auf Arbeits- und später auf Amtsleiterebene über eine Fortsetzung des Ende Mai 2024 auslaufenden Digitalpakts Schule verhandelt. Insbesondere aus den Reihen der unionsgeführten Länder hatte es bis zuletzt deutliche Stimmen gegeben, dem Startchancen-Programm nur zustimmen zu wollen, wenn der Bund seine Zusage für den Digitalpakt II gibt.

Die Ergebnisse der Klausurtagung standen dem Vernehmen nach auch im Mittelpunkt der Sonder-KMK am Freitagmorgen. In der Pressekonferenz am Nachmittag sagte KMK-Präsidentin Christine Streichert-Clivot, die Länder hätten vom Bundesbildungsministerium “ein klares Bekenntnis” zum Digitalpakt II erhalten. Auch Prien sprach zunächst von “substanziellen Fortschritten”.

“Erhebliche Differenzen” bei der Finanzierung

Mit Blick auf das Geld gibt es allerdings noch erhebliche Differenzen. Stark-Watzinger verwies darauf, dass sie zunächst über das Konzept sprechen wolle. Streichert-Clivot sagte, das Finanzierungsvolumen sei “noch offen”. Prien hingegen wurde deutlicher: Der zweite Digitalpakt dürfe “sowohl vom Volumen als auch der finanziellen Belastungen nicht hinter dem ersten Digitalpakt zurückstehen”, forderte die CDU-Politikerin. In der Frage, wie sich Bund und Länder die Finanzierung untereinander aufteilen, gebe es Prien zufolge allerdings “erhebliche Differenzen”. Im nun auslaufenden Digitalpakt Schule sind die Länder lediglich mit 10 Prozent an den Kosten beteiligt. Den Rest trägt der Bund. Stark-Watzinger schwebt nun allerdings eine 50:50-Verteilung vor.

Im März ist nach Informationen von Table.Media eine weitere Klausurtagung zum Digitalpakt angesetzt. Bis zum 16. Mai 2024 soll die Bund-Länder-Vereinbarung stehen – zeitgleich also mit dem Auslaufen des ersten Digitalpakts. Ab wann die Mittel dann fließen sollen, ließen sowohl Stark-Watzinger als auch die drei Landesministerinnen allerdings unbeantwortet.

  • Bettina Stark-Watzinger
  • Bildung
  • Bildungsföderalismus
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  • Kultusminister
  • Schulträger
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Bildungsexperten: “Das ist jetzt die Stunde der Schulaufsicht”

Marcel Helbig, Dagmar Wolf, Benjamin Edelstein
Die Bildungsexperten Dagmar Wolf, Marcel Helbig (l.) und Benjamin Edelstein haben sich seit Beginn der Verhandlungen mit dem Startchancen-Programm befasst.

Das Startchancen-Programm ist das zentrale schulpolitische Projekt der Ampel-Koalition. Während der langen Verhandlungsphase haben auch Bildungswissenschaft und weitere Bildungsakteure viele Impulse eingebracht. So hatte das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) gemeinsam mit der Robert Bosch Stiftung ein “Expert:innenforum Startchancen” etabliert. Table.Media hat den daran beteiligten Bildungsforscher vom WZBBenjamin EdelsteinDagmar Wolf, Leiterin des Bereichs Bildung bei der Robert Bosch Stiftung, und Marcel Helbig, Bildungsforscher am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, befragt, wie es jetzt weitergehen muss. 

Seit heute steht endgültig fest: Im August beginnt das Startchancen-Programm. Was muss jetzt passieren, damit die Umsetzung gelingt?

Edelstein: Ganz entscheidend wird sein, wie die Unterstützungsstrukturen in den Ländern ausgebaut werden. Die sind nicht überall in einer Verfassung, dass sich das Programm locker umsetzen ließe. Die Schulaufsicht spielt dabei eine zentrale Rolle. In der Schulentwicklungsberatung sind die Konstruktionen in den Ländern grundsätzlich noch sehr diffus und die Qualifikationen sehr uneinheitlich.

Wolf: Die Schulentwicklungsberatung ist der Dreh- und Angelpunkt. Sie muss auf den Bedarf von Schulen in kritischer Lage spezialisiert sein. Wir brauchen hier speziell qualifizierte Fachleute, die die individuellen Probleme der Schule erkennen und die benötigten Bedarfe daraus ableiten und mit den Schulen in die konkrete Planung gehen.

Zu große Freiheiten können für Schulen auch zum Problem werden

Das Programm betont auch die Stärkung der Schulautonomie. Schulen erhalten ein sogenanntes Chancenbudget: Ein Drittel zur freien Verfügung, zwei Drittel nach den Vorgaben eines Handlungsrahmens. Der richtige Weg?

Wolf: Unsere Erfahrung zeigt: Wenn Sie Schulen in kritischer Lage zu viele Freiheiten geben, sind viele total verloren. Wir brauchen konkrete, wenige Angebote, die dann aber wirklich qualitativ hochwertig sind. Das ist jetzt die Stunde der Schulaufsicht und der schon erwähnten qualifizierten Fachberatungen, und zwar in beratender Rolle. Sie müssten mit den Schulen einen Plan für diese freien Mittel entwickeln. Die Qualifizierung von Schulleitungen unter Einbeziehung der Schulaufsicht könnte ein wichtiger Hebel sein, um die wichtige Rolle der Schulaufsicht deutlich zu machen.

Edelstein: Zum erfolgreichen Umgang mit Schulbudgets fehlt vielfach die wissenschaftliche Evidenz. Außerdem mangelt es häufig an Schulentwicklungskapazitäten. Auch deshalb dürfen die Schulen damit nicht allein gelassen werden.

Helbig: In meiner Wahrnehmung gibt es im Programm einen gewissen Zwang: Wer nach Sozialindex ausgewählt wird, soll teilnehmen. Schulen auszusparen, die sich nicht in der Lage sehen, teilzunehmen, ist auch nicht der richtige Weg. Das macht es allerdings noch wichtiger, sie gut zu beraten.

Das Programm bringt es mit sich, dass alle Bundesländer zur Auswahl der Schulen einen Sozialindex entwickeln müssen.

Helbig: Das hätte ich noch vor zwei Jahren nicht für möglich gehalten. Soweit ich es sehe, hat sich jedes Land nach seinen Möglichkeiten auf den Weg gemacht. Nur beispielhaft: Brandenburg hat das gerade fertiggestellt, Baden-Württemberg ist auch soweit, und Bayern arbeitet mit Hochdruck daran. Es ist ein Quantensprung, was das BMBF hier in der Länder-Zusammenarbeit bewirkt hat. 

Helbig: Migration bei Mittelverteilung zu stark gewichtet

Mindestanforderung für den Sozialindex ist, dass er die Kriterien Armut und Migration berücksichtigt. Ist das ein guter Wegweiser für die Länder?

Helbig: Die Migration wird bei der Mittelverteilung zu stark gewichtet. Das ist meines Erachtens auch der Grund, warum Baden-Württemberg in Säule eins des Programms, also bei der Schulausstattung, offenbar mehr bekommt als nach dem aktuell gültigen Königsteiner Schlüssel. Migration ist ein sehr ungenaues Kriterium, denn es umfasst türkische Einwanderer in zweiter und dritter Generation genauso wie Flucht-Zuwanderung oder die Zuwanderung von Hochqualifizierten aus Großbritannien. Ich würde den Faktor Kinderarmut viel stärker einbringen.

Welche Rolle wird der Fachkräftemangel für die Umsetzung des Programms spielen?

Edelstein: Er wird die Säule zwei, also das Schulbudget, massiv betreffen. Alle Bereiche brauchen mindestens stundenweise mehr Personal. Man kann tolle Maßnahmen beschreiben, aber irgendjemand muss sie auch umsetzen. 

Helbig: Das gilt auch für die multiprofessionellen Teams in Säule drei. Ich kann mir schwer vorstellen, dass das Geld vollständig abgerufen wird. Ursprünglich hieß diese Säule Schulsozialarbeit. Dass man diesen Begriff zu multiprofessionellen Teams erweitert hat, könnte auch der Erkenntnis geschuldet sein, dass man gerade im Bereich Sozialarbeit nicht die Personen bekommen wird, die man gerne einstellen würde. 

Wolf: Man muss dem jetzt eine Chance geben

20 Milliarden Euro, etwa 4.000 Schulen, eine Laufzeit von zehn Jahren: Ist das ein bildungspolitischer Durchbruch?

Wolf: Es ist ein Anfang. Ich finde es gut, dass das Programm so langfristig angelegt ist und auch immer wieder in seinen Zielen und Maßnahmen überprüft wird. Man muss dem jetzt eine Chance geben und darf es nicht von Beginn an in Zweifel ziehen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es in der Größenordnung nicht reicht. Aber wir können aus diesem Programm lernen und müssen dann überlegen, wie wir das Gelernte in einen noch größere Rahmen setzen, um viel mehr Schulen zu erreichen. 

Helbig: Ich sehe an einigen Stellen einen Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik. Sei es beim Sozialindex oder der angestrebten Einbindung der individualstatistischen Verlaufsdaten der Länder für die Evaluation. Es gibt viele richtige und wichtige Dinge. Das große Aber: Das genannte Ziel, die Zahl der Schüler an den Startchancen-Schulen zu halbieren, die die Mindeststandards in Mathe und Deutsch nicht erreichen, ist nicht zu schaffen. Über die Säulen Schulbau, Schulbudget und Sozialarbeit Einfluss auf die Basis-Kompetenzen zu nehmen, ist nicht zielgenau. Dazu müsste man direkter auf den Einsatz der Lehrerkräfte und damit das Unterrichtsgeschehen einwirken. 

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Standpunkt

Warnke: “Lassen wir uns von den positiven Ambitionen anstecken!”

Markus Warnke ist seit mehr als zehn Jahren Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung.

Jetzt ist es endlich da: das Startchancen-Programm – die bereits vor mehr zwei Jahren im Koalitionsvertrag versprochene Unterstützung für 4.000 Schulen im Brennpunkt. Nach zähen und langwierigen Verhandlungen. Wer kann die vielen Treffen und Gespräche zwischen dem Bundesbildungsministerium und den Kultusministerien der Länder auf Arbeits-, Staatssekretärs- und Ministerebene zählen? Was für eine schwere Geburt. Und wie das so bei Neugeborenen ist: Für die Eltern ist es das süßeste Baby der Welt, die Erwartungen sind hoch, was aus der Kleinen oder dem Kleinen nicht alles werden soll.

So scheint es jetzt auch, wenn man die Kommentare von Bund und Ländern hört. Wer nicht zu den nahen Verwandten gehört, sieht eher das Schrumpelige, das Zerknautschte, die Schrammen und Beulen. Aber lassen wir uns doch von den positiven Ambitionen anstecken! Schließlich sind wir in Deutschland gut darin, alles von Anfang an schlecht zu reden. Wir wissen: Kinder sind lernfähig. Die Geburtsanlagen sind wichtig. Aber das eigentliche Potenzial hängt davon ab, wie liebevoll sich die Eltern um den Neuankömmling kümmern.

Chancenbudget weckt die meisten Hoffnungen

Wichtig ist, dass die eine Milliarde Euro, die der Bund zur Verfügung stellt und die auch die Länder in gleicher Höhe aufbringen, für die Ziele des Programms eingesetzt werden. Immerhin haben sich Bund und Länder zum Ziel gesetzt, den Anteil der Kinder, die die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch nicht erreichen, zu halbieren. Insgesamt zwei Milliarden Euro sind angesichts der Größe dieser Aufgabe ein überschaubarer Betrag.

Von den drei Säulen des Programms – Schulbau und -ausstattung, Chancenbudget sowie Personal für multiprofessionelle Teams – ist das Chancenbudget wohl am interessantesten und weckt die meisten Hoffnungen und Erwartungen. Ein Blick in den Beipackzettel zum Eckpunktepapier, das sogenannte “Orientierungspapier” zum Chancenbudget (zum Download), zeigt, dass die Länder viel Spielraum haben, diese Mittel zu verwenden. Die Länder haben offensichtlich gut verhandelt. Eine noch deutlichere Fokussierung auf die Stärkung von Basiskompetenzen wäre jedoch angebracht gewesen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses primäre Ziel des Programms auf Ebene der Schülerinnen und Schüler die Richtschnur sein wird.

Schulaufsicht muss Entwicklungsprozesse begleiten

Wichtiger als die drei Säulen ist jedoch das dahinterliegende Potenzial: bessere, das heißt wirksamere Konzepte für den Unterricht an diesen Schulen. Diese Schulentwicklungsprozesse müssen nun von den Ländern nicht nur initiiert, sondern auch begleitet werden. Vielfach sind die Strukturen und Unterstützungsangebote dafür bereits vorhanden, zum Beispiel in den Landesinstituten oder Schulaufsichten. Nun gilt es, den Blick besonders auf die Schulen im Brennpunkt zu richten.

Die Herausforderung liegt in der sozioökonomisch benachteiligten Schülerschaft und im Umfeld der Schülerinnen und Schüler und der Schulen. Die Unterstützung der Familien kann nicht wie sonst an deutschen Schulen als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Es geht um eine passgenaue Unterstützung. Auch diese Kinder und Jugendlichen müssen zum bestmöglichen Lernerfolg geführt werden.

Auf passgenaue Förderung kommt es an

Die klassischen Lehrpläne und die gängigen Lehrwerke passen häufig nicht zu den Lernvoraussetzungen und Bedarfen der Schülerschaft. Lehrkräfte brauchen spezielle, bereits erprobte Unterrichtskonzepte mit Materialien sowie Fortbildungsmöglichkeiten und Unterstützung bei spezifischen Herausforderungen. Wichtig ist auch eine verstärkte Diagnostik durch einen deutlich intensivierten Einsatz digitaler Tools, die eine Datenbasis für eine passgenaue Förderung liefern. Hier sind andere Länder im internationalen Vergleich deutlich weiter.

Das Ziel, den Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in den Fächern Mathematik und Deutsch nicht erreichen, zu halbieren, ist ambitioniert. Aber man sollte die Eltern des Programms nicht schon zu Beginn entmutigen, sondern unterstützen. Der Weg ist anspruchsvoll, das Ziel mit einer Kennziffer klar formuliert. Das ist für die deutsche Bildungspolitik ungewöhnlich und mutig. Mit der Diskussion um das Programm, so scheint es, ist in vielen Bundesländern die Bereitschaft gewachsen, im Unterricht, bei der Vermittlung von Basiskompetenzen besser zu werden. Indem man genauer hinschaut und die Schulen mit der Analyse und Weiterentwicklung nicht allein lässt.

Das kann ein Anfang für einen besseren Dialog von Bildungsadministration mit den Schulen sein. Und es kann der Beginn zu einer wirkungsorientierten Organisation aller Schulen werden. Das wäre ein echter Innovationsschub für das Bildungssystem. Das Programm hat Potenzial, wenn es ausgeschöpft wird.

Markus Warnke ist seit 2013 Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung, die sich vor allem in der Förderung von sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern engagiert. Zuvor war er im Kinder- und Jugendministerium von Nordrhein-Westfalen tätig.

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BILDUNG.TABLE REDAKTION

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    das Startchancen-Programm ist in trockenen Tüchern. 20 Milliarden Euro von Bund und Ländern über zehn Jahre, vor allem für Grundschulen in sozial schwierigen Lagen. Das Kernziel: Die Zahl der Schülerinnen und Schüler an den Startchancen-Schulen zu halbieren, die die Mindeststandards in Mathe und Deutsch nicht erreichen. 

    Ist das jetzt die große Antwort auf Pisa-Schock 2.0, IQB-Ernüchterung und Iglu-Alarm? Nicht ganz, wenn man auf die Einschätzung von drei renommierten Bildungsexperten schaut. Dagmar Wolf (Robert Bosch Stiftung), Benjamin Edelstein (WZB) und Marcel Helbig (LIfBi) schildern im Gespräch mit Table.Media, wie sie das bildungspolitische Vorzeige-Projekt der Ampel-Koalition einordnen. Sie sind skeptisch, ob mit der Programm-Struktur tatsächlich die Basis-Kompetenzen von Schülern verbessert werden können. Ein Gedanke, den auch Markus Warnke, Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung, in seinem Standpunkt deutlich formuliert. 

    Und trotzdem schwingt bei allen vier Bildungsexperten eine Menge Optimismus mit: Denn das Programm steht auch für einige bildungspolitische Durchbrüche. Nicht zuletzt: Alle 16 Bundesländer werden einen Sozialindex einführen. Dicke Bretter gibt es allerdings noch genug, die in Deutschlands Bildungslandschaft gebohrt werden müssen: Die künftige Rolle der Schulaufsicht gehört dazu. Genauso aber auch die fast ritualisierten Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern. Wie schön, dass beide beim Digitalpakt gleich wieder auf der Verhandlungsbühne stehen.

    Ihr
    Holger Schleper
    Bild von Holger  Schleper

    Analyse

    Durchbruch nach Klausurtagung: Was die Startchancen-Einigung für den Digitalpakt II bedeutet

    Gemeinsamer Auftritt bei der Bundespressekonferenz: die Bildungsministerinnen Prien, Hubig, Streichert-Clivot und Stark-Watzinger.

    Nach langen und zähen Verhandlungen gibt es eine Einigung: Das Startchancen-Programm kommt. In einer digitalen Sonderkonferenz haben die Kultusministerinnen und -minister die gemeinsam mit dem Bund erarbeiteten Vereinbarungen einstimmig verabschiedet. Auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger gab anschließend ihre Zustimmung.

    Wie Table.Media aus Teilnehmerkreisen erfuhr, stand in den finalen Verhandlungsrunden vor allem die Frage nach der Initialphase des Programms im Mittelpunkt. Im Gegensatz zum Vorschlag des Bundes drückten die Länder dabei dem Vernehmen nach offenbar auf die Bremse. Aufgrund der langwierigen Verhandlungen seien die Vorstellungen des BMBF in Teilen nicht mehr realisierbar, heißt es. Die wissenschaftliche Begleitung beispielsweise könne erst mit Verzögerung beginnen.

    Das Programm beginnt zunächst nur mit einem Teil der geplanten 4.000 Schulen. Laut Bund-Länder-Vereinbarung sollen ab dem ersten Programmjahr mindestens 1.000 Schulen an den Start gehen. Spätestens zum Schuljahr 2026/27 sollen dann alle benannt sein. Die Auswahl der ersten Schulen muss in den Ländern bis zum 1. Juni erfolgt sein. Da dafür ein Sozialindex erforderlich ist, steht auch fest, dass jedes Land in den kommenden Monaten seine Sozialkriterien ausformuliert haben muss. Sie müssen den dafür im Programm gesetzten Vorgaben entsprechen. Schulen, die ab dem Schuljahr 2025/26 und danach Teil des Programms werden, benennt jedes Land wiederum bis spätestens zum 1. Juni 2025 – der zweite Stichtag.

    Bürokratie als “Wermutstropfen”

    Stefanie Hubig, Bildungsministerin in Rheinland-Pfalz und Koordinatorin der A-Länder in der KMK, sprach von einem “langen Weg bis zum heutigen Tag”, der sich aber gelohnt habe. Als Stärke des Programms hob sie die Sozialindexierung hervor, “für die sich vor allem die A-Länder von Anfang an eingesetzt haben”. Auf Grundlage der Indizes sollen die Mittel an die Länder verteilt und die 4.000 Startchancen-Schulen ausgewählt werden. “Jetzt müssen wir die Ärmel hochkrempeln, damit die Hilfe schnell ankommt”, sagte Hubig. Hilfreich sei dabei, dass es durch die Bund-Länder-Initiative “Schumas” und einzelne Länderprogramme schon Erfahrungen gebe, die mit in das Startchancen-Konzept eingeflossen seien. “Gleichwohl wird die flächendeckende Umsetzung auch etwas Zeit brauchen”, so die SPD-Politikerin.

    Ähnlich äußerte sich Schleswig-Holsteins Bildungsministerin und B-Länder-Koordinatorin Karin Prien. “Das ist ein guter Tag für gerechtere Bildung in Deutschland, auch wenn es ein sehr langer und beschwerlicher Weg gewesen ist.” Ein “Wermutstropfen” des Programms sei die bürokratische Belastung, die Schulen und Schulträgern durch das Programm drohe.

    Die Bund-Länder-Vereinbarung sowie die Verwaltungsvereinbarung zur Gewährung von Finanzhilfen des Bundes sollen nun “sternförmig”, also in Kopien an die 16 Länder verschickt und abschließend von Stark-Watzinger unterzeichnet werden. Erst wenn alle Unterschriften vorliegen, kann Bundesfinanzminister Christian Lindner eine Änderung des Finanzausgleichsgesetzes einleiten. Diese ist notwendig, da die Säulen II und III durch Umsatzsteuerpunkte statt durch direkte Haushaltsmittel finanziert werden sollen. Läuft alles nach Plan, kann das Programm zum 1. August 2024 starten.

    “Substanzielle Fortschritte” beim Digitalpakt

    Vorausgegangen war der Einigung eine Klausurtagung zwischen Bund und Ländern zum Digitalpakt II. Zwei Tage lang hatten die Vertreter zunächst auf Arbeits- und später auf Amtsleiterebene über eine Fortsetzung des Ende Mai 2024 auslaufenden Digitalpakts Schule verhandelt. Insbesondere aus den Reihen der unionsgeführten Länder hatte es bis zuletzt deutliche Stimmen gegeben, dem Startchancen-Programm nur zustimmen zu wollen, wenn der Bund seine Zusage für den Digitalpakt II gibt.

    Die Ergebnisse der Klausurtagung standen dem Vernehmen nach auch im Mittelpunkt der Sonder-KMK am Freitagmorgen. In der Pressekonferenz am Nachmittag sagte KMK-Präsidentin Christine Streichert-Clivot, die Länder hätten vom Bundesbildungsministerium “ein klares Bekenntnis” zum Digitalpakt II erhalten. Auch Prien sprach zunächst von “substanziellen Fortschritten”.

    “Erhebliche Differenzen” bei der Finanzierung

    Mit Blick auf das Geld gibt es allerdings noch erhebliche Differenzen. Stark-Watzinger verwies darauf, dass sie zunächst über das Konzept sprechen wolle. Streichert-Clivot sagte, das Finanzierungsvolumen sei “noch offen”. Prien hingegen wurde deutlicher: Der zweite Digitalpakt dürfe “sowohl vom Volumen als auch der finanziellen Belastungen nicht hinter dem ersten Digitalpakt zurückstehen”, forderte die CDU-Politikerin. In der Frage, wie sich Bund und Länder die Finanzierung untereinander aufteilen, gebe es Prien zufolge allerdings “erhebliche Differenzen”. Im nun auslaufenden Digitalpakt Schule sind die Länder lediglich mit 10 Prozent an den Kosten beteiligt. Den Rest trägt der Bund. Stark-Watzinger schwebt nun allerdings eine 50:50-Verteilung vor.

    Im März ist nach Informationen von Table.Media eine weitere Klausurtagung zum Digitalpakt angesetzt. Bis zum 16. Mai 2024 soll die Bund-Länder-Vereinbarung stehen – zeitgleich also mit dem Auslaufen des ersten Digitalpakts. Ab wann die Mittel dann fließen sollen, ließen sowohl Stark-Watzinger als auch die drei Landesministerinnen allerdings unbeantwortet.

    • Bettina Stark-Watzinger
    • Bildung
    • Bildungsföderalismus
    • Bildungspolitik
    • Karin Prien
    • Kultusminister
    • Schulträger
    • Startchancen-Programm
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    Bildungsexperten: “Das ist jetzt die Stunde der Schulaufsicht”

    Marcel Helbig, Dagmar Wolf, Benjamin Edelstein
    Die Bildungsexperten Dagmar Wolf, Marcel Helbig (l.) und Benjamin Edelstein haben sich seit Beginn der Verhandlungen mit dem Startchancen-Programm befasst.

    Das Startchancen-Programm ist das zentrale schulpolitische Projekt der Ampel-Koalition. Während der langen Verhandlungsphase haben auch Bildungswissenschaft und weitere Bildungsakteure viele Impulse eingebracht. So hatte das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) gemeinsam mit der Robert Bosch Stiftung ein “Expert:innenforum Startchancen” etabliert. Table.Media hat den daran beteiligten Bildungsforscher vom WZBBenjamin EdelsteinDagmar Wolf, Leiterin des Bereichs Bildung bei der Robert Bosch Stiftung, und Marcel Helbig, Bildungsforscher am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, befragt, wie es jetzt weitergehen muss. 

    Seit heute steht endgültig fest: Im August beginnt das Startchancen-Programm. Was muss jetzt passieren, damit die Umsetzung gelingt?

    Edelstein: Ganz entscheidend wird sein, wie die Unterstützungsstrukturen in den Ländern ausgebaut werden. Die sind nicht überall in einer Verfassung, dass sich das Programm locker umsetzen ließe. Die Schulaufsicht spielt dabei eine zentrale Rolle. In der Schulentwicklungsberatung sind die Konstruktionen in den Ländern grundsätzlich noch sehr diffus und die Qualifikationen sehr uneinheitlich.

    Wolf: Die Schulentwicklungsberatung ist der Dreh- und Angelpunkt. Sie muss auf den Bedarf von Schulen in kritischer Lage spezialisiert sein. Wir brauchen hier speziell qualifizierte Fachleute, die die individuellen Probleme der Schule erkennen und die benötigten Bedarfe daraus ableiten und mit den Schulen in die konkrete Planung gehen.

    Zu große Freiheiten können für Schulen auch zum Problem werden

    Das Programm betont auch die Stärkung der Schulautonomie. Schulen erhalten ein sogenanntes Chancenbudget: Ein Drittel zur freien Verfügung, zwei Drittel nach den Vorgaben eines Handlungsrahmens. Der richtige Weg?

    Wolf: Unsere Erfahrung zeigt: Wenn Sie Schulen in kritischer Lage zu viele Freiheiten geben, sind viele total verloren. Wir brauchen konkrete, wenige Angebote, die dann aber wirklich qualitativ hochwertig sind. Das ist jetzt die Stunde der Schulaufsicht und der schon erwähnten qualifizierten Fachberatungen, und zwar in beratender Rolle. Sie müssten mit den Schulen einen Plan für diese freien Mittel entwickeln. Die Qualifizierung von Schulleitungen unter Einbeziehung der Schulaufsicht könnte ein wichtiger Hebel sein, um die wichtige Rolle der Schulaufsicht deutlich zu machen.

    Edelstein: Zum erfolgreichen Umgang mit Schulbudgets fehlt vielfach die wissenschaftliche Evidenz. Außerdem mangelt es häufig an Schulentwicklungskapazitäten. Auch deshalb dürfen die Schulen damit nicht allein gelassen werden.

    Helbig: In meiner Wahrnehmung gibt es im Programm einen gewissen Zwang: Wer nach Sozialindex ausgewählt wird, soll teilnehmen. Schulen auszusparen, die sich nicht in der Lage sehen, teilzunehmen, ist auch nicht der richtige Weg. Das macht es allerdings noch wichtiger, sie gut zu beraten.

    Das Programm bringt es mit sich, dass alle Bundesländer zur Auswahl der Schulen einen Sozialindex entwickeln müssen.

    Helbig: Das hätte ich noch vor zwei Jahren nicht für möglich gehalten. Soweit ich es sehe, hat sich jedes Land nach seinen Möglichkeiten auf den Weg gemacht. Nur beispielhaft: Brandenburg hat das gerade fertiggestellt, Baden-Württemberg ist auch soweit, und Bayern arbeitet mit Hochdruck daran. Es ist ein Quantensprung, was das BMBF hier in der Länder-Zusammenarbeit bewirkt hat. 

    Helbig: Migration bei Mittelverteilung zu stark gewichtet

    Mindestanforderung für den Sozialindex ist, dass er die Kriterien Armut und Migration berücksichtigt. Ist das ein guter Wegweiser für die Länder?

    Helbig: Die Migration wird bei der Mittelverteilung zu stark gewichtet. Das ist meines Erachtens auch der Grund, warum Baden-Württemberg in Säule eins des Programms, also bei der Schulausstattung, offenbar mehr bekommt als nach dem aktuell gültigen Königsteiner Schlüssel. Migration ist ein sehr ungenaues Kriterium, denn es umfasst türkische Einwanderer in zweiter und dritter Generation genauso wie Flucht-Zuwanderung oder die Zuwanderung von Hochqualifizierten aus Großbritannien. Ich würde den Faktor Kinderarmut viel stärker einbringen.

    Welche Rolle wird der Fachkräftemangel für die Umsetzung des Programms spielen?

    Edelstein: Er wird die Säule zwei, also das Schulbudget, massiv betreffen. Alle Bereiche brauchen mindestens stundenweise mehr Personal. Man kann tolle Maßnahmen beschreiben, aber irgendjemand muss sie auch umsetzen. 

    Helbig: Das gilt auch für die multiprofessionellen Teams in Säule drei. Ich kann mir schwer vorstellen, dass das Geld vollständig abgerufen wird. Ursprünglich hieß diese Säule Schulsozialarbeit. Dass man diesen Begriff zu multiprofessionellen Teams erweitert hat, könnte auch der Erkenntnis geschuldet sein, dass man gerade im Bereich Sozialarbeit nicht die Personen bekommen wird, die man gerne einstellen würde. 

    Wolf: Man muss dem jetzt eine Chance geben

    20 Milliarden Euro, etwa 4.000 Schulen, eine Laufzeit von zehn Jahren: Ist das ein bildungspolitischer Durchbruch?

    Wolf: Es ist ein Anfang. Ich finde es gut, dass das Programm so langfristig angelegt ist und auch immer wieder in seinen Zielen und Maßnahmen überprüft wird. Man muss dem jetzt eine Chance geben und darf es nicht von Beginn an in Zweifel ziehen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es in der Größenordnung nicht reicht. Aber wir können aus diesem Programm lernen und müssen dann überlegen, wie wir das Gelernte in einen noch größere Rahmen setzen, um viel mehr Schulen zu erreichen. 

    Helbig: Ich sehe an einigen Stellen einen Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik. Sei es beim Sozialindex oder der angestrebten Einbindung der individualstatistischen Verlaufsdaten der Länder für die Evaluation. Es gibt viele richtige und wichtige Dinge. Das große Aber: Das genannte Ziel, die Zahl der Schüler an den Startchancen-Schulen zu halbieren, die die Mindeststandards in Mathe und Deutsch nicht erreichen, ist nicht zu schaffen. Über die Säulen Schulbau, Schulbudget und Sozialarbeit Einfluss auf die Basis-Kompetenzen zu nehmen, ist nicht zielgenau. Dazu müsste man direkter auf den Einsatz der Lehrerkräfte und damit das Unterrichtsgeschehen einwirken. 

    • Bettina Stark-Watzinger
    • Bildungsföderalismus
    • Bildungsforschung
    • Bildungspolitik
    • BMBF
    • Kinderarmut
    • Multiprofessionelle Teams
    • Schulaufsicht
    • Schulbudgets
    • Schulträger
    • Sozialindex
    • Startchancen
    • Startchancen-Programm

    Standpunkt

    Warnke: “Lassen wir uns von den positiven Ambitionen anstecken!”

    Markus Warnke ist seit mehr als zehn Jahren Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung.

    Jetzt ist es endlich da: das Startchancen-Programm – die bereits vor mehr zwei Jahren im Koalitionsvertrag versprochene Unterstützung für 4.000 Schulen im Brennpunkt. Nach zähen und langwierigen Verhandlungen. Wer kann die vielen Treffen und Gespräche zwischen dem Bundesbildungsministerium und den Kultusministerien der Länder auf Arbeits-, Staatssekretärs- und Ministerebene zählen? Was für eine schwere Geburt. Und wie das so bei Neugeborenen ist: Für die Eltern ist es das süßeste Baby der Welt, die Erwartungen sind hoch, was aus der Kleinen oder dem Kleinen nicht alles werden soll.

    So scheint es jetzt auch, wenn man die Kommentare von Bund und Ländern hört. Wer nicht zu den nahen Verwandten gehört, sieht eher das Schrumpelige, das Zerknautschte, die Schrammen und Beulen. Aber lassen wir uns doch von den positiven Ambitionen anstecken! Schließlich sind wir in Deutschland gut darin, alles von Anfang an schlecht zu reden. Wir wissen: Kinder sind lernfähig. Die Geburtsanlagen sind wichtig. Aber das eigentliche Potenzial hängt davon ab, wie liebevoll sich die Eltern um den Neuankömmling kümmern.

    Chancenbudget weckt die meisten Hoffnungen

    Wichtig ist, dass die eine Milliarde Euro, die der Bund zur Verfügung stellt und die auch die Länder in gleicher Höhe aufbringen, für die Ziele des Programms eingesetzt werden. Immerhin haben sich Bund und Länder zum Ziel gesetzt, den Anteil der Kinder, die die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch nicht erreichen, zu halbieren. Insgesamt zwei Milliarden Euro sind angesichts der Größe dieser Aufgabe ein überschaubarer Betrag.

    Von den drei Säulen des Programms – Schulbau und -ausstattung, Chancenbudget sowie Personal für multiprofessionelle Teams – ist das Chancenbudget wohl am interessantesten und weckt die meisten Hoffnungen und Erwartungen. Ein Blick in den Beipackzettel zum Eckpunktepapier, das sogenannte “Orientierungspapier” zum Chancenbudget (zum Download), zeigt, dass die Länder viel Spielraum haben, diese Mittel zu verwenden. Die Länder haben offensichtlich gut verhandelt. Eine noch deutlichere Fokussierung auf die Stärkung von Basiskompetenzen wäre jedoch angebracht gewesen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses primäre Ziel des Programms auf Ebene der Schülerinnen und Schüler die Richtschnur sein wird.

    Schulaufsicht muss Entwicklungsprozesse begleiten

    Wichtiger als die drei Säulen ist jedoch das dahinterliegende Potenzial: bessere, das heißt wirksamere Konzepte für den Unterricht an diesen Schulen. Diese Schulentwicklungsprozesse müssen nun von den Ländern nicht nur initiiert, sondern auch begleitet werden. Vielfach sind die Strukturen und Unterstützungsangebote dafür bereits vorhanden, zum Beispiel in den Landesinstituten oder Schulaufsichten. Nun gilt es, den Blick besonders auf die Schulen im Brennpunkt zu richten.

    Die Herausforderung liegt in der sozioökonomisch benachteiligten Schülerschaft und im Umfeld der Schülerinnen und Schüler und der Schulen. Die Unterstützung der Familien kann nicht wie sonst an deutschen Schulen als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Es geht um eine passgenaue Unterstützung. Auch diese Kinder und Jugendlichen müssen zum bestmöglichen Lernerfolg geführt werden.

    Auf passgenaue Förderung kommt es an

    Die klassischen Lehrpläne und die gängigen Lehrwerke passen häufig nicht zu den Lernvoraussetzungen und Bedarfen der Schülerschaft. Lehrkräfte brauchen spezielle, bereits erprobte Unterrichtskonzepte mit Materialien sowie Fortbildungsmöglichkeiten und Unterstützung bei spezifischen Herausforderungen. Wichtig ist auch eine verstärkte Diagnostik durch einen deutlich intensivierten Einsatz digitaler Tools, die eine Datenbasis für eine passgenaue Förderung liefern. Hier sind andere Länder im internationalen Vergleich deutlich weiter.

    Das Ziel, den Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in den Fächern Mathematik und Deutsch nicht erreichen, zu halbieren, ist ambitioniert. Aber man sollte die Eltern des Programms nicht schon zu Beginn entmutigen, sondern unterstützen. Der Weg ist anspruchsvoll, das Ziel mit einer Kennziffer klar formuliert. Das ist für die deutsche Bildungspolitik ungewöhnlich und mutig. Mit der Diskussion um das Programm, so scheint es, ist in vielen Bundesländern die Bereitschaft gewachsen, im Unterricht, bei der Vermittlung von Basiskompetenzen besser zu werden. Indem man genauer hinschaut und die Schulen mit der Analyse und Weiterentwicklung nicht allein lässt.

    Das kann ein Anfang für einen besseren Dialog von Bildungsadministration mit den Schulen sein. Und es kann der Beginn zu einer wirkungsorientierten Organisation aller Schulen werden. Das wäre ein echter Innovationsschub für das Bildungssystem. Das Programm hat Potenzial, wenn es ausgeschöpft wird.

    Markus Warnke ist seit 2013 Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung, die sich vor allem in der Förderung von sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern engagiert. Zuvor war er im Kinder- und Jugendministerium von Nordrhein-Westfalen tätig.

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