wir begrüßen Sie zum Late-Night-Memo für die Hauptstadt. Diese Informationen bieten wir Ihnen heute Abend:
Talk of the Town: Vom Polarisierer zum Bündniskanzler? Was Friedrich Merz jetzt bevorsteht
Strategie gegen AfD: “Union ziemlich erbärmlich gescheitert”
Zäsur bei der SPD: Der Parteichef will den Generationenwechsel
Stimmung in der Union: Ein bisschen Glück, ein bisschen Enttäuschung
FDP in Existenznot: Zukunft der Partei ist vollkommen offen
Enttäuschte Grüne: Schönreden eines schlechten Ergebnisses
Zitterpartie beim BSW: Sahra Wagenknecht auf Fehlersuche
Linke: Kurzer Freudentaumel und eine Kampfansage
AfD: Überraschend verhaltener Jubel
Wahlkreise: So haben die Spitzenkandidaten abgeschnitten
Table.Today Podcast: Interviews und Analysen zur Bundestagswahl
Table.Documents: Terminübersicht für die Tage nach der Wahl + Stellungnahme der Bundesärztekammer zu KI in der Medizin
Heads: Gregor Gysi + Alexander Gauland + Hendrik Streeck
Best of Table: Entschärfte Lieferketten-Richtlinie + Proteste gegen Meloni + Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen
Must-Reads: Kommentare zur Bundestagswahl
Nachttisch: “Berlin Code” – Podcast des ARD-Hauptstadtstudios
Vom Polarisierer zum Bündniskanzler? Was Friedrich Merz jetzt bevorsteht
Von Stefan Braun und Sven Siebert
Friedrich Merz droht, was er unbedingt vermeiden wollte: eine hochkomplexe Lage nach der Wahl und fürs Erste keine klare Perspektive. Der zuletzt scharf polarisierende Kanzlerkandidat der Union muss jetzt eine Koalition schmieden, wie er sie sich nie gewünscht hat. Wenn er am Ende dieser Wahlnacht nicht viel Glück hat, dürfte es eine historisch schwierige Aufgabe werden. Sie verlangt gegenüber nötigen Partnern eine Zugewandtheit und Kompromissbereitschaft, die Merz zuletzt nicht ausstrahlte. Er muss für seinen versprochenen Politikwechsel werben und zugleich Zugeständnisse machen; schwerer könnten die nächsten Tage kaum werden.
Falls es nicht für Schwarz-Rot reicht, muss Merz versuchen, ein Dreier-Bündnis mit SPD und Grünen zu schließen. Aber Merz’ letzter Wahlkampfauftritt in München, der seit Samstag bei Freund und Feind viral geht, hat viele in der SPD derart provoziert, dass ihre künftige Führung schon mit Verweis auf ihre Basis für eine Beteiligung an einem Bündnis einen immens großen Preis verlangen könnte. Auch manche CDU-Granden haben so eine Entwicklung befürchtet – und werden das Merz nicht öffentlich, aber subtil wissen lassen.
Merz hatte bis zuletzt einen Wahlkampf gegen Rot und Grün geführt und dabei offenbar auf Zugewinne aus der Gruppe der potenziellen AfD-Wähler gesetzt. Er und seine Leute haben ihre Rhetorik aber schon unmittelbar nach Schließung der Wahllokale deutlich verändert. In der Berliner Runde flackerten zwischen Union, SPD und Grünen die Gefechte der vergangenen Tage nur noch kurzzeitig auf. Merz hatte schon in seiner ersten Reaktion im Konrad-Adenauer-Haus erklärt, es sei richtig gewesen, einen “sehr harten Wahlkampf” zu führen. “Aber jetzt werden wir miteinander reden. Wir müssen so schnell wie möglich eine stabile Regierung bilden, mit guter stabiler Mehrheit. Die Welt da draußen wartet nicht.” Seine Rede von “linken und grünen Spinnern” sei nicht auf die politischen Mitbewerber gemünzt gewesen, sondern auf “die sogenannte Antifa”, die ihn als Faschist und Nazi beschimpft hatte. Und Thorsten Frei betonte, die Union werde grundsätzlich mit allen sprechen, “die in der demokratischen Mitte für eine Mehrheitsbildung in Frage kommen”. Damit schloss er die Grünen ein, die Alexander Dobrindt am Vortag in München noch ausdrücklich aus der politischen Mitte ausgeschlossen hatte.
Auch bei SPD und Grünen bemühte man sich, schnell von den Bäumen herunterzukommen, auf die man sich von Merz getrieben sah. Als Robert Habeck in der Berliner Runde nach seiner Reaktion auf Merz’ Äußerungen aus dem Löwenbräukeller gefragt wurde, antwortete er nur noch: “Ist egal jetzt.” Der sichtlich erschöpfte Bundeskanzler Olaf Scholz bemühte sich, in der Niederlage Würde zu bewahren. Er erklärte, er werde nicht der Verhandlungsführer der SPD sein, signalisierte aber: “Wir werden sicher Wege finden, über eine Zusammenarbeit zu sprechen.” Und Boris Pistorius, der nun wohl eine wichtigere Rolle in der SPD spielen wird, hatte bereits am früheren Abend gesagt, seine Partei hoffe, dass die Union mit Merz “nach der Rede von gestern” nun den richtigen Ton treffe. “Wir waren immer gesprächsbereit, wir sind es.”
Merz und Habeck benannten die drängendsten Herausforderungen in möglichen Verhandlungen. Merz stellt die Frage, “ob wir nicht sehr viel schneller eigenständige europäische Verteidigungspolitik herstellen müssen”. Europa stehe “von zwei Seiten so massiv unter Druck, dass es meine Priorität ist, Einigkeit in Europa herzustellen”. Habeck machte darauf aufmerksam, dass voraussichtlich eine verfassungsändernde Mehrheit im künftigen Bundestag fehle, um die Schuldenbremse zu reformieren. “Ohne die Reform der Schuldenbremse wird es nicht gehen”, sagte Habeck. “Wir werden Unsummen brauchen.” Die Fragen nach Verteidigung, der Ukraine, dem Verhältnis zu den USA müsse man “vor die Klammer” ziehen. Markus Söder erinnerte an dieser Stelle indes wieder an andere Streitfragen. Die Wähler wollten – Stichwort: Migration – einen Politikwechsel. “Die, die nicht den großen Auftrag bekommen haben, müssen erkennen, dass die Menschen etwas anderes wollten als die alte Politik, die alte Ampel”, sagte der CSU-Vorsitzende. Das klang danach, als müsse aus seiner Sicht mindestens auch die Migrationspolitik vor die Klammer.
Thorsten Faas von der FU Berlin glaubt, die Regierungsbildung werde erneut schwierig werden, insbesondere, wenn auch die Grünen fürs Regieren gebraucht würden. “Es wird nicht alles wieder gut werden”, sagt er Table.Briefings. “Lagerübergreifend werden die Gegensätze bleiben”, sagt er voraus. Die FDP würde durch die Union ersetzt, aber die programmatischen und kulturellen Unterschiede blieben ja doch bestehen. “Vermutlich wären dann die Grünen das Problem der Koalition”, mutmaßt er. Überrascht ist Faas von der Wahlbeteiligung: “Aber offensichtlich war vielen Menschen klar, dass etwas auf dem Spiel steht.”
Strategie gegen AfD: “Union ziemlich erbärmlich gescheitert”. Das sagt die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch von der Akademie für politische Bildung in Tutzing Table.Briefings. Stattdessen habe man “immer nur erklärt, warum man die Grünen nicht wählen soll”. Das gelte vor allem für die CSU, deren Parteichef Markus Söder jegliche Zusammenarbeit mit den Grünen stets kategorisch ausgeschlossen hat. Der scharfe Anti-Grünen-Wahlkampf der CSU hatte nach Einschätzung von Münch aber nicht den erhofften Erfolg. Denn auch in Bayern hat die AfD ihr Ergebnis fast verdoppelt.
Das könnte nach Einschätzung von Münch auch in der CSU zu Diskussionen über die eigene Wahlstrategie führen. Da werde man Söder möglicherweise “schon einen Vorwurf machen”. Münch rechnet nicht damit, dass Söder öffentlich von seiner Position zu den Grünen abrückt, bis nicht endgültig klar ist, dass man sie für eine Koalition brauchen wird. In seiner ersten Reaktion ließ der CSU-Chef nur eine ganz vorsichtige Bewegung erkennen. Mit den Grünen zu regieren, sei “ein echtes No-Go”, sagt Söder, fügte aber den Halbsatz hinzu, “wenn es irgendwie geht”. Peter Fahrenholz
Zäsur bei der SPD: Der Parteichef will den Generationenwechsel. Man hatte in der SPD-Führungsetage noch dunklere Szenarien in der Schublade – ganz so schlimm kam es dann doch nicht. Von personellen Konsequenzen wollte erst einmal niemand öffentlich sprechen – nicht zuletzt aus Rücksicht auf die Hamburg-Wahl am kommenden Sonntag. Und doch: “Organisatorisch, programmatisch und personell” bedürfe es einer Neuaufstellung, das Ergebnis sei “eine Zäsur”, befand Lars Klingbeil, und: “Der Generationenwechsel muss eingeleitet werden.” Nicht selbstverständlich, aber offensichtlich, dass er selbst dabei eine Rolle spielen will – auch in der Fraktion.
Rolf Mützenich wird einem Wechsel nicht im Weg stehen. Das zeichnete sich am Sonntagabend ab. Mützenich und Klingbeil hatten sich nach Informationen von Table.Briefings an Freitag und Samstag verständigt. Und doch wird der mutmaßliche Machtzuwachs für den Parteichef Debatten auslösen. Am Abend traf sich das Präsidium, bereichert um die SPD-Ministerpräsidenten, um in punkto Neuaufstellung genau diese Fragen zu besprechen. Auch die geschrumpfte Fraktion wird das Thema am Mittwoch, wenn die Wahl eines neuen Vorsitzenden ansteht, intensiv diskutieren. Und weil es die SPD ist, wird es nicht ohne Kontroversen gehen.
Klar ist, dass auf den Fraktionschef eine Menge Arbeit zukommen wird. Erst recht, sollte es eine Zweier-Koalition werden und die Mehrheit knapp ausfallen. Zumal Friedrich Merz mit seinem Auftritt am Samstag in München die Annäherung nicht unbedingt erleichtert hat. Anti-Rechts-Demonstranten hatte er mit “irgendwelche grünen und linken Spinner auf dieser Welt” etikettiert, die nicht “alle Tassen im Schrank haben”. Taktisch nicht unbedingt geschickt, denn in den Chatgruppen der SPD war die Empörung groß. “Mir muss niemand mit staatsbürgerlicher Verantwortung kommen”, kritisierte ein erfahrenes Vorstandsmitglied mit Blick auf Koalitionsverhandlungen. “So spricht niemand, der Kanzler für alle sein will – so spricht ein Mini-Trump”, kritisierte auch Generalsekretär Matthias Miersch.
Ein bitterer Nebenaspekt: Die SPD-Fraktion wird im Bundestag wohl den Otto-Wels-Saal aufgeben müssen. Benannt nach dem Sozialdemokraten, der 1933 seine Partei in einem flammenden Auftritt zum Widerstand gegen das Ermächtigungsgesetz aufgerufen hat. Seit 1999 war er Treffpunkt der SPD-Abgeordneten. Dass ausgerechnet die AfD ihre Ansprüche bereits angemeldet hat, macht den Verlust für die Fraktion doppelt schmerzhaft. Horand Knaup
Translation missing.Stimmung in der Union: Ein bisschen Glück, ein bisschen Enttäuschung. Im überfüllten Konrad-Adenauer-Haus gibt es am Abend viele, die sich offiziell sehr zufrieden geben. Ob die Ministerpräsidenten Hendrik Wüst, Mario Voigt oder Boris Rhein oder Vertreter der Parteispitze wie Carsten Linnemann und Karin Prien: Alle strahlen erst mal und klatschen Beifall, als Friedrich Merz auftritt. Schon nach einer Legislatur zurück an die Macht – das hat es historisch selten gegeben. Deshalb wollen das alle auch erst mal entsprechend begehen.
Hinter den Kulissen aber gibt es nicht wenige, die das Ergebnis enttäuschend finden. Und so mancher von denen hat noch vor wenigen Tagen in Hintergründen erklärt, dass sich alles unterhalb der 30 Prozent wie eine Niederlage anführen werde. Der Zweifel an Merz ist auch nach der Wahl nicht ganz verschwunden; nicht nur bei der SPD ist sein Auftritt in München vielen aufgestoßen. “Das hätte es nicht gebraucht”, ist ein Satz, den man häufig hört. Verbunden mit einem ständigen Blick auf die Bildschirme, weil – je länger der Abend läuft – ein Szenario näher rückt, das man hier wie nichts anderes fürchtet: Mehrheitsverhältnisse, die die Grünen wieder ins Spiel bringen.
Offene Kritik kommt von Thomas Heilmann, dem Vorsitzenden der Klima-Union, der nicht erneut angetreten war. “Von den Wählern, die sich von der Ampel abgewandt haben, konnte die Union nicht mal jeden dritten für sich gewinnen”, sagte er Table.Briefings. “Die Verengung des Wahlkampfs auf das Thema Migration war sicher ein Fehler.” Stefan Braun, Malte Kreutzfeldt
Translation missing.FDP in Existenznot: Zukunft der Partei ist vollkommen offen. Sie hoffte zunächst, doch der Trend der Hochrechnungen spricht eher dafür, dass die Partei aus dem Bundestag ausscheidet. Christian Lindner führt sie damit wieder dorthin zurück, wo er sie 2013 übernommen hat: in die außerparlamentarische Opposition. Schon die Analyse der Wahlniederlage spaltet die Partei: Der wirtschaftskonservative Flügel sieht den Fehler darin, in die Ampel-Koalition eingetreten zu sein und zu lange an ihr festgehalten zu haben. Er sieht sich durch die starke Wählerwanderung zu Union und AfD bestätigt. Im sozialliberalen Lager wiederum kritisiert man den Kurs, sich zu sehr an die Seite der Union gestellt und die Wähler rechts der Mitte gesucht zu haben. Der Wille zur Geschlossenheit täuschte in den letzten Jahren darüber hinweg, dass die Partei in vielen inhaltlichen Fragen tief gespalten ist.
Die Antworten auf diese Fragen werden auch Einfluss auf die personelle Neuaufstellung haben. Lindner kündigte in der Berliner Runde bereits seinen Abschied aus der Politik an. Wer ihm folgt, ist vollkommen offen. Auch eine Doppelspitze wird von einflussreichen Parteimitgliedern ins Spiel gebracht. “Einen Messias im Wartestand, wie 2013 Lindner, gibt es derzeit nicht”, sagte ein Vorstandsmitglied. Häufig fallen die Namen von Parteivize Johannes Vogel und Fraktionschef Christian Dürr. Unklar ist jedoch, ob sie ihre politische Karriere in der APO überhaupt fortsetzen wollen. Die Partei müsste dem neuen Chef dann ein Gehalt zahlen. Die Blicke richten sich daher auch auf diejenigen, die weiter ein Mandat haben und den Parteivorsitz im Ehrenamt übernehmen könnten, wie Lindner es 2013 als NRW-Landtagsabgeordneter getan hatte. Dazu gehören allen voran Europaparlamentarierin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sowie ihre Parlamentskollegen Svenja Hahn und Moritz Körner sowie die Landeschefs Hans-Ulrich Rülke (Baden-Württemberg) und Henning Höne (NRW). Und was viele nicht wissen: Parteivize Wolfgang Kubicki hat als ehemaliger Bundestagsvizepräsident vier Jahre lang Anspruch auf ein Büro in Berlin mit Mitarbeitern und Fahrdienst. Maximilian Stascheit
Translation missing.Enttäuschte Grüne: Schönreden eines schlechten Ergebnisses. Im Festsaal Kreuzberg war der Jubel über die Nachricht, dass die FDP die Fünf-Prozent-Hürde wohl knapp verpassen würde, lauter als der über das eigene Ergebnis. Schon am frühen Abend war klar, dass die Partei die Marke von 2021 mit 14,8 Prozent nicht erreichen würde – die vor dreieinhalb Jahren als Enttäuschung gewertet wurde. Doch die Grünen gaben sich alle Mühe, die Niederlage im Rennen um das Kanzleramt weich zu zeichnen. Die beiden anderen Ampelparteien hätten viel schlechter abgeschnitten. In absoluten Zahlen liege man ähnlich wie 2021 – der Verlust von rund zwei Prozentpunkten liege an der hohen Wahlbeteiligung. Soll heißen: Robert Habeck hat nicht schlechter abgeschnitten als Annalena Baerbock. Aber die Bedingungen seien so viel schlechter gewesen, anders als 2021 kein gesellschaftlicher Rückenwind, sondern starker Gegenwind; die feindliche Haltung von CDU, CSU, FDP, schlechte Wirtschaftsdaten. Das kann man lesen als: Das Ergebnis war mindestens so gut wie 2021.
Auch der Kanzlerkandidat selbst sprach über seine Enttäuschung erst in Minute drei seiner Rede. Stattdessen: “Das war der Wahlkampf, von dem ich geträumt habe.” Die Grünen hätten sich “rausgekämpft” aus dem Loch nach dem Bruch der Ampel. “Wir waren auf einem guten Weg”, dann habe Friedrich Merz mit der AfD abgestimmt. Aber dem Druck, eine Koalition mit der CDU auszuschließen, habe man nicht nachgeben können, sagte Habeck. Zu sagen, “wir wollen nicht regieren”, wäre für ihn “nicht möglich gewesen”. Damit trat Habeck bereits am Abend der aufkeimenden Kritik entgegen, dass sein Kurs ausschlaggebend dafür gewesen sei, dass die Grünen so stark an die Linke verloren hätten.
Die Hoffnung der Grünen ist, dass sie sich noch in eine Kenia-Regierung retten können. Die Probleme einer Deutschland-Koalition – sollte diese nötig sein -, wurden am Abend von Grünen schon prophylaktisch ausgebreitet: schlechtes Verhältnis SPD/FDP, Streit über Schuldenbremse. Wenn die Grünen nicht Teil der neuen Bundesregierung werden, ist die Zukunft von Habeck unklar. Von ersten Parteilinken wurde schon am Abend vorsichtig intoniert, er habe nun seine Chance gehabt; andere verteidigten seinen Kurs. Baerbock, die in der Partei deutlich besser vernetzt ist, dürfte im Oppositionsszenario nach der Realo-Position im Fraktionsvorsitz greifen. Helene Bubrowski
Translation missing.Zitterpartie beim BSW: Sahra Wagenknecht auf Fehlersuche. Die sonst so kämpferische und rhetorisch geschickte Parteichefin ist wortkarg. Der Höhenflug ihrer jungen Partei scheint erst einmal beendet. Das frühe Ampel-Aus habe das BSW natürlich schon auf dem kalten Fuß erwischt, gibt Wagenknecht zu: “Wir hatten ja nicht einmal 16 Landesverbände, wir hatten kein Geld, uns fehlte eigentlich alles, was man braucht für einen Wahlkampf”. Auch die Medien hätten alles darangesetzt, das BSW “niederzumachen” und “kleinzuschreiben”. Falls es die Partei nicht für die Fünf-Prozent-Hürde schaffe, sei das eine Niederlage, aber nicht das Ende des BSW.
Die Bundespartei hat Kräfte aus den Landesverbänden im Wahlkampf nicht genutzt. Aus den Verbänden kommen daher verhaltene Töne der Kritik. Die Stärke des BSW bei den Landtagswahlen im Osten – die Präsenz der Kandidaten in der Fläche – habe die Bundespartei nicht genutzt, ist aus Thüringen zu vernehmen. Zudem sei zu viel auf Parolen und zu wenig auf wirkliche Lösungen gesetzt worden. Robert Crumbach, Finanzminister in Brandenburg, sagte Table.Briefings, die schleppende Mitgliederaufnahme und die Querelen um den Landesverband in Hamburg seien Fehler gewesen. Vera Weidenbach
Linke: Kurzer Freudentaumel und eine Kampfansage. “Friedrich Merz soll sich warm anziehen”, kündigt Spitzenkandidaten Heidi Reichinnek unter tosendem Applaus an. Im Gespräch mit Table.Briefings sagt Parteivorsitzende Ines Schwerdtner, die Linke wolle im Parlament möglichst unangenehm sein. Eine Regierung Merz würde voraussichtlich den größten Angriff auf den Sozialstaat seit der Agenda 2010 versuchen. Die Partei, “die sich vor Merz in den Staub wirft” wolle man an ihre sozialen Versprechen erinnern. Zudem verstünde sich die Linke als Brücke zwischen außerparlamentarischen Bewegungen und dem Bundestag.
Fraglich ist, wie sich die neue Bundestagsfraktion im Falle einer möglichen gemeinsamen Sperrminorität mit der AfD verhält. Schwerdtner sieht keine Überschneidungen, gemeinsame Anträge schließt man kategorisch aus. Zunächst kommt viel Arbeit auf die Partei zu: Rund zwei Drittel der Angeordneten sind neu, zudem gelte es den Aufschwung bei den jungen Wählern mitzunehmen – hier wurde die Partei stärkste Kraft. Auch die vielen neuen Mitglieder müsse man gut einbinden. “Wenn wir eine Demo gegen die CDU organisieren wollen, geht das schnell”, sagt Schwerdtner. Leonard Schulz
AfD: Überraschend verhaltener Jubel. Alice Weidel verwies zwar immer wieder auf das “historische Ergebnis” der AfD, doch zeigte sie sich kurz vor 18 Uhr euphorischer als kurz danach. Mit den 19,5 Prozent, die in der Bundesgeschäftsstelle um 18 Uhr via ARD verkündet wurden, hätte man nicht gerechnet, sondern definitiv mit mehr als 20. Weidel pochte darauf, dass sie gern mit der CDU regieren würde. Von anderen AfD-Spitzen ist zu hören, dass sie die Partei bis spätestens 2029 anschlussfähig für eine Regierung machen wollten.
Eine Deradikalisierung der Fraktion ist gleichwohl fraglich. Wie Table.Briefings von einem gut vernetzten Bundestagsabgeordneten erfahren hat, haben er und andere mit dem Aufbau eines Rechtsaußen-Netzwerks in der Fraktion begonnen, damit diese angesichts ihrer Vergrößerung auf etwa 140 Abgeordnete nicht “zu lasch” werde. Daran mitarbeiten dürfte auch Benedikt Kaiser, MdB-Mitarbeiter und neurechter Publizist. Kaiser kritisierte am Abend das Ergebnis der AfD, das angesichts von Anschlägen wie in Magdeburg, Ampel-Chaos, schwächelndem BSW und der Unterstützung durch Elon Musk weit höher hätte ausfallen müssen. Franziska Klemenz
Wahlkreise: So haben die Spitzenkandidaten abgeschnitten. Olaf Scholz hat seinen Wahlkreis Potsdam knapp gewonnen. Mit 21,8 Prozent lag er am Abend vor CDU-Kandidatin Tabea Gutschmidt mit 20,6 Prozent; Annalena Barbock landete mit 15,9 Prozent nur auf Platz 4. Dass Friedrich Merz seinen Wahlkreis, den Hochsauerlandkreis, gewinnt, galt als sicher. Ein Zwischenergebnis lag am Abend noch nicht vor. Robert Habeck verlor seinen Wahlkreis Flensburg/Schleswig klar gegen die CDU-Kandidatin Petra Nicolaisen. FDP-Chef Christian Lindner verfehlte bei den Erststimmen in seinem Wahlkreis, dem Rheinisch-Bergischen Kreis, mit 4,9 Prozent die Fünf-Prozent-Marke. Den Wahlkreis gewann mit 42,2 Prozent klar die CDU-Kandidatin Caroline Bosbach, Tochter von Wolfgang Bosbach. AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel lag im Bodenseekreis nach Auszählung von 25 der 27 Gemeinden mit 19,7 Prozent der Erststimmen auf Platz 2. Klarer Sieger ist CDU-Kandidat Volker Mayer-Lay.
Bei der Linken konnte zwar die Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek ihren Wahlkreis nicht gewinnen. Insgesamt war die Partei bei den Erststimmen aber weitaus erfolgreicher als im Vorfeld erhofft: Neben den “Silberlocken” Bodo Ramelow (Erfurt) und Gregor Gysi (Berlin-Treptow) gewinnt sie voraussichtlich drei weitere Wahlkreise in Berlin. Auch Sören Pellmann liegt in Leipzig-Süd klar vorn. Hoffen durfte am Abend auch noch Dietmar Bartsch in Rostock. Malte Kreutzfeldt
Translation missing.Terminübersicht von 365Sherpas für die Tage nach der Bundestagswahl
Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer: Künstliche Intelligenz in der Medizin
Gregor Gysi (Linke) wird als dienstältester MdB Alterspräsident im neuen Bundestag. Der 77-Jährige war von 1990 bis 2000 Abgeordneter und ist es seit 2005 wieder.
Alexander Gauland ist der älteste Abgeordnete im Parlament.
Hendrik Streeck wurde als Virologe bekannt und hat für die CDU jetzt den Wahlkreis Bonn gewonnen.
Europe.Table: EU-Kommission will die Lieferkettenrichtlinie entschärfen. Die Unternehmen sollen nur ihre direkten Lieferanten überprüfen müssen, ob dort etwa Kinderarbeit existiert. Warum sich gegen die Pläne Widerstand formiert, lesen Sie hier.
Europe.Table: Proteste gegen Meloni-Regierung. In Italien geraten Justiz und rechte Regierung immer heftiger aneinander. Warum Richter und Staatsanwälte gegen die geplante Justizreform in den Streik treten, lesen Sie hier.
China.Table: Deutsch-chinesische Beziehungen im Rückblick: 1949 wurde Konrad Adenauer Bundeskanzler, im gleichen Jahr wurde die VR China gegründet. Die Wirtschaftssinologin Doris Fischer ordnet die Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen ein. Welche Rolle die Kanzler spielten, lesen Sie hier.
China.Table: China will bis 2030 führende KI-Supermacht sein. Mit milliardenschweren Investitionen, staatlich gelenkten Programmen und einem riesigen Datenschatz hat die Volksrepublik rasant aufgeholt. Reicht das, um die USA als Nummer 1 abzulösen? Den Standpunkt von KI-Pionier Fabian Westerheide lesen Sie hier.
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FAZ: Unklare Zukunft. Das Ende der Ampel markiere den Übergang in eine neue Zeit, von der noch niemand weiß, was von ihr zu erwarten ist, schreibt Jasper von Altenbockum. Klar sei aber: Die “Parteien der Mitte” hätten noch nicht wieder die Orientierung gefunden. Wenn sie es nicht schaffen, würden sie zersplittern. (“Ende eines Übergangs”)
Politico: Hat Merz das Zeug dazu? Friedrich Merz stehe vor gewaltigen Aufgaben: die Verschärfung des Asylsystems, die Wiederbelebung der Wirtschaft und die Umstrukturierung der Streitkräfte. Damit das gelinge, müsse er die Schuldenbremse lockern, wozu Merz, wie er angedeutet hat, bereit sei, schreibt der britische Autor John Kampfner: “Es geht nicht nur um Geld – es geht um Führungsstärke.” Und mangelnde Entschlossenheit könne man Merz nicht vorwerfen. (“Does Merz habe what it takes?”)
NYT: Härtere außenpolitische Rhetorik. Steven Erlanger beleuchtet die außenpolitischen Versprechen von Friedrich Merz. Er habe versprochen, Deutschlands Rolle in der EU und der Nato zu stärken, bessere Beziehungen zu Frankreich und Polen anzustreben und eine härtere Haltung gegenüber China einzunehmen. Doch angesichts des Kompromisscharakters der deutschen Politik sei nicht selbstverständlich, dass es dazu kommen werde. (“Next Likely Chancellor Promises a Tougher Germany”)
Der Standard: AfD als beherrschbare Gefahr. Die Wahl zeige, dass die Zukunft Europas nicht rechtsextrem sei, so Gerold Riedmann. Die AfD sei zwar so stark wie erwartet und bleibe für 2029 gefährlich. Sie könne aber nicht die Macht übernehmen – “wenn die CDU nicht so umkippt wie zwischenzeitlich die ÖVP”. (“Deutschland jetzt mit Österreich-Problem”)
Spiegel: Die Widersprüche der Gesellschaft. Steffen Mau schreibt: Wie in den USA gelte auch in Deutschland, dass “Veränderungserschöpfung und Disruptionslust” keine Gegensätze sind, sondern zwei Seiten einer Medaille. “Disruption” sei ein politisches Programm zur Zerstörung der demokratischen Institutionen, das die radikale Rechte international verbinden soll. Mau empfiehlt: den Staat effizienter machen, aber ohne Anleihen bei Elon Musk und Javier Milei. (“Die Revolution der Erschöpften”)
SZ: “Die Welt da draußen wartet nicht auf uns”
FAZ: Merz gewinnt Bundestagswahl deutlich
Tagesspiegel: SPD scheitert mit Scholz, Merz führt die Union zum Sieg
Handelsblatt: Wahlsieger Merz
Sächsische Zeitung: Historische Niederlage für die SPD
Zeit Online: Alle Ergebnisse der Bundestagswahl live
Spiegel: Wo die Wahlbeteiligung bislang niedriger oder höher ist als 2021
Taz: Scholz gratuliert Merz zum Regierungsauftrag
Handelsblatt: 334 Milliarden in Bar – Buffett verteidigt Cash-Reserve
NZZ: Die AfD ist der Büchsenspanner von Putin
Einziges Thema ist das Ergebnis der Bundestagswahl
Deutschlandfunk
6:50 Uhr: Marie-Agnes Strack-Zimmermann, MdEP (FDP)
7:15 Uhr: Reiner Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt (CDU)
8:10 Uhr: Cem Özdemir, Bundeslandwirtschaftsminister (Grüne)
Das Erste
5:35 Uhr: Stefan Marschall, Politologe
6:40 Uhr: Serap Güler, MdB (CDU)
6:45 Uhr: Anke Rehlinger, Ministerpräsidentin des Saarlands (SPD)
7:10 Uhr: Jens Spahn, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion
7:20 Uhr: Tino Chrupalla, AfD-Vorsitzender
7:40 Uhr: Konstantin Kuhle, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion
7:45 Uhr: Cem Özdemir, Bundeslandwirtschaftsminister (Grüne)
8:10 Uhr: Jan van Aken, Parteivorsitzender der Linken
8:40 Uhr: Klaus Ernst, MdB (BSW)
rbb24-Inforadio
6:25 Uhr: Tino Chrupalla, AfD-Vorsitzender
6:45 Uhr: Klara Geywitz, Bundesbauministerin (SPD)
7:25 Uhr: Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion
9:05 Uhr: Andreas Audretsch, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen
9:25 Uhr: Dietmar Bartsch, MdB (Linke)
Welt TV
8:30 Uhr: Matthias Miersch, SPD-Generalsekretär
9:45 Uhr: Marco Buschmann, FDP-Generalsekretär
Montag, 24. Februar
WahlMorgen D2025: Von 9 bis 15 Uhr lädt die Agentur ONC zusammen mit Handelsblatt, Table.Briefings und Politik & Kommunikation zu einer sechsstündigen Wahlnachlese in das Café Einstein in Berlin ein. Die Table-Chefredakteure Helene Bubrowski und Michael Bröcker und Handelsblatt-Vize Martin Knobbe moderieren die Diskussionsrunden. Mit dabei sind Roland Koch, Philipp Amthor, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Sigmar Gabriel, Harald Christ, Verena Pausder, ESMT-Präsident Jörg Rocholl, DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig sowie dm-Chef Christoph Werner.
CDU: 9-11 Uhr Präsidiumssitzung, 11-13 Uhr Vorstandssitzung, 13:30 Uhr PK mit Friedrich Merz und Carsten Linnemann
SPD: 10 Uhr Präsidiumssitzung mit anschließender Vorstandssitzung, 13 Uhr PK mit Olaf Scholz, Saskia Esken und Lars Klingbeil.
Grüne: 9:30 Uhr Bundesvorstandssitzung, 11 Uhr BPK mit Robert Habeck und Annalena Baerbock, 17-19 Uhr gemeinsame Sitzung der alten und neuen Fraktion, 20 Uhr parallele Treffen der Parlamentarischen Linken und der Realos
FDP: 10 Uhr Präsidiumssitzung, 12 Uhr Vorstandssitzung, 14 Uhr Pressekonferenz mit Christian Lindner und Marco Buschmann
Linke: 12 Uhr BPK mit Heidi Reichinnek, Jan van Aken und Ines Schwerdtner, 18 Uhr Vorstandssitzung
BSW: 10 Uhr BPK mit Sahra Wagenknecht und Amira Mohamed Ali
Dienstag, 25. Februar
CDU: 15 Uhr gemeinsame Sitzung der neuen und alten Fraktion, 16 Uhr Konstituierung Parlamentskreis Mittelstand, 17:30 Uhr Konstituierung Arbeitnehmergruppe
SPD: 13 Uhr gemeinsame Sitzung der neuen und alten Fraktion
Grüne: 12-15 Uhr gemeinsame Sitzung der neuen und alten Fraktion
Linke: 13 Uhr Vorstandssitzung
Mittwoch, 26. Februar
CDU: 10 Uhr Informationsveranstaltung für die neuen MdBs
SPD: 10 Uhr gemeinsame Sitzung der neuen und alten Fraktion, 14 Uhr Informationsveranstaltung für die neuen Abgeordneten
Grüne: 13 Uhr konstituierende Fraktionssitzung
Lars Castellucci, MdB (SPD), 51
Markus Herbrand, MdB (FDP), 54
Philipp Rösler, ehemaliger FDP-Chef, 52
Hansi Flick, Fußballtrainer, 60
Unser Tipp führt Sie heute ins Zentrum der Bundespolitik. Jeden Freitag schaut das ARD-Hauptstadtstudio in diesem neuen Podcast hinter die Kulissen. Moderatorin ist Linda Zervakis. In der aktuellen Folge geht es darum, wie ein Wahlsonntag abläuft und welche Auswirkungen die Reform des Wahlrechts hat. Okan Bellikli
Berlin Code | ARD-Hauptstadtstudio
Das war’s für heute. Good night and good luck!
Heute haben Okan Bellikli, Stefan Braun, Michael Bröcker, Helene Bubrowski, Peter Fahrenholz, Damir Fras, Franziska Klemenz, Horand Knaup, Malte Kreutzfeldt, Carli Bess Kutschera, Leonard Schulz, Sven Siebert, Maximilian Stascheit und Vera Weidenbach mitgewirkt.
Der Berlin.Table ist das Late-Night-Memo für die Table.Media-Community. Wenn Ihnen der Berlin.Table gefällt, empfehlen Sie uns bitte weiter. Wenn Ihnen diese Mail weitergeleitet wurde: Hier können Sie sich für das Late-Night-Memo kostenlos anmelden.