wir melden uns heute mit einer Spezial-Ausgabe zum Grünen-Parteitag bei Ihnen. Das sind unsere Themen:
Ampel-Ende: Wie eine Schlacht um die Deutungshoheit den Grünen die Show stiehlt – und doch zupasskommt
Arbeitsteilung des Spitzenduos: Baerbock verteidigt, Habeck greift an
Neuer Bundesvorstand: Viel Geschlossenheit in den Resultaten
Abschied als Offenbarung: Ricarda Lang öffnet den Blick in die Realität
Grüne Jugend: Zwischen Skepsis und Offenheit für Brantner und Habeck
Debatte um Vermögenssteuer: Wie der Konflikt dann doch vertagt wurde
Ampel-Ende: Wie eine Schlacht um die Deutungshoheit den Grünen die Show stiehlt – und doch zupasskommt
Von Stefan Braun und Helene Bubrowski
Hat der Kanzler die Ampel beendet, inklusive Wutrede? Oder war es die FDP, die das alles inszeniert und provoziert hat? Zwei Veröffentlichungen vom Freitag zeigen, wie der Kampf um die Deutungshoheit zum ersten Bestandteil eines hyperheiklen Wahlkampfs geworden ist – und mindestens den Start des Grünen-Parteitags überlagert hat. Die Berichte in Zeit und SZ beschreiben in etwas unterschiedlicher Tonlage, wie sich die FDP-Führung in mehreren Treffen mit allen Szenarien eines Ausstiegs beschäftigt hat. Und dazu gehörte offenbar auch eine Variante, die auf provokante Klarheit plus Rauswurf setzte. Mitarbeiter aus der FDP-Zentrale sollen dafür gar das Wort vom “D-Day” verwendet haben.
Seither tobt die politische Schlacht um die Deutungshoheit. Viele Sozialdemokraten stürzen sich auf die Berichterstattung und sprechen wie Hubertus Heil von einer “Bösartigkeit in der Methode”, die zeige, dass für die FDP Verantwortung ein Fremdwort sei. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich erklärte, nun trete die Wahrheit über den Bruch immer deutlicher zutage. Wenn die Berichte stimmen, dann würde vieles im Nachhinein in völlig neuem Licht erscheinen. “Ich fühle mich getäuscht und ich bin enttäuscht”, so Mützenich. “Es zeigt sich, wie richtig es war, dass Olaf Scholz diesen ehrlosen Mann vor die Tür gesetzt hat.” Aus Sicht der SPD erscheint diese Reaktion folgerichtig zu sein; ihre Werte in den Umfragen sind seit dem Ampel-Aus nicht besser geworden. Was damit zu tun haben könnte, dass viele Menschen den Wutauftritt des Kanzlers unpassend fanden.
Die FDP-Spitze hält am Samstag dagegen. Und erinnert zuallererst daran, dass es Scholz gewesen sei, der schon im Sommer mit den Grünen über eine mögliche Vertrauensfrage gesprochen hatte (Table.Briefings berichtete). Und zwar ganz ohne die Liberalen. Für Christian Lindner ist das in seiner ersten Reaktion gegenüber Table.Briefings der Beleg dafür, dass die FDP mit alledem nicht angefangen habe. Und engste Mitarbeiter von ihm sagen, dass sich alle Parteien seit Wochen mit verschiedenen Szenarien auseinandergesetzt hätten. Daran sei nichts falsch; falsch aber sei die Behauptung, die FDP habe es quasi bösartig auf einen Knall angelegt. Und falsch sei erst recht, dass man so etwas auch noch mit dem Begriff “D-Day” unterlegt habe. Im Gegenteil habe die FDP in den Gesprächen mit dem Kanzler offen das Angebot zum gemeinsamen Ausstieg gemacht.
Nun stehen Worte gegen Worte – aber für Gerhart Baum ist die Sache klar. Einer der letzten noch lebenden liberalen Ikonen und früherer Bundesinnenminister ist entsetzt über die Berichte. “Es ist für mich in einer Weise enttäuschend, wie ich es kaum beschreiben kann”, sagte Baum Table.Briefings. Für ihn sei das der schmerzliche Beweis dafür, dass der FDP-Führung “der nächste Wahlerfolg wichtiger ist als das Land”. Dabei zu bleiben, wäre der viel schwerere, aber richtige Weg gewesen. Er selbst habe 1982 auch gelitten und sei am Ende trotzdem dabeigeblieben, weil er an die Idee einer umfassend liberalen Partei glaube. “Wenn die FDP auf einen reinen Wirtschaftswahlkampf setzt, hat sie schon verloren.”
Und was machen die Grünen? Sie wollen mit der Schlammschlacht nichts zu tun haben. Vor allem Robert Habeck und Annalena Baerbock halten sich fürs Erste an ihr selbstgesetztes Ziel, derlei Streitereien auf keinen Fall fortzusetzen. Sie wollen vermeiden, selbst in den Sog solcher Konflikte zu geraten, die das Zeug haben, die Integrität von Demokratie in Frage zu stellen. “Auch wenn wir das gerne anders hätten: Dieses Schauspiel schadet allen Parteien der Mitte”, sagt einer aus der obersten Führung der Grünen.
Zugleich hoffen sie, durch Abgrenzung Punkte bei all denen zu machen, die Politik nur noch mit Abscheu verfolgen. Die Grünen bemühen sich um eine neue Sachlichkeit. Zu den Lehren aus der Wahlniederlage von Kamala Harris in den USA gehört nach grüner Lesart auch, dass “Bringing back the Joy” als Botschaft nicht genügt. Die Rede ist nun von “Realismus und Substanz”; das ist auch der Name eines grünen Diskussionsformats, das die neue Parteivorsitzende Franziska Brantner und andere in den 2000er Jahren gegründet haben. Die scheidende Parteichefin Ricarda Lang beklagte in ihrer Rede, dass es immer häufiger eine “Superpolitisierung von Nebensächlichkeit” und eine “Infantilisierung von Politik” gebe. Die Instagram-Bilder vom joggenden Habeck wird es weiter geben, aber mit dem tränenreichen Abschied der Parteivorsitzenden verbreitet sich die Überzeugung: Der nun beginnende harte Wahlkampf ist mit optimistischen Botschaften nicht zu bestehen, die Grünen wollen auf Ernsthaftigkeit setzen.
Translation missing.Arbeitsteilung des Spitzenduos: Baerbock verteidigt, Habeck greift an. Im Angesicht möglicher Debatten nach dreieinhalb mühsamen Jahren in der Ampel haben sich Annalena Baerbock und Robert Habeck zum Einstieg in den Parteitag klare Rollen gegeben. Baerbock hielt eine Rede, in der sie nicht über die Last von Kompromissen sprach, sondern die Grünen für Haltung und Überzeugungen lobte, die sie für solche Kompromisse überhaupt erst stark machten. Unter rauschendem Beifall warb sie so auch für die Kompromisse in der Flüchtlings- und Klimapolitik, die nach scharfer Kritik unter anderem der Grünen Jugend als mögliche Gefahren für die Geschlossenheit auf dem Parteitag galten. Baerbock als Stabilisatorin nach enorm schwierigen drei Jahren Ampel.
Der Vizekanzler erinnerte an einen Einpeitscher. Es sei müßig, auf die Zeit der Ampel zurückzublicken. “Es gibt keine FDP, und es gibt auch keinen Christian Lindner mehr in der Regierung”, sagte Habeck in einer ersten kurzen Rede (die richtige ist für Sonntagmittag geplant). Wichtig sei, die Wahl und die Zukunft in den Blick zu nehmen. “Diese Partei hat eine Aufgabe: diesem Land Orientierung zu geben und zu verstehen, was in dieser Welt los ist.” Habeck sagte, viele Demokraten würden glauben, dass Demokratie, Freiheit und offene Gesellschaft immer überlegen seien, “weil wir ja eigentlich die besseren moralischen Werte haben.” Allein: “So ist es nicht.” Die autokratischen Regime organisierten einen Angriff auf die freiheitlichen Demokratien. “Sie nutzen hybride Kriegsführung, sie destabilisieren die Institutionen.” Deshalb brauche es hier und jetzt eine klare Antwort: “ein Bündnis der Demokratien in einer Europäischen Union, das stark und stärker werden muss.” Der Blick aufs Große soll von Anfang an den Ton vorgeben – und Kritiker nachdenklich stimmen. Stefan Braun
Translation missing.Neuer Bundesvorstand: Viel Geschlossenheit in den Resultaten. Sechs Gegenkandidaturen, und trotzdem geht Felix Banaszak als Überflieger aus Tag zwei in Wiesbaden hervor: “Damit habe ich nicht gerechnet”, sagt der 35-jährige Parteilinke, nachdem die Delegierten ihn mit 92,88 Prozent zum Co-Chef gewählt haben. Das Ergebnis von Franziska Brantner ist mit 78,15 Prozent deutlich bescheidener und ein leichter Dämpfer für die Nachfolgerin von Ricarda Lang. Die Realo-Grüne hat in ihrer Rede versucht, Brücken zum linken Flügel zu bauen: Grüne dürften nicht nur Politik für Reiche machen, sagte Brantner. Sie eröffnete ihre Rede mit feministischen Appellen. “Schluss mit diesem Dinosaurier-Denken. Unsere grünen Männer haben das verstanden – teilweise”. Das ist wohl ein Versuch, sich als künftige frauenpolitische Sprecherin im Bundesvorstand zu behaupten. Nachdem bisher vor allem Parteilinke diese Aufgabe bekleidet hatten, beäugten manche skeptisch, dass nun Brantner sie übernimmt.
Banaszak begeistert schneller, Brantner gilt als strukturierter. Leicht aber wird es für das neue Spitzenduo nicht. Manche Grüne urteilen schon jetzt, dass den Neuen bisher die neuen Ideen fehlen. Banaszaks Beliebtheit könnte unter inhaltlichen Kompromissen bald leiden; Brantner muss viele Parteilinke noch von sich begeistern. Die West-Prägung des Spitzenduos aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen ist manchen Grünen aus Sachsen und Brandenburg bitter aufgestoßen.
Die Wiederwahl des Thüringers Heiko Knopf zum Partei-Vize wirkte da versöhnend. Er erhielt bei drei Gegenkandidaturen 77,37 Prozent. Knopf sei kein Charismatiker, heißt es aus manchen Ostverbänden. Er sei keiner für das große Rampenlicht. Dafür aber ein Zuhörer und Kümmerer, der viel Präsenz zeige. Aus verschiedenen Verbänden ist Bedauern darüber zu hören, dass Sachsens Noch-Justizministerin Katja Meier nicht kandidiert hat. Aufgrund der Satzung hätte sie dafür ihr Mandat in Sachsen aufgeben müssen. Das wollte sie angesichts der heiklen Lage im Land nicht.
Einer, der seinen Job für die Kandidatur aufgegeben hat, ist Sven Giegold. Der bisherige Staatssekretär im BMWK gilt nicht unbedingt als Menschenfänger, erntete mit Bekenntnissen zu einer kompromisslosen Ökologie-Politik aber einigen Beifall. Er erhielt 80,81 Prozent. Der Parteilinke, der einst Attac in Deutschland mitgegründete und gegen TTIP und Ceta gewettert hat, hätte sich auch den Posten des Politischen Geschäftsführers vorstellen können. Doch Habeck wollte das nicht, die Position des Parteivizes war die gesichtswahrende Lösung. Als Bundesgeschäftsführerin übernimmt die bisherige Vize-Chefin Pegah Edalatian aus Hessen, zur Schatzmeisterin wurde Manuela Rottmann, bis 2022 Parlamentarische Staatssekretärin im Landwirtschaftsministerium, gewählt. Helene Bubrowski, Franziska Klemenz
Translation missing.Abschied als Offenbarung: Ricarda Lang öffnet den Blick in die Realität. Die scheidende Parteichefin nutzte ihr Adieu zu einem ungewöhnlichen Auftritt: Sie appellierte an die ganze Partei, nicht mehr mit dem erhobenen Zeigefinger Politik zu machen. “Am Ende dürfen wir Politik niemals machen, um uns selbst besser zu fühlen, sondern um das Leben der Menschen zu verbessern.” Die Partei feierte die in den eigenen Reihen beliebte Co-Vorsitzende – und beklatschte deshalb auch Passagen, in denen Lang mit ihrer Partei hart ins Gericht ging. Die Grünen dürften sich weder selbst verleugnen noch selbst besoffen sein. “Beides beginnt mit selbst – und Nabelschau ist immer eine ziemlich schlechte Voraussetzung für gute Politik.”
Kritik übt Lang aber auch an der Politik insgesamt – und am Kanzler. Die Menschen spürten sehr genau die Umbrüche in der Welt. Sie spürten, dass sich sehr vieles verändere. “Aber sie spüren auch, dass die politischen Debatten damit fast gar nichts mehr zu tun haben.” Die Menschen erlebten insbesondere im Bundeskanzleramt eine “Politik der Konsequenzlosigkeit”, bei der so getan werde, als könne man über Zeitenwende reden und zugleich die Fiktion aufrechterhalten, dass sich für die Menschen da draußen verändern werde. “Die Menschen spüren das, wenn sie wie Kinder behandelt werden.” Und dann würden sie anfangen, sich denen zuzuwenden, von denen sie sich nicht verachtet fühlten – auch wenn diese Leute nur noch mehr Chaos und Zerstörung anrichten sollten. Stefan Braun
Translation missing.Grüne Jugend: Zwischen Skepsis und Offenheit für Brantner und Habeck. Nach dem turbulenten Austritt von prominenten Mitgliedern der Grünen Jugend und der Wahl eines neuen Spitzenduos versucht Habeck, das bisher schlechte Verhältnis zur Parteijugend wieder aufzuwärmen. Habeck sucht die Nähe, er braucht die rund 16.000 Mitglieder zur Unterstützung im Wahlkampf. Die beiden früheren Vorsitzenden Katharina Stolla und Svenja Appuhn hatten die grüne Spitze und Habeck immer wieder für seinen Kurs kritisiert; es ging dabei vor allem um migrations- und sozialpolitische Fragen. Ihren Rücktritt begründeten sie damit, dass sich “die Konflikte zwischen grüner Partei und Grüner Jugend immer weiter zugespitzt hatten”.
Mit dem neuen Duo scheint es erstmal besser zu laufen. Dass Habeck und Brantner die neue Doppelspitze mit Jette Nietzard und Jakob Blasel in ihren Reden direkt ansprachen, kam bei der Grünen Jugend als anerkennende Geste an. Generell hätten die beiden sich in den vergangenen Wochen in Gesprächen bemüht; man blicke inzwischen optimistischer auf die Vorstellungen und Positionen des Kanzlerkandidaten. Allerdings dürfe die Führungsebene sich nicht mit der GJ schmücken, ohne dann auch zu liefern.
Das Verhältnis der GJ zu den Realos bleibt angespannt. Sie empfindet das Verhalten der Realos immer wieder als unzuverlässig und ungerecht. Regelmäßig würden diese längst Vereinbartes wieder aufbrechen und setzten sich über das Grundsatzprogramm hinweg. Bei der Asylpolitik ist mit weiterem Streit zu rechnen. Dort wollen linker Flügel und Grüne Jugend ein klares Bekenntnis gegen Abschiebungen etwa nach Afghanistan oder Syrien durchsetzen. Die dazugehörige Diskussion war für den Samstagabend geplant. In Wiesbaden hat die GJ gleichwohl einiges geschluckt, was in der Debatte ums Wahlprogramm Ende Januar nochmal ausbrechen dürfte. Franziska Klemenz
Translation missing.Debatte um Vermögenssteuer: Wie der Konflikt dann doch vertagt wurde. Wiesbaden war nicht als reine Krönungsmesse konzipiert, dafür sorgten die Mitglieder selbst. Im Vorfeld hatten sie wählen können, welche Anträge unter “Verschiedenes” behandelt werden. Der Migrationsantrag des Parteilinken Erik Marquardt mit dem Titel “Zurück zur Vernunft” landete auf einem vorderen Platz; Debatte und Abstimmung waren für den späteren Samstagabend geplant. Für noch mehr Nervosität unter Realos sorgten aber die Anträge zur Steuer- und Finanzpolitik. Sie hatten die Mitglieder auf Platz eins gehoben. Die Grünen haben mit dem Thema Vermögenssteuer bei Wahlen schlechte Erfahrungen gemacht; trotzdem wird sie von Parteilinken immer wieder gefordert.
Der Antragskommission ist dann ein Kompromiss gelungen. Er ist für die Linken annehmbar und durchkreuzt trotzdem nicht die programmatische Linie von Habeck. Statt “Wiedereinführung der Vermögenssteuer” heißt der Antrag nun “Priorisiertes Vorgehen bei vermögensbezogener Besteuerung” – und darin werden nun lediglich “mögliche Ansätze” genannt, ohne sich auf einen festzulegen. Deutschland soll sich aktiv für eine globale Milliardärssteuer einsetzen (analog zur globalen Mindestbesteuerung für Unternehmen, die 2023 beschlossen wurde), außerdem sollen Steuerbefreiungen für sehr hohe Vermögen bei der Erbschaftsteuer arbeitsplatzsichernd abgebaut, Ausnahmen bei der Besteuerung von Immobilienkonzerne abgeschafft werden.
Erst als letztes wird eine nationale Vermögenssteuer genannt. Die Größenordnung wird aber nicht definiert. Es fehlt also an jeglicher Konkretisierung. Katharina Beck, Bundestagsabgeordnete aus Hamburg und Unterhändlerin bei diesem Antrag, sagte Table.Briefings: “Die Blockaden der letzten Jahre beim Thema Steuergerechtigkeit wollen wir endlich überwinden, denn die Konzentration von Vermögen ist in Deutschland im internationalen Vergleich besonders hoch.” Helene Bubrowski
Translation missing.Das war’s für heute. Good night and good luck!
Heute haben Stefan Braun, Helene Bubrowski, Franziska Klemenz und Maximilian Stascheit mitgewirkt.
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