Table.Briefing: Berlin

Das Late-Night-Briefing für die Hauptstadt

Das Late-Night-Briefing für die Hauptstadt

Liebe Leserin, lieber Leser,

herzlich willkommen bei unserem Berlin.Table-Spezial. Einen Tag vor womöglich historischen Wahlen in Sachsen und Thüringen wollen wir Sie noch einmal mit aktuellen Infos und letzten Umfragen versorgen. Zum ersten Mal seit 1949 steht die Frage im Raum, ob die Parteien der Mitte, die das Land über Jahrzehnte in wechselnden Konstellationen regiert haben, in einem oder sogar zwei Bundesländern gegen eine teilweise rechtsextreme AfD und ein weitgehend linkspopulistisches BSW keine Mehrheit mehr erringen. Mit Konsequenzen, die überall in Deutschland, aber auch in Europa und der Welt genau verfolgt werden dürften. Uns ist es deshalb ein Anliegen, Sie heute mit letzten, wichtigen Aspekten zu versorgen. Wir grüßen Sie herzlich! 

Das Berlin.Table-Team

Talk of the Town: Thüringen und Sachsen vor dem Wahlsonntag: Steffen Mau über die “Frust-Kultur” und ihre politischen Konsequenzen 

Görlitz: Eine Stadt, in der sich ganz Sachsen widerspiegelt 

Thüringen: Überrascht Höcke alle nach der Wahl? 

BSW: Zwischen Wagenknecht-Populismus und Wolfs Realpolitik  

U18-Wahl in Sachsen und Thüringen: AfD doppelt so stark wie CDU 

Must-Reads: NYT über Wagenknecht + Tagesspiegel über Ost-West-Unterschiede 

Nachttisch: Bernhard Schlink: “20. Juli” 


Talk of the Town

Thüringen und Sachsen vor dem Wahlsonntag: Steffen Mau über die “Frust-Kultur” und ihre politischen Konsequenzen 

Von Michael Bröcker 

An diesem Sonntag droht eine Zäsur in Deutschland. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik könnte laut Umfragen eine rechtsextreme Partei stärkste Kraft in einem Landtag werden. In Thüringen liegt die AfD bei der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF mit 29 Prozent vor der CDU mit 23 Prozent. Auf Platz drei rangiert das BSW mit 18 Prozent.  

Steffen Mau, Soziologe und Bestseller-Autor, sieht die klassische Parteiendemokratie im Osten in ihrer Existenz bedroht. Seine Analyse über Björn Höcke: “Er streichelt die Seelen der Ostdeutschen, indem er suggeriert, sie seien die besseren Deutschen.” Es gehe um eine “Identitätspolitik von rechts”, die Höcke und die AfD offensichtlich erfolgreich umgesetzt hätten. 

Mau sieht die Ursachen für die Unterstützung für extreme Parteien in der mentalen Logik der Wiedervereinigung. “Die Wiedervereinigung war ein Eintritt in die BRD auf der Basis eines national definierten Gemeinschaftszusammenhangs.” Den Ostdeutschen habe man damals zu verstehen gegeben, dass ihr Status und ihr Stand im wiedervereinigten Deutschland nur im Deutschsein begründet ist, nicht aufgrund eines Verfassungspatriotismus. Mit anderen Worten: Die Ostdeutschen hätten nie gelernt, die institutionelle Liebe zur Demokratie zu entwickeln.  

Diese Unterschiede zwischen Ost und West würden bleiben, sagt Mau. Es gebe Traumata und “starke biografische Narben” bei vielen Ostdeutschen, die zu einem kulturellen Unmut gegenüber der politischen Elite in Berlin geführt hätten. Das (partei-)demokratische Bewusstsein müsse sich nun vor allem in der Zivilgesellschaft entwickeln, neue Formen der Beteiligung seien notwendig, so Mau. 

Die anderen Parteien, das scheint sicher, werden so ziemlich alles versuchen, um ein Bündnis gegen die AfD zu bilden. Einfach aber wird das weder in Thüringen noch in Sachsen. In Thüringen, wo die Linken mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten stellen, liegt die bisherige Regierungspartei bei 13 Prozent, die SPD bei sechs und die Grünen liegen bei vier Prozent. Politisch und rechnerisch wäre dann nur ein Bündnis zwischen CDU, SPD und BSW möglich, um die AfD in Regierungsverantwortung zu verhindern. Eine Koalition mit den Linken hat die CDU ausgeschlossen, alle Parteien haben ein Bündnis mit der AfD ausgeschlossen.  

In Sachsen könnte im Schlussspurt CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer vorne liegen. In der erwähnten ZDF-Umfrage liegt die CDU bei 33 Prozent knapp vor der AfD mit 30 Prozent. Die Linke wäre laut der Umfrage mit 4 Prozent nicht im Landtag vertreten – die Grünen und die SPD kämen jeweils auf 6 Prozent. Das BSW steht in der Umfrage bei 12 Prozent. Eine Fortsetzung des Bündnisses aus CDU, Grünen und SPD wäre demnach möglich, auch eine Regierung aus CDU und BSW. Aber wie stabil das sein wird, kann niemand sagen.  

Das ganze Gespräch mit Mau, dem Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität, hören Sie im Podcast von Table.Briefings hier.   


News

Vergifteter Wahlkampf: AfD-Veranstaltung in Görlitz am Freitag 

Görlitz: Warum sich in dieser Stadt ganz Sachsen widerspiegelt. Die Relevanz der östlichsten Stadt Deutschlands für Sachsen strahlt weit über die Region hinaus. Ministerpräsident Michael Kretschmer kommt ebenso aus Görlitz wie AfD-Bundeschef Tino Chrupalla und Sachsens grüne Fraktionsvorsitzende Franziska Schubert. Für Kretschmer hängt seine politische Zukunft auch davon ab, ob er in seinem Wahlkreis erneut die meisten Direktstimmen holen kann. Bei der Bundestagswahl 2017 verlor er ihn gegen Chrupalla.  

Chrupalla gab beim Wahlkampfabschluss am Freitagabend in Görlitz das Ziel aus, bei der Bundestagswahl 2025 stärkste Kraft zu werden. Die Parteiführung verschärfte noch einmal ihren Ton. Alice Weidel bezeichnete kriminelle Geflüchtete als “Bestien”. In Deutschland würde “der Asylant” sein Geschlecht im Personalausweis zur Frau umtragen lassen und dann nicht mehr abgeschoben. Was Görlitz über den Zustand von Sachsen und seiner Politik verrät, lesen Sie in der Analyse. Franziska Klemenz 


Thüringen: Überrascht Höcke alle nach der Wahl? Sollte Björn Höcke in Thüringen für andere Parteien das entscheidende Argument gegen eine Kooperation sein, gäbe es neben ihm eine Reihe anderer AfD-Politiker aus Thüringen, die der Verband nach vorne stellen könnte. Immerhin kommt einer der populärsten AfD-Funktionäre im Bundestag aus Thüringen: Stephan Brandner, zuletzt mit mehr als 90 Prozent in den Bundesvorstand wiedergewählt, gilt in der AfD als beliebt und redegewandt, inhaltlich ist er bisher allerdings nicht als Vordenker aufgefallen.  

Der parlamentarische Geschäftsführer Torben Braga zieht die organisatorischen Fäden im Landesverband. Er verbrachte seine Studienzeit bei der neonazistischen Burschenschaft Germania in Marburg. Dass Höcke ihn oder Brandner akzeptieren würde, gilt in Spitzenkreisen der Partei aber als unwahrscheinlich. Anfreunden könnte er sich allenfalls mit seinem Vize Stefan Möller – wer Höcke als unvermittelbar empfindet, dürfte aber auch Möller kaum mögen. Auch René Aust, Delegationsleiter in Brüssel, stammt aus Thüringen. 

Die Beziehung Höckes zur Bundespartei ist nicht beste. Er soll sich zunächst auch gesträubt haben, zur üblichen Wahl-Pressekonferenz am Montag anzureisen; man musste ihn überreden. Dass Höcke den Wechsel nach Berlin anstrebt, wie von der FAZ als Option diskutiert, hält man in Thüringen für eher unwahrscheinlich. In Erfurt habe er ungleich mehr Ruhe, Infrastruktur und Komfort. Franziska Klemenz 


BSW: Zwischen Wagenknecht-Populismus und Wolfs Realpolitik. Sahra Wagenknechts Botschaft ist unmissverständlich, auch bei 30 Grad in Hoyerswerda vor dem Lausitz-Center. “Jeder Krieg ist ein Verbrechen”, ruft sie. Und: “Auf beiden Seiten sterben junge Männer”. Die Reaktionen bei den rund 300 Menschen, die sich versammelt haben: Kopfnicken und Applaus. Als Wagenknecht schließlich davor warnt, dass “sie auf den roten Knopf drücken” und “wir den großen Krieg haben”, johlt die Menge, klatscht und pfeift. 

Das Nein zu Waffenlieferungen an die Ukraine und zur Stationierung von Langstreckenraketen sind für viele BSW-Sympathisanten von zentraler Bedeutung. Wagenknecht nutzt das Thema in Reden meistens zum großen Finale. Doch Kriegs- und Waffenfragen sind Sache des Bundes. Welche konkreten Bedingungen sich also aus Wagenknechts Rhetorik für einen Koalitionsvertrag ergeben, ist unklar. Hier steht der Populismus der BSW-Vorsitzenden gegen so manche Realpolitiker auf Landesebene. 

Die Spitzenkandidatin in Thüringen, Katja Wolf, gilt als eine solche. Sie gibt sich bei Wahlkampfveranstaltungen beim Thema Krieg und Frieden zurückhaltender als Wagenknecht. Strategisch ist es klug, der Vorsitzenden das große Thema zu überlassen. Aber bei Koalitionsverhandlungen entscheidet Wolf – zumindest formal. Dann wird es darauf ankommen, was es bedeutet, nur eine Koalition eingehen zu wollen, die sich “klar zum Frieden bekennt” – so hatte es Wolf einmal formuliert. Auch CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt in Thüringen hatte bereits “mehr Diplomatie” im Ukraine-Krieg gefordert. Die Frage wird sein, ob ein solches Bekenntnis dem BSW ausreicht. 

Eine entscheidende Frage wird sein, wer darüber entscheidet: Wolf oder doch Wagenknecht. Bisher spricht vieles dafür, dass Wagenknecht dem Landesverband die Koalitionsbedingungen vorgibt. Dem Spiegel sagte sie, sie wolle bei den Verhandlungen “mit am Tisch sitzen”. Das klingt wie ein Machtwort, aber zeigt auch, dass sie es offenbar für nötig gehalten hat, das klarzustellen. Die Landesvorsitzenden in Sachsen und Thüringen haben es im Wahlkampf vermieden, Wagenknecht öffentlich zu widersprechen oder zur Zurückhaltung aufzufordern. Dem Vernehmen nach war der Vorstoß Wagenknechts, die Ablehnung der Stationierung der US-Raketen zur Koalitionsbedingung zu machen, mit dem Landesverband in Thüringen allerdings nicht abgesprochen. Leonard Schulz, Vera Weidenbach 


U18-Wahl in Sachsen und Thüringen: AfD doppelt so stark wie CDU. Bei einer Abstimmung von Menschen unter 18 Jahren hat die AfD in Thüringen gut 37 Prozent und in Sachsen gut 34 Prozent erreicht. Auf die AfD folgt die CDU mit knapp 18 Prozent (Sachsen) beziehungsweise gut 16 Prozent (Thüringen). Organisiert wurde die Wahl von einem bundesweiten Wahllokal-Netzwerk, hinter dem unter anderem Bundesjugendring und Kinderhilfswerk stehen. An dritter Stelle kommt in Sachsen die Linke, in Thüringen die SPD. Das BSW erreicht in Thüringen sieben Prozent, in Dresden wäre es nicht im Landtag. Die Grünen scheitern wiederum in Thüringen an der Fünf-Prozent-Hürde, die FDP wäre in beiden Ländern nicht vertreten. Die U18-Wahl, die vor jeder Bundes-, Landtags- und Europawahl stattfindet, wird vom BMFSFJ gefördert. In Sachsen stimmten mehr als 9.000 Jugendliche ab, in Thüringen waren es 2.000 – repräsentativ ist die Abstimmung aber nicht. Eine Altersbeschränkung nach unten gibt es nicht. Okan Bellikli 

Must-Reads

NYT: Etablierte Parteien in Deutschland verlieren ihre Dominanz. Sahra Wagenknecht profitiere vom Zerfall der alten Ordnung, schreibt Steven Erlanger. Sie sei “so etwas wie ein freies Elektron”, das schwer zu charakterisieren sei. Das führe zu Unbeständigkeit und beschleunige den Zusammenbruch eines politischen Spektrums, in dem links und rechts noch sauber angeordnet waren. (“The Woman Shaking Up German Politics From the East”

Tagesspiegel: Ost-West-Unterschiede schwächen vor allem CDU. Noch im April lag die CDU in den östlichen Bundesländern vorn – und war mit 22 Prozent genauso stark wie im Westen. Jetzt haben AfD und BSW die CDU überholt. Im Westen ist es umgekehrt: AfD und BSW stagnieren, die CDU hat Erfolg. Diese Trends verstärkten sich kurz vor den Landtagswahlen. (“Wo verläuft der Riss durch die Gesellschaft?”)  

FAS: Die AfD hat das Label “Osten” nach vorne gestellt. “Der Osten macht’s” ist der Slogan, der im AfD-Wahlkampf auf Postwurfsendungen, Plakaten und in Werbefilmen zu sehen war, berichtet Markus Wehner. Dabei werde der Osten nicht mit einem düsteren Bild der DDR verbunden, sondern mit einem positiven Gefühl: dem Sommer. Der Osten solle für Leichtigkeit, Spaß und Abenteuer stehen. (“Sommer, Sonne, Ostdeutschland”

Tagesspiegel: Die DDR-Bürger haben selbst entschieden. Der Historiker und Autor Ilko-Sascha Kowalczuk beharrt darauf, “dass der Osten nicht nur ein Objekt finsterer Mächte war, sondern handelndes Subjekt”. Mehrheitlich hätten die Menschen ab 1990 einen Weg gewählt, der die spätere Entwicklung begünstigte. Als sich herausstellte, dass der Westen kein “goldenes Paradies” ist, sei diese Anbetung in Ablehnung, Distanz und schließlich in einen manifesten Hass umgeschlagen. (“Wir werden ein autoritäres Staatssystem auch in Deutschland erleben”

Time.Table

Gedenken: Olaf Scholz, Frank Walter-Steinmeier, Hendrik Wüst und Oberbürgermeister Tim Kurzbach legen in Solingen einen Kranz nieder für die Opfer des Anschlags. 11 Uhr 

Der Wahlabend im Fernsehen

ZDF 

19:35 Uhr: Berliner Runde mit Vertretern der Bundestagsparteien

Das Erste

22 Uhr: Zu Gast bei Caren Miosga sind Thomas de Maizière, Robin Alexander von der Welt und Anne Hähnig von Zeit Online

Phoenix 

17 Uhr: Zu Gast in der Wahlsendung sind Claudia Kade von der Welt und der Politikwissenschaftler Uwe Jun von der Universität Trier 

20:30 Uhr: Wahlrunde mit Table.Briefings-Chefredakteur Michael Bröcker, der Journalistin Sabine Rennefanz und Melanie Stein von der Initiative Wir sind der Osten 

22:15 Uhr: Wahlrunde mit Politikwissenschaftler Uwe Jun von der Universität Trier und Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent von der Hochschule Magdeburg 

Nachttisch

Unser Tipp führt Sie heute zum Widerstand gegen rechts. Im Geschichtsunterricht diskutieren Abiturienten darüber, ob das Stauffenberg-Attentat damals zu spät kam – und welche Folgen daraus für die Gegenwart zu ziehen sind. Im Fokus steht eine Partei namens Deutsche Aktion, die bei einer Landtagswahl gerade 37 Prozent bekam. Wie weit darf der Widerstand gegen sie gehen? Ein Stück rund um ein “verstörendes Gedankenspiel”, so der Verlag. Okan Bellikli 


Das war’s für heute.

Heute haben Okan Bellikli, Stefan Braun, Michael Bröcker, Damir Fras, Franziska Klemenz, Horand Knaup, Malte Kreutzfeldt, Carli Bess Kutschera, Leonard Schulz, Sven Siebert, Maximilian Stascheit und Vera Weidenbach mitgewirkt. 

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  • Landtagswahlen von picture alliance/dpa/Sebastian Kahnert

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