Table.Briefing: Berlin

Sonderausgabe des Late-Night-Briefings zum Progressive Governance Summit

Liebe Leserin, lieber Leser,

es geht um Sicherheit. Nach außen, nach innen, sozial und demokratisch. Das Progressive Zentrum, der Berliner Thinktank, hat geladen, und viele sind gekommen: Politiker und Berater, Ministeriale, Wissenschaftler. Und dazu der Kanzler mit seinem Kanzleramtsminister. Es geht um die Ukraine und den französischen Atomschirm, um KI und die Mittelschicht. Und immer wieder geht es um die Frage, ob sich die aufgeregte Welt irgendwie beruhigen lässt, ob man der globalen Verunsicherung irgendwie beikommen kann. Wir haben den Progressive Governance Summit zum Anlass genommen, um Ihnen ein Berlin.Table-Spezial zu liefern. Table.Briefings war gemeinsam mit dem Guardian Medienpartner der Veranstaltung

Viel Vergnügen – wir freuen uns, wenn diese Ausgabe Ihr Interesse findet. 

Stefan Braun und Horand Knaup  

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Das sind unsere Themen:

Olaf Scholz und Lea Ypi: Kapitalismuskritik versus Tagespolitik (mit Video)

Wolfgang Schmidt: Einblick in die Wahlkampfstrategie 

Boris Pistorius: Zeit für einen Wandel (mit Video)

Tytti Tuppurainen: Deutschland muss Verantwortung übernehmen 

Umfrage des Progressiven Zentrums: Mehrheit schaut kritisch auf KI 


Olaf Scholz und Lea Ypi

Olaf Scholz und Lea Ypi: Tagespolitik versus Kapitalismuskritik. Es war eine nicht alltägliche Begegnung, und die in Albanien geborene Lea Ypi, 44, als Kind mit den Eltern nach England ausgewandert, legte munter los. Der Kapitalismus sei eine Gefahr für die Freiheit, er vertiefe die Ungleichheit, und er beute aus. Auch heute noch, etwa in Form des Braindrain in den Ländern des Südens. Deshalb: “Die Freiheit ist nichts, solange sie nicht für alle da ist.” Und deshalb seien Kapitalismus und Demokratie auch eigentlich nicht vereinbar.  

Der Kanzler hielt kräftig dagegen. Und er hatte durchaus valide Argumente auf seiner Seite. Es gebe fortgeschrittene Modelle des Kapitalismus, etwa den Wohlfahrtsstaat bundesrepublikanischer Prägung, aber auch darüber hinaus. Scholz: Überall – gemeint ist weltweit – sind Mittelschichten entstanden. Und wer hätte 1990 die wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Baltikum, in Slowenien, Kroatien oder Rumänien prognostiziert?  

Auch die Globalisierung habe sich letztlich als “Benefit für die Welt” herausgestellt. Ein weiterer Beleg für die Früchte der Globalisierung, jedenfalls aus Scholz’ Sicht: Einst, durch die Industrialisierung, habe Großbritannien die Textilindustrie in Indien zerstört. Heute, als eine der Folgen der Globalisierung, gebe es in Großbritannien keine Textilindustrie mehr, dafür Armeen von Textilarbeitern auf dem indischen Subkontinent. Zu welchen Konditionen die ihren Jobs nachgehen, vertiefte er allerdings nicht.  

Und Ypi? “Wir haben politische Strategien”, sagte sie unter dem Beifall des Auditoriums, “aber wir haben keine politischen Ideen”. Natürlich erwartete sie keine Antwort, aber: “Wo ist die europäische Vision? Wo ist die spezifisch sozialdemokratische Idee?” Und dann schob sie noch eine Spitze hinterher: Zu viele Leader seien Technokraten, “und die führen Debatten ohne Substanz”. Der Kanzler, wohl wissend um seinen Ruf als knochennüchterner Pragmatiker, nahm den Anwurf mit dem Florett auf: “Lassen Sie mich als technokratischer Manager antworten.” Die politischen Antworten müssten näher an den Alltag der Menschen heranrücken.  

Er hatte noch ein bisschen mehr Selbstkritik mitgebracht. Es gebe in der EU keine europäischen Debatten. Parlament, Kommission, ihre Arbeit, ihre Entscheidungen – alles nur schwer durchschaubar. “Es ist ein Problem, alles läuft über die nationalen Regierungschefs” – woran er möglicherweise ja nicht ganz unschuldig ist.  

Letztlich ist der Kanzler aber weiter auf der Suche nach den Ursachen des globalen Trends zum Rechtspopulismus. “Wir brauchen Antworten auf die Frage, warum wir selbst in den reichsten Ländern rechtspopulistische Bewegungen haben.” Seine Antwort fiel eher vage aus. Die Globalisierung verunsichere die Menschen, “und diese Verunsicherung wird ausgebeutet”. Zur Aufklärung trug auch Ypi nicht wirklich bei. Ihr Befund: “Wenn Leute ohne Moral über Leute ohne Gedächtnis regieren.” 

Und dann, ganz zum Schluss, noch ein ungewöhnlicher Moment. Der sonst so pragmatische Kanzler legte seine Nüchternheit für einen Augenblick ab. “Wir müssen eine Vision entwickeln”, sagte er, “eine Vision, die alle erreicht, den ungelernten Amazon-Fahrer, die Verkäuferin, den Manager”. Und dann setzte er einen Begriff, der in der sozialdemokratischen Erzählung demnächst noch häufiger auftauchen wird: die Hoffnung. Den Menschen Hoffnung zu vermitteln, sei die entscheidende Aufgabe, “die Menschen wollen respektiert werden und ihren Platz haben”.  

Ein Augenblick der Empathie, bevor der Kanzler wieder ganz nüchtern wurde. Dem mutmaßlichen neuen britischen Premier Keir Starmer mochte er jedenfalls, trotz des Insistierens der britischen Moderatorin, keine Ratschläge über den Kanal zurufen. Ja, man sei im engen Austausch, und Starmer sei ein “sehr pragmatischer” Politiker. Aber von ihm, Olaf Scholz, gebe es keinen Ratschlag – “und wenn, nicht hier”. Das Video sehen Sie hier. Horand Knaup 


Wolfgang Schmidt
Wolfgang Schmidt

Wolfgang Schmidt: Einblick in die Wahlkampfstrategie. Gleich zur Eröffnung des Gesprächs mit dem Obama- und Biden-Berater Patrick Shepard stand die Eine-Million-Dollar-Frage im Raum: Was ist das Narrativ von Olaf Scholz für die Wahlkampagne im kommenden Jahr? Leises Stöhnen und gequältes Gelächter im Publikum, aber Wolfgang Schmidt gab dann doch einen kleinen Einblick in die Kampagnenküche seines Hauses. Vom “Populismus der Mitte” sprach er, von den “normalen Leuten”, den Arbeitnehmern an der Werkbank oder im Büro, der mutmaßlichen Mehrheit im Lande. Zielgruppe der SPD-Kampagne würden jedenfalls nicht die Akademiker und studierten Politikversteher in Berlin sein, die in ihren sehr eigenen Filterblasen gefangen seien.  

Was treibt die Menschen an und was besorgt sie? Darum gehe es beim Werben um Mehrheiten. Und eine zweite Herausforderung: Wie erreicht man die Menschen noch? Wie umgeht man die medialen Filter und die Social-Media-Blasen? Zu oft seien Journalisten an den Wer-gegen-Wen-Fragen, an Umfragen und den schnellen Schlagzeilen interessiert. Die Kernfrage hingegen bleibe vielfach außen vor: Was tut ihr als Regierung für die Leute? Die Wähler sollten ihre Wahlentscheidung von 2021 nicht bereuen, was aber einigermaßen schwierig sei in Zeiten eines Krieges. Selbst in den USA seien die Auswirkungen des russischen Überfalls spürbar. Letztlich entscheidend für das Wählervotum seien aber die Monate und Wochen vor dem Wahltag. 

Und da blieb Schmidt sich treu – mit dem ihm eigenen Optimismus. Er sei zuversichtlich, dass diese Überzeugungsarbeit noch gelinge. Und dann noch ein Seitenhieb auf die “Schlagzeilen”-Politiker, von denen es zu viele gebe: Es seien Kollegen, die große Projekte ins Schaufenster stellten, aber nicht lieferten. Auch das trage zur kollektiven Frustration bei. 

Und natürlich, das Feintuning im Hintergrund sei für die Wähler nicht erkennbar. Die Herausforderung bestehe darin, aus den vielen Versatzstücken am Ende ein großes Projekt zu zimmern, eines, das Vertrauen hinterlässt. Respekt gegenüber den Arbeitnehmern sei das eine, aus der Transformation eine Chance für alle zu machen und das überzeugend zu vermitteln, das andere.  

Schmidt sieht ein großes Problem in der kulturellen Hoheit der gebildeten Milieus. Was dazu führe, dass die Mitte der Gesellschaft ihren Lebensstil, ihre Sehnsüchte und Träume häufig nicht mehr respektiert sehe. “Es ist völlig in Ordnung, ein Installateur zu sein – es braucht nicht überall Akademiker.” Aufgabe der Sozialdemokratie sei es, auch Klempnern, Busfahrern oder Krankenschwestern ein gutes Leben zu ermöglichen. Der Mindestlohn sei so ein Beispiel: 15 Jahre habe der Prozess gedauert, sechs Millionen Arbeitnehmer profitierten heute davon. “Das macht einen Unterschied”, befand Schmidt, und es sei ein Beispiel, wie man die Formel vom Respekt in konkrete Projekte übertragen bekomme.  

Und dann war da noch “dieses schreckliche Wort” der Ersatzzahlungen (“compensation”). Die Menschen wollten ganz überwiegend arbeiten, sie wollten keine Ausgleichszahlungen, sich nicht zurücklehnen im Wohlfahrtsstaat. Arbeit habe eine Würde, und auch das sei eng mit dem Wert des Respekts verbunden.  

Von Visionen wollte der Kanzleramtschef nicht reden. Aber von Optimismus und von Hoffnung.  Parteien, die die Zukunft schlecht redeten, gebe es in Deutschland genug. Seine Philosophie: “Wir brauchen die Idee, das Morgen ist besser. Dafür arbeiten wir jeden Tag.” Und weil aktuell der Fußball eine zentrale Rolle spielt, stand die Frage im Raum, was die Regierung von der Nationalmannschaft lernen könne. Schmidt: “Wenig versprechen – und viel abliefern.” Horand Knaup


Boris Pistorius: Es ist Zeit für einen Wandel. Die aufgeklärten Gesellschaften müssten enger zusammenarbeiten und ihre Freiheit aktiv verteidigen, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius in einer Videobotschaft. Zugleich sei es an der Zeit, den Sicherheitsbegriff zu erweitern. Dazu gehörten einerseits Gutes Regieren, Diplomatie, wirtschaftliche und ökologische Anstrengungen, aber nicht zuletzt auch militärisches Engagement. Ein zentrales Element sei dabei “eine effektive und umfassende Abschreckung”. Dazu wieder müsse die Gesellschaft in ihrer ganzen Breite beitragen. Das ganze Video sehen Sie hierHorand Knaup


Tytti
Tytti Tuppurainen

Tytti Tuppurainen: Deutschland muss Verantwortung übernehmen. Die frühere finnische Europaministerin fordert von Deutschland “eine stärkere Führungsrolle in Europa”. Gegenüber Table.Briefings sagte die Sozialdemokratin, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen müsse, das sei “eine Schicksalsfrage für Europa”. In Finnland herrsche große Erleichterung über den Nato-Beitritt, nun gehe es darum, den europäischen Pfeiler des transatlantischen Bündnisses zu stärken. Am Rande des Progressive Governance Summit 2024 forderte die Fraktionschefin der Sozialdemokraten: “Wir brauchen ein starkes Deutschland, um Europa stärker zu machen.”  

Tuppurainen sieht aktuell keine Notwendigkeit, deutsche Truppen in Finnland zu stationieren. “Zurzeit sind wir zufrieden, was die Unterstützung der Nato anbelangt”, sagte sie, wollte aber nicht ausschließen, dass ein ähnlicher Schritt wie in Litauen erfolgen könne: “Man wird sehen, ob man in Zukunft deutsche Truppen auch in Finnland braucht.” Die Bundeswehr hat vergangenes Jahr mit der Aufstellung einer Brigade in Litauen begonnen, die der Abschreckung an der Nato-Ostflanke dienen soll. Bis 2028 sollen 5.000 Soldatinnen und Soldaten dort stationiert sein. 

Finnland setzt beim Schutz des Landes auf mehr als 300.000 Reservisten. “Sie machen den Kern unserer Verteidigungskräfte aus”, so Tuppurainen. Finnland und Russland teilen eine 1.340 Kilometer lange Grenze. Sie wurde zuletzt geschlossen, um zu verhindern, dass über Russland reisende Asylbewerber das Land betreten. Es gehe darum, “gemeinsam die europäische Abschreckung zu erhöhen”, um das Regime von Wladimir Putin zu stoppen. “Beschwichtigungspolitik hat keinen Raum, Putin versteht keine Kompromisse”, so Tuppurainen. “Wer jetzt Frieden will, muss Waffen liefern.” 

Auf der Konferenz setzte die Finnin einen eigenen Akzent. “Wir müssen über Atomwaffen reden.” Wenn sich die USA nach der Wahl im November zurückzögen, “haben wir ein Problem”. Sie hätte gerne engere sicherheitspolitische Bande mit den USA – aber “wir können Trump nicht trauen”. Und dann fiel der Satz, den man sinngemäß so auch vom deutschen Verteidigungsminister kennt: “Wenn du Frieden willst, musst du zum Krieg bereit sein.” Markus Bickel 


Umfrage des Progressiven Zentrums: Mehrheit der Deutschen blickt kritisch auf KI. Nur 23 Prozent der Deutschen glauben, dass Künstliche Intelligenz ihr Leben verbessern wird. Gut 60 Prozent sehen den Einfluss kritisch und befürchten, dass ihr Beruf durch KI langfristig gefährdet ist. Dies sind die ersten Ergebnisse einer Untersuchung, die das “Progressive Zentrum” am 2. Juli veröffentlichen wird. Der Autor Thomas Ramge untersucht darin den gesellschaftlichen Blick auf KI in diversen Bereichen, wie Bildung, Gesundheit oder Beruf. 

Ramge beklagte, dass öffentliche Wahrnehmung und tatsächliches Wirken sehr auseinanderklafften. Hauptursache für den skeptischen Blick der Gesellschaft sei, dass sich die öffentliche Debatte über KI im Wesentlichen mit den damit verbundenen Problemen befasse. “Dass unsere Umfrage so pessimistisch ausgefallen ist, zeigt kein realistisches Bild davon, wie sehr KI uns schon heute nützt”, betonte Ramge. Gut zu beobachten sei das unter anderem in der Medizin oder in der Bildung. Ramges Hoffnung: KI könne “eine scharfe Waffe an der Abbruchkante der Demographie sein”. Also die negativen Folgen des Fachkräftemangels wenigstens teilweise ausgleichen.  

Im Kanzleramt setzt man auf einen positiven Blick. Abteilungsleiter Michael Schönstein, zuständig für Digitales, sagte im Rahmen einer Paneldiskussion: “Wir müssen mehr und mehr positive Erfahrungen mit KI kreieren, um eine positive Konnotation in der Gesellschaft zu schaffen” Dies gelinge anderen Ländern, wie den USA, Frankreich oder China, aktuell besser. Auch Ramge macht sich für mehr Optimismus stark. “Pessimismus ist eine self-fulfilling prophecy.” Nur wenn man sich eine bessere Zukunft mit KI vorstellen könne, finde man auch “die Energie, auf diese hinzuarbeiten”. 

Die EU-Abgeordnete Kim van Sparrentak hofft auf die Gestaltungs- und Finanzkraft der Gemeinschaft. “Europa ist gut darin zu regulieren, zum Beispiel mit dem AI Act, aber nicht so gut darin zu fördern”, sagte die Niederländerin aus der EFA-Fraktion, zu der auch die Grünen gehören. Sie wünscht sich mehr Engagement. Schönstein forderte mehr Kooperationen und Bündnisse in der Wirtschaft. “Ziel sollte sein, größere und kleinere Unternehmen zusammenzubringen, die unterschiedliche Arten Künstlicher Intelligenz schaffen.” Anouk Schlung  


An diesem Spezial haben Okan Bellikli, Markus Bickel, Stefan Braun, Horand Knaup und Anouk Schlung mitgewirkt. 

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