schönen guten Abend, wir begrüßen Sie zu einer Sonderausgabe des Late.Night.Briefing. Der Grund ist ein ganz besonderer: Wir konnten interne Dokumente einsehen, die zeigen, wie über die Jahre in der Regierung über Nord Stream gesprochen und gedacht wurde. Das Schicksal der Pipelines ist bekannt. Aber neben der offiziellen Linie gibt es nun auch eine, die das Denken und Argumentieren zeigt.
Zunächst hatte Russland die Erdgas-Lieferungen durch die Ostsee-Pipeline im Sommer 2022 eingestellt, kurz darauf wurden drei der vier Leitungen durch eine Explosion zerstört. Jene zwei Röhren, die unter dem Namen Nord Stream 2 gerade erst fertiggestellt worden waren, wurden von der Ampel-Regierung aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gestoppt und gingen nie in Betrieb.
Zuvor hatte Deutschland jedoch jahrelang massiv darum gekämpft, dass Nord Stream 2 gebaut wird – gegen den Widerstand vieler europäischer Staaten und der USA. Manche Argumente, die dabei öffentlich vorgebracht wurden, waren aber nicht von Fakten gedeckt – das zeigen umfangreiche Unterlagen der Bundesregierung aus den Jahren 2015 bis 2022, die das Bundeswirtschaftsministerium Table.Briefings auf Antrag zur Verfügung gestellt hat.
Was wir darin entdeckt haben, finden wir so interessant, dass wir Ihnen ausnahmsweise am Freitagabend eine Sonderausgabe des Berlin.Table zusenden. Die Süddeutsche Zeitung, der die Unterlagen ebenfalls vorlagen, berichtet in ihrer morgigen Ausgabe darüber.
Wir wünschen eine spannende Lektüre und ein schönes Wochenende.
Helene Bubrowski und Malte Kreutzfeldt
Öffentlich hat die Bundesregierung stets erklärt, Nord Stream 2 dürfe nur in Betrieb gehen, wenn Russland sich verpflichtet, auch durch die Ukraine-Pipeline weiterhin Gas zu liefern. Doch dass dieses Versprechen eingehalten wird, war wenig wahrscheinlich. Table.Briefings hat Tausende Dokumente ausgewertet, die belegen: Das Wirtschaftsministerium hat selbst nicht damit gerechnet, dass Russland sich daran halten würde.
Es war das zentrale Argument, mit dem die Bundesregierung Bedenken gegen den Bau von Nord Stream 2 ausräumen wollte: Deutschland setze sich dafür ein, dass auch nach der Fertigstellung der Pipeline, die direkt von Russland nach Deutschland durch die Ostsee führt, weiterhin Erdgas durch die bestehende Pipeline geliefert wird, die über die Ukraine verläuft. Von Sigmar Gabriel über Brigitte Zypries und Peter Altmaier betonten alle Wirtschaftsminister der Großen Koalitionen zwischen 2016 und 2021, man werde dafür sorgen, dass die Ukraine nicht übergangen wird.
Interne Unterlagen aus dem Wirtschaftsministerium, die Table.Briefings vorliegen, lassen aber Zweifel aufkommen, wie aufrichtig diese Zusage war. Darin findet sich unter anderem ein Papier, mit dem die damalige SPD-Wirtschaftsministerin Zypries auf ein Gespräch mit Gerhard Schröder vorbereitet wurde, der seinerzeit gerade den Vorsitz des Verwaltungsrats der Nord Stream 2 AG übernommen hatte. Auch dort heißt es zwar zunächst: “Wichtiger Bestandteil unserer Position ist das Eintreten dafür, dass auch nach 2019 ein Gastransit durch die UKR erfolgt.”
Doch zusätzlich führt das Papier auf, warum diese Zusage wenig Aussicht auf Erfolg hat. Gazprom könne “nicht gezwungen werden, für Lieferungen bestimmte Transportwege zu benutzen” halten die BMWi-Experten fest. Russland habe zwar angekündigt, auch über das Jahr 2019 Gas durch die Ukraine zu leiten, doch diese Aussage war wenig konkret: “Zur Höhe des Transits gibt es keine verlässlichen Angaben.”
Bis zu 78 Milliarden Dollar “zusätzlicher Gewinn für Gazprom”
Wie unrealistisch die Weiternutzung der Ukraine-Pipeline aus wirtschaftlicher Sicht war, zeigen Zahlen, die Gazprom-CEO Alexei Miller im Juni 2016 auf einer Konferenz in St. Petersburg präsentiert hat und die in der Gesprächsvorbereitung für Zypries zitiert werden: So seien die Kosten bei alleiniger Nutzung von Nord Stream 2 über einen Zeitraum von 25 Jahren um 45 bis 78 Milliarden Dollar niedriger als bei einer Weiternutzung der Ukraine-Pipeline.
Während das BMWi diese Summe als “zusätzlichen Gewinn für Gazprom” bezeichnet, argumentierte das Unternehmen, dass auch Deutschland von diesen niedrigeren Kosten profitieren würde. In einer Mail, die das Nord Stream 2-Konsortium im Juli 2016 ans BMWi schickte, wird vorgerechnet, dass die Transportkosten pro Kilometer durch die Ukraine-Pipeline mehr als doppelt so hoch sind wie durch Nord Stream. Weil die Ostsee-Pipeline zudem kürzer ist, wären die Einsparungen sogar noch höher. Wenn diese an die Kunden weitergegeben würden, hätte Deutschland sein Gas durch Nord Stream also deutlich billiger beziehen können – ein Argument, das in der öffentlichen Argumentation der Bundesregierung keine Rolle spielte.
Botschaft erwartete “Ausfall der Gastransitgebühren” in der Ukraine
Die Bundesregierung hat den Fall, dass Russland die Gaslieferungen über die Ukraine-Pipeline stark drosselt oder einstellt, als so realistisch erachtet, dass sie über Alternativen nachdachte, um den erwarteten Ausfall der Transitgebühren zu kompensieren. In einem Vermerk der Botschaft Kiew aus dem Mai 2021 wird die Einschätzung geäußert, dass die Ukraine “unverzagt” bis zum Fertigbau und auch danach gegen Nord Stream 2 kämpfen werde. Als “Handlungsempfehlung” schlägt die Botschaft unter anderem vor, Kooperationsprojekte im Energiebereich zu entwickeln, “mit denen die UKR langfristig den Ausfall der Gastransitgebühren kompensieren kann”.
Während die Bundesregierung zur Zeit der Groko das Projekt nach außen stets als “unternehmerische Entscheidung” bezeichnete, zeigen die Unterlagen, wie sehr sie dieses politisch unterstützte. So machte sie sich intensiv Gedanken, wie die vehemente Kritik insbesondere von osteuropäischen Staaten an dem Projekt begegnet werden könnte. Im Januar 2016 äußerte der BMWi-Staatssekretär Rainer Baake in einer Mail an seinen AA-Kollegen die Ansicht, dass eine “aktive politische Flankierung” des Projekts Nord Stream 2 gegenüber kritischen Staaten “gegenwärtig noch nicht” angezeigt sei.
Neutrale Sprache, aktive Begleitung
Allerdings heißt es in einem Sprechzettel für Sigmar Gabriel zur Vorbereitung auf ein Gespräch mit Energiekommissar Maroš Šefčovič aus dem Juni 2016: “Das Nord Stream 2 begleite ich politisch sehr aktiv und erläutere es den Kritikern.” Im Vermerk wird die Position des Hauses so beschrieben: “BMWi bringt sich weiterhin in die Debatte um Nord Stream 2 ein mit dem Ziel einer Versachlichung der Diskussion; innerhalb der BReg. ist eine neutrale Sprache vereinbart (unternehmerisches Projekt).”
Kein Glaubwürdigkeitsproblem bekommt durch die Papiere übrigens Robert Habeck, der die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 wenige Wochen nach seinem Amtsantritt als Wirtschaftsminister gestoppt hat. Er wird bereits im Vermerk für seine Vorgängerin Brigitte Zypries aus dem Jahr 2017 neben Norbert Röttgen als wichtiger Gegner von Nord Stream 2 aufgeführt. “Der Minister für Energiewende aus Schleswig-Holstein, Habeck” verlangte den sofortigen Stopp des geplanten Pipeline-Projekts”, notierte das BMWi seinerzeit.