herzlich willkommen zum Berlin.Table, dem Late-Night-Memo für die Hauptstadt.
Ein ruhiges Jahr 2024 hat kaum jemand erwartet, das wäre angesichts von Europa-, Landtags- und US-Wahlen auch undenkbar gewesen. Dass die Turbulenzen aber derart schnell eintreten, überrascht schon. Noch vor dem Dreikönigstag musste die Ampel alle Hoffnungen fahren lassen, nach den Festtagen könnte etwas mehr Frieden einkehren. Seitdem aggressive Landwirte Robert Habeck beim Verlassen einer Fähre angegangen haben, geht es nicht mehr um Ruhe, sondern um Grenzüberschreitungen beim demokratischen Protest – und um die Frage, wer sich davon einen politischen Nutzen verspricht.
Auf der einen Seite Empörung über die Attacke, nicht nur bei den Grünen, sondern bei Vertretern aller Ampel-Parteien oder auch beim Christdemokraten Daniel Günther. Sahra Wagenknecht hingegen nannte Habeck “weinerlich” und “peinlich”, und Hubert Aiwanger kündigte als Konsequenz an, seine Freien Wähler müssten spätestens 2025 nach Berlin ziehen, um gegenüber den Protestierenden keine unterlassene Hilfeleistung zu begehen. So wünschenswert ein friedlicher Jahreseinstieg gewesen wäre: Womöglich ist der Januar, wie wir ihn bislang erleben, ein realistischer Vorbote auf ein konfliktreiches Jahr 2024.
Wir haben, das alles im Blick, heute mit Ricarda Lang über den Vertrauensverlust in die Politik gesprochen und Rolf Mützenich gefragt, wie er die Lage im Land einschätzt.
Wir wünschen eine gute Lektüre; kommen Sie gut durch die Nacht.
Heute haben Constanze Baumann, Okan Bellikli, Manuel Berkel, Stefan Braun, Michael Bröcker, Franziska Klemenz, Horand Knaup, Annette Kuhn, Daniel Schmidthäussler, Sven Siebert und Maximilian Stascheit mitgewirkt.
Demokratie und Ampel: Lang sieht massiven Vertrauensverlust. Die Co-Vorsitzende der Grünen fürchtet um das Ansehen von Parlament und Regierung. “Wir erleben einen massiven Vertrauensverlust in demokratische Institutionen”, sagte Lang Table.Media. “Und es wird alles andere als einfach, dieses Vertrauen zurückzugewinnen.” Dafür gebe es mehr als nur einen Grund. Aber wenn man auf die Ampel blicke, dann gebe es schon vieles zu verbessern. “Zum Beispiel, dass man gemeinsame Kompromisse auch gemeinsam erklärt und begründet. Dass man sie gemeinsam durchzieht und gemeinsam verteidigt.” Nur dann hätten die Menschen auch das Gefühl, sich auf getroffene Entscheidungen verlassen zu können.
Die Co-Vorsitzende warnt vor Larmoyanz. Die Situation sei wirklich ernst, es gehe um die Verfasstheit und den Schutz der Demokratie. “Das anzuerkennen und auszusprechen, ist wichtig”, so Lang. Gleichzeitig berge dies aber die Gefahr, dass alle Demokraten nun Monate lang darüber reden würden, wie schlimm alles sei. “Genau das darf jetzt nicht passieren: dass Demokraten voller Larmoyanz den Ernst der Lage beschwören und darüber ihren eigentlichen demokratischen Auftrag vergessen.” Der nämlich laute: “Wir müssen zeigen, dass wir besser werden und einen Plan haben, wie wir dem entgegentreten.”
Lang gibt die Ampel nicht auf. Optimistisch stimme sie, wie die Koalition das Land durch die Krise navigiert und welche Fortschritte sie schon erreicht habe. “Aktuelles Beispiel: Der Ausbau der Erneuerbaren.” Nun gehe es freilich darum, den Fokus darauf zu legen, was man gemeinsam auf die Straße bringe, statt sich “von dem aufreiben zu lassen, was uns am anderen stört”. In Koalitionen dürfe nicht das Ziel vorherrschen, dass die Lichter um einen herum möglichst gering leuchten, damit man selbst am meisten strahle. “In Wahrheit wird’s dann nämlich insgesamt immer dunkler.” Was der Umfrageerfolg der AfD mit Gefühlen zu tun hat und was alle Demokraten daraus lernen müssen, lesen Sie im Interview von Stefan Braun.
Mützenich: Deutliche Kritik an Joachim Gauck. Harte Kritik an Alt-Bundespräsident Joachim Gauck übt SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich nach Gaucks Forderung in der Bild am Sonntag, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zur Verfügung zu stellen. Gauck hatte der Bundesregierung generell Zögerlichkeit bei Waffenlieferungen vorgeworfen. Gegenüber Table.Media nannte es Mützenich “höchst ungewöhnlich, wenn sich ein ehemaliges Staatsoberhaupt, das in seiner Amtszeit Zurückhaltung und Überparteilichkeit üben soll, dann im Ruhestand in höchst umstrittenen Fragen derart einlässt und positioniert”. Wenn ehemalige Repräsentanten des Staates einerseits die Erosion demokratischer Ordnung und Werte beklagten, aber “andererseits ohne Kenntnis der Gründe Entscheidungen der staatlichen Institutionen öffentlich in Zweifel ziehen, dann müssen sie sich fragen lassen, ob sie damit nicht genau das befördern, was sie zurecht beklagen”. Deutschland gehöre zu den “verlässlichsten und größten Lieferländern” an die Ukraine.
Mützenich sieht Grenze überschritten. Zu den angekündigten Demonstrationen und zur Protestkultur generell sagte Mützenich, einzelne Ereignisse überschritten inzwischen “jedes Maß und jeden Anstand”. Die Distanzierung des Bauernverbandes bei der Protestaktion gegen Wirtschaftsminister Robert Habeck am Fährhafen Schlüttsiel reiche nicht aus. Sollten sich zudem unter denjenigen, die Habeck an der Nordseeküste angegangen hatten, “Mitglieder oder Funktionäre des Bauernverbandes befinden, müssen diese sofort ausgeschlossen werden, unabhängig von rechtlichen Maßnahmen”. Was Mützenich noch an die Ampel glauben lässt und, ob er sich nach der Großen Koalition zurücksehnt, lesen Sie im Interview von Horand Knaup.
FAZ: Fehleinschätzungen im AA. Die Wahl von Ute Hohoff, der deutschen Kandidatin für einen Richtersitz im Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, ist im Dezember offenbar an einer Reihe von Fehleinschätzungen gescheitert. Stephan Klenner zieht nach zahlreichen Gesprächen den Schluss, das Auswärtige Amt habe die Mehrheitsverhältnisse verkannt, für den mehrheitlich mit Frauen besetzten Gerichtshof eine weitere Frau nominiert und dabei Frankreich übergangen, dessen Kandidat sich schließlich durchsetzte. (“Ohne Richter am Strafgerichtshof“, Seite 8)
Translation missing.Handelsblatt: Eine Billion für Klimaneutralität. Der Umbau des Energiesystems in Deutschland verursacht laut Handelsblatt Research Institute (HRI) Kosten in Höhe von 1,1 Billionen Euro. Diese Summe werde Prognosen und Analysen zufolge gebraucht, um das gesetzlich verankerte Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen. Das Geld werde auch von Unternehmen, Finanzinstituten und Bürgern getragen werden müssen, heißt es in der Analyse. (“Das Billionenprojekt”, Seite 1)
SZ: AfD-Befangenheitsantrag gegen Richter. Vor dem Oberverwaltungsgericht Münster geht es um die Frage, ob der Bundesverfassungsschutz zu Recht davon ausgeht, dass die AfD sich zu einer verfassungsfeindlichen “Bestrebung” entwickelt. Die AfD habe einen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter Gerald Buck gestellt. Buck mache sich “willkürlich zum Anwalt” des Verfassungsschutzes. Ronen Steinke berichtet, die AfD stehe mit dem Verdacht, dass bei der Besetzung wichtiger Richterposten im schwarz-grünen NRW “die Politik eine größere Rolle spielt, als es vielleicht angebracht wäre”, “nicht ganz allein”. (“Mit rechten Mitteln“, Seite 3)
Tagesspiegel: Freie Wähler gewinnen Mitglieder. Daniel Friedrich Sturm hat in den Landesverbänden der Parteien nachgefragt. Die Freien Wähler meldeten: plus elf Prozent bundesweit. Die Parteien der Ampelkoalition, aber auch CDU und CSU, haben im vergangenen Jahr Mitglieder verloren – die FDP offenbar deutlicher als ihre Berliner Koalitionspartner SPD und Grüne. Der Rückgang liegt bei der FDP in NRW bei etwa acht Prozent, in Bayern bei etwa sechs Prozent. (“Nachwuchs verzweifelt gesucht“, Seite 5)
Berliner Zeitung: Sorge um Markenkern. In einem Gastbeitrag fordern die Ex-SPD-MdBs Wolfgang Thierse und Klaus Mindrup ihre Partei auf, sich an best-practise-Modellen im Ausland zu orientieren – an Wien (Wohnbau), Dänemark (Wärmepumpen), Kalifornien (Klage gegen Ölmultis) oder den Niederlanden (Wärmespeicher). Die SPD als Anwältin von Fortschritt und Solidarität müsse wieder “mutiger und klarer werden”. Mindrup strebt bei der Wiederholungswahl im Februar das Direktmandat in Pankow an. (“Prenzlauer Berg ist trotz der Grünen bei Sonnenenergie ein Entwicklungsland“, 7.1.2024)
Nicht überlesen!
FAZ: Bauernverband sind Zügel entglitten. Anlass ist die Blockade der Habeck-Fähre: Der Ex-Agrarstaatssekretär Hermann Onko Aeikens schreibt in einem kürzlich erschienenen Buch, der Deutsche Bauernverband habe Protestformen wie Trecker-Kolonnen und Straßenblockaden als “nicht mehr zeitgemäß” eingestuft. Nun müsse man zuschauen, “wie sich unter den Landwirten eine Bewegung formierte, die sich nicht nur sehr kritisch gegen Regierung und Parteien positioniert, sondern auch gegen ihre eigenen Verbände”. (“Beinahe die Fähre gestürmt”, Seite 2)
Berliner Liaison: CDU-Politiker bringt Wegners Rücktritt ins Spiel. Die Beziehung zwischen dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner, und der Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (beide CDU), führt erstmals auch zu offener Kritik in der Hauptstadt-CDU. Der frühere Bundesgeschäftsführer der CDU, Hans-Joachim Reck, fordert Wegners Rücktritt, sollte er die Beziehung aufrechterhalten. “Der Regierende Bürgermeister wird über kurz oder lang nicht umhinkommen, eine Compliance-konforme Lösung herbeizuführen”, sagte Reck Table.Media. Dabei plädiere er nicht für eine Entlassung oder den Rücktritt der Bildungssenatorin. “Der Rücktritt von Herrn Wegner vom Amt des Regierenden Bürgermeisters wäre das Beste für Berlin, aber auch für die CDU.”
Reck sieht eine “verfassungsrechtliche” und eine “verfassungspolitische Dimension”. Die von Wegner erklärte Trennung von beruflichen und privaten Interessen sei unglaubwürdig. “Wie soll das gehen? In einem Kollegialorgan wie dem Senat von Berlin ist eine jetzt immer gleicher als alle anderen.” Recks Fazit: Wegner agiere weder integer noch moralisch vertretbar. “Er offenbart in Fragen der Compliance fachliche Inkompetenz und insgesamt große, charakterliche Schwächen.” Reck ist Mitglied der Berliner CDU. Er war nach seiner politischen Karriere von 2007 bis 2015 als Hauptgeschäftsführer des Verbandes kommunaler Unternehmen tätig. Reck mahnte eine neue Compliance-Regelung für die Mitglieder des Senates und der Landesverwaltung an. Wegner und Günther-Wünsch hatten vor wenigen Tagen ihre Beziehung öffentlich gemacht. Ein Anwalt des Paares erklärte, beide würden in ihrer Amtsführung “Privates und Berufliches strikt trennen.”
Söders Zukunft: Letzte Ausfahrt Berlin? In der CSU kursieren Spekulationen um die politische Zukunft von Parteichef und Ministerpräsident Markus Söder. Es sei denkbar, dass Söder nach der nächsten Bundestagswahl im Falle eines Regierungswechsels nach Berlin wechseln könnte, auch wenn er nicht Kanzlerkandidat wird. “Es gibt diese Gerüchte um Söder, das geistert rum”, heißt es in der CSU. Söder sei Bayern offenbar zu eng geworden. Tatsächlich äußerst sich Söder neuerdings häufiger zu außenpolitischen Themen. Kurz vor Weihnachten war er auf Staatsbesuch in Israel, als erster Ministerpräsident seit dem Überfall der Hamas, wie er dort sagte. Offiziell sind mögliche Wechselabsichten Söders noch kein Thema. Bei der Winterklausur im oberbayerischen Kloster Seeon habe er “keinerlei Andeutungen” dazu gemacht, hieß es aus Teilnehmerkreisen.
Die CSU will nach einem Regierungswechsel zentrale Beschlüsse der Ampel rückgängig machen. Auch wenn intern die meisten in der CSU davon ausgehen, dass die Ampel bis 2025 durchhält, kündigte die CSU-Führung schon mal an, nach einem Sieg das Heizungsgeld und das Bürgergeld in seiner jetzigen Form wieder abzuschaffen. Nach den Vorstellungen der CSU soll es wieder Sozialhilfe genannt werden. Außerdem plädiert die CSU für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht und fordert eine massive Aufrüstung der Bundeswehr. Söder betonte, dass er nach der nächsten Wahl – sollte es nicht für ein Zweierbündnis reichen – einem Jamaika-Bündnis eine sogenannte Deutschland-Koalition aus Union, SPD und FDP vorziehen würde. Welche Gründe für einen Wechsel Söders nach Berlin sprechen und warum sein Verhältnis zu Friedrich Merz dabei eine große Rolle spielt, lesen Sie in der Analyse von Peter Fahrenholz.
Hochwasser: Dringlicher Ruf nach Pflichtversicherung. Nach den schweren Überschwemmungen in mehreren Bundesländern und absehbaren Millionenschäden wird der Ruf nach einer obligatorischen Elementarschadenversicherung lauter. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer sagte zu Table.Media: “Der Staat wird nicht für alle Zeit in der Lage sein, diese Kosten zu tragen. Wir müssen uns sehenden Auges auf diese Wetterereignisse, die häufiger werden, einrichten.” Es sei nötig, “ein Bewusstsein in der Bevölkerung zu schaffen.” Dass Bundesjustizminister Marco Buschmann eine Elementarschadensversicherung ablehnt, nannte Kretschmer “verantwortungslos”. Auch der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil sagte: “Angesichts der aktuellen großflächigen Hochwasser muss Herr Buschmann endlich liefern.” Eine obligatorische Versicherung “würde das Risiko für schwere Schäden nach Extremwetterereignissen auf viele Schultern verteilen”. Auch die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang sagte nach einem Besuch in der hochwasserführenden Elbe-Region: “Wir müssen das Thema angehen.”
Die Ministerpräsidenten sind sich einig. Sie wollen eine obligatorische Versicherung gegen Hochwasser und andere Naturgefahren und erhöhen nun den Druck. Immer wieder stand das Thema im vergangenen Jahr auf der Tagesordnung der Ministerpräsidentenkonferenz. Bisher ohne Ergebnis, vor allem weil sich Justizminister Buschmann gegen eine Pflichtversicherung aussprach. Zwei seiner Argumente: Es gebe erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken und könnte zudem in vielen Haushalten “für drastische finanzielle Belastungen” sorgen. Ein Bericht der Bundesregierung vom Dezember 2022 hatte die bestehende Situation “aus gesellschaftlicher, volkswirtschaftlicher und rechtlicher Sicht (als) problematisch” angesehen. Die regelmäßigen staatlichen Hilfen, häufig in Milliardenhöhe, setzten “Fehlanreize zur Vernachlässigung individueller Risikoprävention”. Derzeit versucht eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eine Verständigung zu erzielen. Der Druck, Ergebnisse vorzulegen, dürfte nun erheblich steigen. Warum sich die Versicherungswirtschaft zum Thema Elementarschadenpflicht nur sehr zurückhaltend äußert, lesen Sie in der Analyse von Horand Knaup.
SZ: Bauern drohen mit Autobahnblockaden
FAZ: Politiker rufen Bauern zur Mäßigung auf
Tagesspiegel: 330.000 Asylbewerber in 2023: Union verlangt Klarheit und Kurskorrektur von der Regierung
Handelsblatt: Das Billionenprojekt
Sächsische Zeitung: Dresdner Forscher arbeiten mit weltweit neuer Technik gegen Krebs
Zeit Online: Harvard: Meinungsvielfalt gewünscht – aber nicht bei jedem Thema
Spiegel: Acht Zutaten für 20 zusätzliche Lebensjahre
RND: Rassismus im Fußball: “Wenn wir den Mund halten, akzeptieren wir es”
T-Online: “Bauernprotest wird uns von der Außenwelt abschneiden”
Business Insider: Elon Musks Drogenkonsum war so besorgniserregend, dass eine Tesla-Direktorin auf eine Wiederwahl verzichtete
Zeit Online: Vor Mittwoch noch keine neuen Bahnstreiks
Spiegel: Bauern machen Stau – was am Montag wo zu erwarten ist
Welt: Joggerin versehentlich auf Treibjagd angeschossen
Handelsblatt: Fahrradhändler unter Druck: “Die richtige Krise kommt erst noch”
NZZ: Kann man als Österreicherin an einer amerikanischen Universität woke genug sein?
FDP-Dreikönigstreffen: Augen zu und durch. Beim Neujahrsauftakt der Liberalen in Stuttgart hat sich die Parteiführung Mühe gegeben, den Mitgliedern eine neue Erzählung für 2024 mitzugeben. “Egal wie das Jahr davor war, hiermit fängt das politische Jahr für die Partei neu an”, gab Generalsekretär Bijan Djir-Sarai die Losung vor. Der Auftrag also: Das vergangene Jahr vergessen machen, den Blick nach vorne richten. Den nur knapp gewonnen Mitgliederentscheid erwähnte keiner der Redner. Genauso wenig fanden die bevorstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland Erwähnung. Fast demonstrativ ließ FDP-Landeschef und Gastgeber Michael Theurer den anwesenden Thüringer Landeschef Thomas Kemmerich in seiner minutenlangen Begrüßungsrunde außen vor. Im vergangenen Jahr waren die damaligen Wahlkämpfer ausdrücklich begrüßt worden. Auch Parteichef Christian Lindner ging auf die Unzufriedenheit der eigenen Leute mit der Ampel nicht ein. Stattdessen konzentrierte er sich auf anstehende Projekte: Aktienrente, Wachstumschancengesetz, Startchancen-Programm, “Nachschlag für die arbeitenden Mitte”.
Die Hoffnung ruht auf Europa. Die designierte Europawahl-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann wird immer mehr zur Hoffnungsfigur der Partei. Strack-Zimmermann nahm sich in ihrer Rede EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor und wird ihren Wahlkampf wohl nicht zuletzt auf den Abbau der vermeintlich überbordenden Brüsseler Bürokratie konzentrieren: “Wir brauchen weniger von der Leyen und mehr von der Freiheit!” Das Publikum dankte es ihr mit standing ovations. Einer langjährigen Teilnehmerin des Dreikönigstreffens zufolge war es das erste Mal, dass einer Kandidatin diese Ehre zuteil wurde. Überhaupt klang es so, als sei der politische Hauptkonkurrent nun wieder die Union. Auch Lindner arbeitete sich am einstigen Wunschkoalitionspartner ab. Kritik der CDU nannte er, einen Ausdruck von Generalsekretär Carsten Linnemann übernehmend: “Wahnsinn”.
Bürgergeld: Manche Ukrainer melden sich nicht ab. In mehreren Fällen haben sich Bürgergeld-Empfänger aus der Ukraine bei Heimfahrten nicht wie vorgeschrieben behördlich abgemeldet. Wenn die Abwesenheit bekannt werde, “werden die notwendigen Schritte inklusive Prüfung des Leistungsmissbrauchs vorgenommen”, sagte ein Sprecher der Bundesagentur für Arbeit (BA) Table.Media. Ein systematischer Missbrauch sei nicht bekannt, aber Jobcenter-Mitarbeitende hätten gemeldet, dass manchen nicht bewusst gewesen sei, dass sie sich melden müssen. Daher habe man präventiv Kontakt zu Vereinen und Organisationen aufgenommen, um Betroffene über ihre Pflichten und mögliche Konsequenzen zu informieren, so die BA. Genaue Zahlen oder Schätzungen gibt es demnach nicht.
Ukrainerinnen und Ukrainer müssen bestimmte Vorgaben beachten. Für eine Dauer von bis zu drei Wochen pro Jahr können sie in ihre Heimat reisen und bekommen weiter Bürgergeld gezahlt, wenn das Jobcenter der Abwesenheit zugestimmt hat. Liegt die Reisedauer zwischen drei und sechs Wochen, bekommen sie nur für drei Wochen Geld. Dauert die Reise länger als sechs Wochen, erhalten sie in der Regel kein Bürgergeld mehr und müssen es nach ihrer Rückkehr neu beantragen. Das Jobcenter muss in jedem Fall vor der Ausreise informiert werden. Der BA liegen eigenen Angaben zufolge keine Berichte über ukrainische Personen vor, die Bürgergeld beziehen und sich dauerhaft wieder in ihrem Heimatland aufhalten.
Neue KMK-Präsidentin: Kommunen enger einbeziehen. Die designierte KMK-Präsidentin Christine Streichert-Clivot will die Zusammenarbeit mit den Kommunen im Bildungswesen intensivieren. “Die Bildungsminister können ihre Arbeit ohne eine enge Verknüpfung mit den Kommunen überhaupt nicht umsetzen”, sagte die saarländische Bildungsministerin im Interview mit Table.Media. “Wir müssen Schule stärker als Teil eines lokalen Netzwerks sehen.” Im Übrigen sei es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Schulen zu stärken. “Wir tragen eine hohe Erwartungshaltung an die Schulen heran. Aber diesen Erwartungen können sie niemals gerecht werden.”
Am 12. Januar übernimmt das Saarland turnusmäßig den Vorsitz der Kultusministerkonferenz. Für ihre Präsidentschaft hat sich Streichert-Clivot vorgenommen, den Reformprozess in der KMK zu beschleunigen und die Zahl der Gremien zu reduzieren. “Die KMK ist nicht agil genug. Wir brauchen Gremien, die zielgenauer arbeiten und zügiger Beschlüsse fassen, die in den Ländern dann auch umgesetzt werden können.” Das Beratungsunternehmen Prognos hatte im vergangenen Jahr ein ausuferndes Gremienwesen in der KMK konstatiert und Empfehlungen für einen Reformprozess vorgelegt. Was Streichert-Clivot nach den jüngsten Pisa-Ergebnissen für nötig hält, lesen Sie im Interview von Annette Kuhn im Bildung.Table.
Berlin und Brüssel: Habeck auf Marathon-Besuch. Auf den Bundeswirtschaftsminister wartet am Montag in Brüssel ein Mammutprogramm; er muss zahlreiche aktuelle Baustellen besprechen. Dazu wird der Vizekanzler von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen empfangen und auf fünf weitere Kommissare treffen: Maroš Šefčovič (Green Deal), Thierry Breton (Binnenmarkt), Didier Reynders (Justiz), Kadri Simson (Energie) und Wopke Hoekstra (Klima). Habeck brennen so viele Themen unter den Nägeln, dass seine Leute nicht sicher sind, ob er alle unterbringen kann.
Große Themenblöcke hat der Vizekanzler auf seinem Zettel. Erstens: die EU-Erweiterung und innere Reformen. Damit verbunden ist die heikle Frage nach der Finanzierung der EU und dem Wunsch der Kommission nach eigenen Einnahmen. Zweitens: die Handelspolitik. Habeck sucht den Schulterschluss vor der WTO-Ministerkonferenz Ende Februar in Abu Dhabi. Außerdem werden die Anti-Dumping-Untersuchungen gegen E-Autos und Solarmodule aus China Thema sein. Dazu kommt der Green Deal für 2030. Und einen Spagat muss Habeck beim Thema Beihilfen hinlegen. Einerseits will die Ampel nicht, dass sich Unternehmen durch das Industrieprogramm Net-Zero Industry Act nur noch auf staatliche Förderung verlassen. Andrerseits will Habeck sehr wohl einzelne Beihilfefälle anschieben, etwa für den grünen Umbau der Stahlproduktion von Arcelor Mittal in Nord- und Ostdeutschland.
China.Table: Verliert der Westen an Einfluss in Afrika? Die kenianische Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor bricht im Interview mit China.Table eine Lanze für Chinas Engagement in Afrika. Owuor erkennt in China auch ein Vorbild – für die Wirtschaftspolitik, aber auch für die Herausbildung einer selbstbewussteren ostafrikanischen Identität. Warum sie die Bedenken des Westens über den wachsenden chinesischen Einfluss auf dem Kontinent für Heuchelei hält, erfahren Sie hier.
China.Table: Eliten gegen Xi. Ein Editorial der chinesischen Finanzzeitschrift Caixin kam im Dezember als Manifest der intellektuellen Eliten gegen die Politik der Pekinger Führung daher. Pekings Parteiführern, allen voran Xi Jinping, muss das unter die Haut gefahren sein. Es steckt voller Anspielungen und stellt Xis Erfolgsbilanz nach innen wie nach außen infrage. Die Regierung reagierte und verbot den Verkauf. China.Table-Autor Johnny Erling konnte sich dennoch ein Exemplar ergattern. Was am Inhalt so brisant ist, erfahren Sie hier.
Deutschlandfunk
6:50 Uhr: Claudia Major, Stiftung Wissenschaft und Politik: Zukunft der Ukraine
7:15 Uhr: Michael Kretschmer, Ministerpräsident von Sachsen (CDU): Proteste und Demokratie
8:10 Uhr: Matthias Quent, Extremismusforscher: Unterwanderte Proteste?
ZDF
7:10 Uhr: Stephan Weil, Ministerpräsident von Niedersachsen (SPD): Bauernproteste und Sparpläne der Bundesregierung
8:10 Uhr: Hendrik Wüst, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen (CDU): Bauernproteste, Schuldenbremse und Hochwasserhilfe
Highlights der Woche
Am Montag will Sahra Wagenknecht in der Bundespressekonferenz ihre Parteigründung offiziell verkünden. Dabei sein werden unter anderem Ex-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali, MdB Christian Leye sowie der Düsseldorfer Ex-OB Thomas Geisel.
Am Dienstag lädt der Bundespräsident zum Neujahrsempfang für Repräsentanten und Repräsentantinnen des öffentlichen Lebens auf Schloss Bellevue. Erwartet wird unter anderem Olaf Scholz.
Von Mittwoch bis Freitag halten europäische Ministerinnen und Minister in Namur die informelle Tagung für “Beschäftigung und Soziale Angelegenheiten” ab.
Was noch wichtig wird
Montag, 8. Januar
Sachsen: Neujahrsempfang des sächsischen Landtagspräsidenten. 10:00 Uhr, Dresden.
Außenpolitik: Olaf Scholz empfängt den luxemburgischen Premierminister Luc Frieden. 16:30 Uhr, Bundeskanzleramt.
Digitalpolitik: Volker Wissing reist nach Los Angeles und Las Vegas.
Mittwoch, 10. Januar
Landwirtschaft: Cem Özdemir nimmt an einer Bauernkundgebung teil und hält eine Rede. 10 Uhr, Ellwangen.
Sport: Frank-Walter Steinmeier besucht das Eröffnungsspiel der Handball-Europameisterschaft der Männer, Deutschland – Schweiz. 20:45 Uhr, Düsseldorf.
Außenpolitik: Frank Schwabe, Beauftragter der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, reist nach Guatemala.
Donnerstag, 11. Januar
Schienenverkehr: Olaf Scholz nimmt am Festakt der Inbetriebnahme des neuen Instandhaltungswerks der DB für ICE-Züge teil. 10 Uhr, Cottbus.
SPD: Klausur der Bundestagsfraktion, Berlin (bis Freitag)
Diplomatie: Neujahrsempfang für das Diplomatische Korps durch Frank-Water Steinmeier. 11 Uhr, Schloss Bellevue.
Freitag, 12. Januar
Empfang: Elke Büdenbender lädt zum Neujahrsempfang für die Partner/innen des Diplomatischen Korps. 11 Uhr, Schloss Bellevue.
CDU: Bundesvorstandsklausur, Heidelberg (bis Samstag)
Samstag, 13. Januar
Sozialpolitik: Fachtag Soziales Wohnen. Friedrich-Ebert-Stiftung, 14 Uhr, Dresden. Infos & Anmeldung
Montag, 8. Januar
Birgit Aschmann, Historikerin, 57 / Albrecht Glaser, MdB (AfD), 82 / Franziska Hoppermann, MdB (CDU), 42 / Rainer Kraft, MdB (AfD), 50 / Till Mansmann, MdB (FDP), Innovationsbeauftragter im Bildungsministerium, 56 / Roland Philippi, Abteilungsleiter im Bildungsministerium, 35 / Sabine Rückert, Journalistin, 64
Unser Tipp führt Sie heute nach Antwerpen. Genauer gesagt: in die Welt der bis heute vor allem jüdischen Diamantenschleifer. Eine Welt voller Regeln und Rituale, die einst sehr erfolgreich war, aber wie so vieles ins Bröckeln gekommen ist. Reich und doch nicht mehr so reich; ultra-orthodox und manchmal doch nicht mehr so religiös. Loyal und manchmal sehr illoyal. Auch hier: Es sind die Brüche im Leben, die das Leben und diese Serie so spannend machen. Der Titel sagt schon fast alles.
Rotem Shamir, Yuval Yefet: Rough Diamonds | Netflix
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Good night and good luck!
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