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Interview|Demokratie
Letzte Aktualisierung: 16. Januar 2024

Karl-Rudolf Korte: Neu ist die Tonalität von Staatsverachtung – auch bei den Mitte-Wählern

Scharfzüngiger Analytiker der deutschen Politik: Karl-Rudolf Korte (IMAGO / Political-Moments)
Die Demokratie wird durch Extremisten herausgefordert, die Parteienlandschaft verändert sich. Im Interview erklärt Karl-Rudolf Korte, warum die AfD zurzeit erfolgreich ist und Deutschland trotzdem noch lange nicht verloren ist.
Im jüngsten Politbarometer ist die Union so stark wie die Ampel zusammen – und daneben kratzen vier Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde: Linke, BSW, Freie Wähler und FDP. Was passiert in Deutschland?
Groß-, Mittel-, Kleinparteien differenzieren sich aus. Neue Defizitparteien bilden Angebote ab, die angeblich oder tatsächlich von den anderen, etablierten Parteien nicht präsentiert werden. Die Dynamik des Parteienmarktes ist augenblicklich hoch. Das setzt die etablierten Parteien unter Druck. Die Rückbindung der Politik an den Wähler steigert sich. Insofern kann dahinter auch ein neuer Aufbruch stecken, der sich neue Formen sucht – durchaus auch in der starken politischen Mitte.
Immer mehr Parteien grenzen sich radikal von Berlin und der Hauptstadt-Politik ab. Wo führt das hin?
Parteien sind in Demokratien ein Abbild der Gesellschaft. Wenn sich die Gesellschaft der „Singularitäten“ durchsetzt, verändert das auch den Parteienwettbewerb. Wir haben schon einen Bundestag als Parlament der Singularitäten: Acht Parteien haben Mandate erhalten. Insofern sind mehr Parteien zunächst kein Anzeichen von Erosion der Demokratie oder des Parlamentarismus, sondern eher das Gegenteil.
Ist der Zusammenhalt in Deutschland ernsthaft gefährdet?
Nein, denn bei Hauptwahlen agieren die Sicherheitsdeutschen bislang immer gleich: mittig, moderat, mittelmäßig. Es werden Amtsinhaber gewählt, Koalitionen bestätigt und das Bekannte dem Unbekannten vorgezogen. All das haben wir zuletzt bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern erlebt. Damals war auch schon „Krise“. Wer nur die extremen Ränder ansieht, verliert den Blick für die breite politische Mitte. Zugegebenermaßen normalisiert sich die Wahl von Radikalen. Sie legen zu. Aber es ist kein Automatismus zu immer mehr, sondern in den zurückliegenden zehn Jahren der AfD hatte sie zwischenzeitlich über die Hälfte ihrer Wählerschaft verloren. Neu ist eher die Tonalität von Staatsverachtung – auch bei den Mitte-Wählern.
Wie konnte es dazu kommen?
Das Grundbedürfnis nach Sicherheit ist gestört. Grundvertrauen erodiert. Gesprächsstörungen zwischen Regierten und Regierenden sind die Folge. Niemand hört auf mich – sowas vervielfältigt sich. Der Resonanzdraht zwischen Politik und den Bürgern ist gestört. Die Phänomene der Distanzdemokratie sind durch die Coronazeit verstärkt worden. Wer sich permanent in Zeiten von Vielfachkrisen seine Sicherheit erarbeiten muss, ist schnell erschöpft. Wähler sind in Deutschland primär Sicherheitsdeutsche: risikoavers, veränderungsscheu, absichernd, stabilitätsfanatisch und etatistisch.
Manche wie Frau Köcher sprechen noch immer von vielen Protestwählern. Andere sagen: Es geht längst um einen Vertrauensverlust. Ist eine Spaltung nach dem „Vorbild“ USA oder Großbritannien aufzuhalten?
Wir gehen immer noch europäische Sonderwege. Unser Parteienwettbewerb ist moderat, pluralistisch und keineswegs polarisierend. Wir haben gewachsene Radikalität an den Rändern und mehr Toleranz dieser Radikalität aus der Mitte heraus. Aber wie das Team des Kollegen Mau treffend soziologisch analysiert hat, leben wir nicht mit Polarisierungen, sondern eher mit Polarisierungsbehauptungen, die an bestimmten „Triggerpunkten“ aktivierbar sind. Noch sind bei Hauptwahlen die Ergebnisse in Deutschland extrem mittig. 85 Prozent der Wähler haben in Hessen und Bayern nicht radikal gewählt.
Mit der AfD ist mindestens eine Partei in Umfragen stark, die offen die demokratischen Institutionen delegitimieren will. Ist die Demokratie in Gefahr?
Sie kann erodieren, wenn wir die Instrumente der Wehrhaftigkeit, die unser Grundgesetz vorsieht, jetzt nicht auch aktivieren. Und noch wichtiger: Die Mitte muss laut werden. Sie muss sich empathiefähig zeigen. Sie muss stärker integrieren. Sie muss Räume der Überschneidung stärken und auch üblen Argumenten nicht ausweichen. Gesprächsstörung kann man minimieren.
Was heißt das? Auch mit der AfD reden?
Nein, aber mit den Wählern und den potenziellen Wählern von Provokations- und Protestparteien reden. Dabei spielt eine Rolle nachzuweisen, wie die Parteien der Mitte die drängenden Probleme so lösen, dass erkennbarer Zukunftsnutzen für den Wähler entsteht. Diese Gespräche sind offensiv werbend.
Nochmal zur AfD: Wie gefährlich ist sie?
Die Dynamik der AfD ist schwer einzuschätzen. Aber viele Wähler finden sich auch dort, weil dort offenbar alles ausgesprochen wird, was sie selbst bedrückt und weil sie gleichermaßen auch alles verstehen, was dort propagiert wird. Diese Erfolgsformel von Populisten, Nationalisten, Rassisten und Faschisten muss man nicht imitieren, aber strukturell verstehen. Wer keine Resonanz zu den Wählern aufbaut, kann weder auf Vertrauen noch auf Mobilisierbarkeit hoffen. Wähler fordern insofern, dass sich die Politiker um die Lösung von Problemen kümmern, die sie alle als am wichtigsten einschätzen. Und Politik wiederum sollte mit erhellenden Vereinfachungen auch verständlich argumentieren.
In Thüringen, Sachsen und Brandenburg wird dieses Jahr gewählt. Überall liegt die AfD vorne. Kann es im Herbst eine AfD-geführte oder tolerierte Landesregierung in Deutschland geben?
Man sollte nie die Dynamik des Parteienwettbewerbs und von Wahlkämpfen unterschätzen. Es gibt keine linearen Entwicklungen mehr in komplexen Gesellschaften. Warum unterschätzen wir die Stärke der Amtsinhaber, die kämpfen werden und mit Amtsbonus auch mobilisieren? Warum unterschätzen wir die Möglichkeiten, mit Demokratie- und Freiheitserlebnissen auch aus der Mitte heraus kämpferisch und laut für mittige Mehrheiten zu streiten? Warum können nicht Instrumente der wehrhaften Demokratie auch die Feinde des Grundgesetzes in ihre Schranken verweisen? Nichts ist entschieden, zumal es im Osten keinerlei Wählerbindungen gibt, die mit Parteibindungen im Westen vergleichbar wären. Im Osten gibt es die wählerischsten Wähler!
Was muss die Regierung jetzt machen? Sich neu erfinden?
Die Regierung sollte das Leistungsversprechen der Demokratie einlösen: Die wichtigsten Probleme lösen oder zumindest Verbesserungen sichtbar machen. Wenn die Wähler erkennen, um ihre Hauptprobleme kümmert sich die Politik, steigen die Sympathiewerte gegenüber der Regierung. Ebenso wäre es ein Pluspunkt, wenn Wähler erkennen, dass Politik verlässlich agiert, dass Politik handwerklich auf Planbarkeit aus ist und nicht nur situativ und erratisch.
Wie sieht die Welt in zehn Jahren aus?
Die Qualität von Demokratien hängt auch davon ab, welches positive Zukunftsbild wir haben. Sicherheitsdeutsche wünschen kalkulierbare Lebenswelten mehr denn je in unsicheren Zeiten, um Kontinuität herzustellen. Wer darauf eingeht, minimiert Wutvorräte und demokratiefeindliche Einstellungen. Zumutungsmut von Regierungen kann auf Veränderungszuversicht treffen. Wenn es Demokratien schaffen, mit Veränderungen gleichzeitig auch neue Sicherheiten herzustellen, werden die Wähler ihnen folgen. Außerdem: Nichts passiert einfach in Demokratien, sondern Bürger können es gestalten. So ein Ausblick macht neugierig und mutig.
Am Mittwoch erscheint Karl-Rudolf Kortes neues Buch „Wählermärkte. Wahlverhalten und Regierungspolitik in der Berliner Republik“, Campus Verlag, Frankfurt/New York