Die Regierungskommission, der Sie angehören, hatte Ende 2022 Empfehlungen für eine Krankenhausreform vorgelegt. Die sollten jetzt schon Gesetz sein. Stattdessen ruht alles, nachdem die Länder den Bund haben auflaufen lassen. Ist die Reform noch zu retten?
Schwer zu sagen! Ungewöhnlich war ja schon der im Koalitionsvertrag verabredete Start mit einer Regierungskommission aus Experten statt der üblichen Lobbyverdächtigen. Unsere Vorschläge hat der Minister ziemlich genau übernommen. Er hat aber auch den Gesetzgebungsprozess ungewöhnlich aufgesetzt, indem er die Länder von Anfang an beteiligt hat. Ziel war, schnell in die Umsetzung vor Ort zu kommen. Das hat aber nicht funktioniert.
Warum nicht?
Bis zum Bund-Länder-Eckpunktepapier im Juli stand die Zeitschiene noch. Aber weil die Länder unsere Einteilung der Krankenhäuser abgelehnt hatten, wackelte alles. Als Ad-Hoc-Alternative hat der Bund das Transparenzgesetz vorgelegt. Doch die Länder haben sich nicht an die Abmachung gehalten, dieses anstelle der von uns vorgeschlagenen dreistufigen Level anzunehmen. Deshalb traut der Bund den Ländern nicht mehr.
Nach welchen Kriterien planen die Länder bisher die Versorgung?
Meistens nach gar keinen. Wir haben 16 Krankenhausplanungslogiken untersucht und festgestellt, dass nur die Hälfte der Länder eine gewisse Hierarchisierung vornimmt. Und diese acht folgen verschiedenen Logiken. Eine heißt: Die Menge an Betten in einem Krankenhaus definiert die Stufe, zu der es gehört. Statt umgekehrt: dass die für eine adäquate Patientenversorgung nötige Menge und Art an Betten eine Stufe definiert.
Aber es gibt doch „Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung“ und „Fachkrankenhäuser“…
… keiner dieser Begriffe ist einheitlich definiert! Es gibt in Deutschland nicht das international übliche „General Hospital“. Das mit Ärzten rund um die Uhr das vorhält, was man im Ernstfall braucht, grob gesagt: Innere, Chirurgie, Gynäkologie mit Geburten, Kardiologie mit Herzkatheter. Viele Menschen wissen gar nicht, dass sogar in den großen Krankenhäusern Ärzte nachts 30 Minuten bis zu ihrem Einsatz brauchen dürfen – weil sie zu Hause schlafen. Das kostet bei zeitkritischen Eingriffen Menschenleben.
Und diese Krankenhäuser wollte ihre Reform schaffen?
Genau, Level 2 wäre ein Allgemeines Krankenhaus; bei Level 3 kämen Leistungen der Maximalversorgung dazu. Die Grundidee war, dass jeder Landkreis ein „richtiges“ Krankenhaus – ab Level 2 – hat; Städte natürlich mehr. Etwa eins für 200.000 Einwohner.
Also würden bezogen auf Deutschlands Einwohnerzahl 416 Krankenhäuser reichen statt die bisherigen rund 1700?
Dänemark kommt seit seiner Reform sogar mit weniger aus: Würde Deutschland so viele Kliniken vorhalten wie die Dänen für ihre Bevölkerung, hätten wir nur 330. Aber unsere bisherigen Standorte können und sollten weiter genutzt werden. Level-1-Krankenhäuser könnten zum Beispiel akutpflegerische Zentren mit Akutbetten sein, in der Regel aber ohne Notaufnahme.
Unsere bisherigen Grund- und Regelversorger bieten also nicht einmal das, was ein „General Hospital“ vorhält?
Zumindest nicht hinsichtlich der Qualitätskriterien. Dabei sollten Sie erwarten, dass wenn Sie einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erleiden, das Krankenhaus, das Sie aufnimmt, auch diese Leiden adäquat behandeln kann. Aber das ist nicht zwingend der Fall. In den Verhandlungen haben die Länder gesagt, das sei auch nicht nötig: Vor Ort wisse doch jeder, dass man bei einem Schlaganfall ins Elisabethkrankenhaus geht und bei einem Infarkt ins Sankt Gertruden. Als wäre den Betroffenen ins Gesicht geschrieben, ob sie einen Schlaganfall oder einen Infarkt erlitten haben.
Ihre Expertenkommission hat analysiert, dass heute nur etwa 50 Prozent aller Krebspatienten in einem onkologischen Zentrum behandelt werden – die andere Hälfte werde schlechter versorgt.
So ist es. Und die Länder haben dazu gesagt: Wenn von 100 Patienten nach der Reform 50 in ein anderes, spezialisiertes Krankenhaus gehen, zeige das, dass die Reform nicht umsetzbar sei – dabei ist doch dies genau einer der Gründe für die Reform!
Wie kommt man auf die Menge von Einwohnern pro Krankenhaus? Gibt es da internationale Werte?
Man kann sich an häufigen Krankheitsfällen orientieren. Etwa Herzinfarkt: Den erleiden täglich rund 500 Menschen in Deutschland. Heute verteilen wir diese 500 auf 1000 Krankenhäuser. Statt auf maximal 500, die dann auch die nötige Anzahl an Kardiologen vorhalten können. Gerade das Personal ist ja eine endliche Ressource. Unsere Level würden übrigens mit der Notfallversorgung korrelieren. Wir haben uns dabei an der Notfallstufeneinteilung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) orientiert, die es seit 2018 gibt. Nach der haben 420 Krankenhäuser die Voraussetzung für eine erweiterte oder umfassende Notfallversorgung. Also ziemlich genau eins pro 200.000 Einwohner.
Funktioniert die von Ihrer Kommission geplante Notfallreform ohne die Level?
Egal ob man es Level wie die Regierungskommission oder Notfallstufen wie der G-BA nennt: Natürlich braucht man eine Stufung, da nicht jedes Krankenhaus auf jeden Notfall vorbereitet ist oder sein sollte. Schließlich gibt es „nur“ 500 Herzinfarkte am Tag – und übrigens nur 40 Polytrauma-Patienten.
Und die Reform als solche, funktioniert die ohne eine Hierarchisierung?
Ich sehe für die Level keine Alternativen. Man muss doch bei der Planung immer zuerst die für die Versorgung unerlässlichen Krankenhäuser definieren. Dazu kann man noch spezielle Kliniken, etwa Augenkliniken oder Geriatrien, vorhalten. Das Problem ist: In Deutschland wird die Planung nicht von den Patientinnen und Patienten aus gedacht, sondern von den Krankenhäusern. Wobei es nicht nur in Bayern große weiße Flecken auf der Landkarte gibt, wo man richtige „Level 2“-Krankenhäuser erst bauen müsste oder existierende „Level 1"-Krankenhäuser besser ausstatten, da es zwar zu viele Krankenhäuser gibt, diese aber oft schlechter ausgestattet als nötig sind.
Können Sie das an einem Beispiel festmachen?
Nehmen wir den Elbe-Elster-Kreis in Brandenburg. Da wurden drei Kreise zu einem zusammengelegt. Die hatten alle ein Krankenhaus, deshalb hat das Elbe-Elster-Klinikum heute drei Standorte. Nur: Dummerweise hat keins der drei Häuser einen Herzkatheter oder eine Stroke Unit. Das heißt: Keins der drei kann einen Infarkt oder einen Schlaganfall qualitativ angemessen behandeln. Das sieht der Landrat durchaus als Problem, das durch die Zentralisierung an einem „Level 2“-Standort zu lösen wäre. Deshalb bindet Lauterbach jetzt die Kommunen in seine Reform ein.
Beim ersten Treffen am Montag forderten die Spitzenvertreter der Gemeinden vor allem mehr Geld vom Bund, genau wie die Bundesländer. Lauterbach hat sechs Milliarden Euro Liquidität über das Transparenzgesetz zugesagt – ein Gesetz, das noch den Vermittlungsausschuss passieren muss. Was soll es bewirken?
Der Bürger oder seine Angehörigen sollen sich nun wenigstens im Internet informieren können, welche Krankheiten welche Klinik angemessen versorgt. Das ist natürlich nicht dasselbe, wie wenn jeder sich „automatisch“ auf die Qualität des nächst gelegenen allgemeinen Krankenhauses verlassen kann.
Die Zuordnung des medizinischen Angebots zu „Leistungsgruppen“ gehörte auch zu Ihrem Plan. Der Bund hat dann aber andere Leistungsgruppen gewählt, nämlich die aus Nordrhein-Westfalen, das bereits seit 2017 eine Reform plant. Politisch sicher ein guter Schachzug – inhaltlich auch?
Karl Lauterbach hat sich auf die Weise die Zustimmung seines NRW-Kollegen Karl-Josef Laumann für die Reform gesichert. Aber erstens sind die Leistungsgruppen jetzt nicht mehr an Level geknüpft, was zur Folge hat, dass man sie nicht so stapeln kann wie gedacht. Also dass ein Krankenhaus, das die Leistungsgruppe Herztransplantation anbietet, auch Beatmung, Bildgebung, Intensivbetten und so weiter mit entsprechender Ausstattung und Personalerfahrung vorhält. Nach unserem Plan konnten sich für die Leistungsgruppe Herztransplantation nur Level-3-Häuser bewerben, das wird die Reform nun nicht mehr so stringent regeln.
Und was bemängeln Sie noch?
Zweitens hat die NRW-Reform – und damit jetzt auch die des Bundes – nur etwa halb so viele Leistungsgruppen wie die 128 von uns vorgeschlagenen. Die Ausdifferenzierung ist viel geringer. Fast die Hälfte aller Patienten fallen in der NRW-Logik in die „allgemeine Innere Medizin“ bzw. „allgemeine Chirurgie“, Leistungsgruppen, um die sich jedes Krankenhaus bewerben darf. Dagegen gibt es keine spezifische Leistungsgruppen für den Herzinfarkt oder den Darmkrebs, so dass weiterhin fast jedes Krankenhaus diese Patienten als Teil der genannten Leistungsgruppen – und damit überall – behandeln darf.
Sie haben den Stand der NRW-Reform neulich begutachtet, berichtete das Ärzteblatt.
Wir haben uns angeschaut, ob die Zuteilung von spezifischen Leistungsgruppen wie Brustkrebs oder Knie- und Hüft-Gelenkstransplantation zu weniger Krankenhausstandorten führt, die diese Patienten behandeln. Die Antwort ist: Nein.
Sehen Sie in anderen Bundesländern mehr Reformeifer?
Nachdem der Inhalt unserer Reform durch die Abschaffung der Level schon derartig verwässert wurde? Nicht wirklich. Die Frage ist: Wer verfolgt noch das übergeordnete Ziel der Reform? Also: eine gleichwertige, hohe Qualität aller Kliniken gemäß ihrer Level-Zuordnung. Die meisten Länder wollen einfach mehr Geld, um genauso weiterzumachen wie bisher. Dass der Bund den Ländern eine privilegierte Rolle bei der Gesetzgebung zugebilligt hat, war ein Irrweg.
Was muss nun passieren?
Entweder behandelt der Bund seine Reform jetzt als normales Gesetz. Das passiert erst den Bundestag, wo es eine Mehrheit dafür gibt, und wird dann an den Bundesrat weitergeleitet. Die zweite Strategie ist, die öffentlichen Träger, allen voran die Kommunen, ins Boot zu holen. Die wissen oft viel besser, was los ist als die Länder. Dass nicht nur die Kosten steigen. Sondern dass seit Corona auch weniger Patienten kommen. Das ist der entscheidende Faktor für die Not vieler Kliniken.
Woran liegt das?
Vor der Pandemie hat sich der Normalbürger gesagt: Wenn ich krank bin, schadet mir ein Krankenhaus nicht. Diese Einschätzung hat sich mit den Bildern aus Bergamo geändert. Den größten Schwund haben wir bei Patientengruppen, die auch ambulant behandelt werden können, etwa Diabetiker oder Patienten, die ihre Krampfadern ziehen lassen. Mehr als jedes achte Bett, das vor der Pandemie belegt war, bleibt heute leer. Statt knapp 80 Prozent der Betten sind heute im Schnitt nur 70 Prozent belegt.
Eigentlich müssten die Länder dann doch den Reformdruck deutlich spüren?
Lauterbach hat ja das Versprechen gegeben, dass es den Krankenhäusern am Ende auch finanziell besser geht. Das halte ich nur dann für einlösbar, wenn es weniger „echte“ Krankenhäuser werden, also solche mit Notaufnahmen. Diese Einsicht sehe ich aber nirgends. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was am Ende von der Reform noch übrig bleibt.
Besonders Landräten graut es vor Krankenhausschließungen.
Viele Politiker warnen vor Schließungen im ländlichen Raum. Was sie offenbar nicht wissen: Viele der kleinen, unausgelasteten Grundversorger sind gar nicht auf dem Land, sondern in Städten.
Einige Ost-Bundesländern sagen, sie seien Reform-Vorreiter. Mecklenburg-Vorpommern hat Ende der 90er die Zahl der Betten halbiert und 18 von 55 Krankenhäusern geschlossen. Als Flächenland bräuchte man die alle.
Es gibt dort Krankenhäuser, die eine Bettenauslastung von deutlich unter 50 Prozent haben! Und was die Distanz angeht: In Finnland oder Schweden wohnen Menschen zum Teil 500 Kilometer vom nächsten Krankenhaus entfernt. Im Notfall fliegt ein Helikopter sie in die Klinik.
Karl Lauterbach nennt Entökonomisierung der Medizin als Ziel seiner Reform. Ist die Privatisierung der Krankenhäuser die Ursache unserer heutigen Misere?
Richtig ist: Unsere Reform hat zum Hauptzweck, den Krankenhäuser wieder eine medizinische Zielorientierung zu geben, unter die sich die ökonomischen unterordnen. Die Krankenhäuser sollen künftig 60 Prozent ihrer Mittel über Vorhaltepauschalen erhalten und nur noch zu 40 Prozent durch die Menge der erbrachten Fälle. Damit ich Pauschalen für notwendige qualitativ angemessene Versorgung berechnen und auszahlen kann, brauche ich aber die Level und die Leistungsgruppen.
Die bösen Krankenhauskonzerne mit ihrem Profitstreben sind also nicht schuld?
Kern des Problems ist die Über- und Fehlversorgung, also zu hohe Kapazitäten und die Bestrebung, sie zu nutzen. Bisher muss jedes Krankenhaus versuchen, möglichst viele Menschen aufzunehmen. Daher werden Patienten, die eigentlich gar nicht im Bett liegen müssten, ins Bett gelegt. Und Patienten, die wirklich stationär behandelt werden müssen, landen häufig in Häusern, in denen ihnen nicht adäquat geholfen werden kann.
Dänemark hat vor seiner Krankenhausreform eigens eine Gebietsreform gemacht, mit größeren Einheiten. Sind 17 Entscheider in Bund und Länder zu viele für Lauterbachs „Revolution“?
Im „BMJ Global Health“ Journal gibt es einen neuen Meta-Review, der sich alle Reviews von Studien aus aller Welt zu Strukturen von Gesundheitswesen genau zu diesem Aspekt angeschaut hat. Verkürzt gesagt zeigte sich, dass dezentralisierte Gesundheitsstrukturen eher zu schlechteren Ergebnissen führen, insbesondere durch die Dezentralisierung bei „Governance“ und Finanzierung. Daher muss jede Reform auch diesen Aspekt mit berücksichtigen.
Wie haben die Dänen zentralisiert?
Die der Krankenhausreform vorhergehende Gebietsreform in Dänemark war radikal; alle Landkreise wurden abgeschafft und fünf neue für die Krankenhausversorgung zuständige Regionen geschaffen. Das war so, als wenn wir sagen würden, die Bundesländer sind nicht die richtigen Einheiten für die Krankenhausplanung. Sondern wir schaffen dafür eigene, neue Gebietskörperschaften.