Bis zuletzt hatten es viele nicht geglaubt. Sie habe nicht das Organisationsgeschick, ihr fehlten die Leute, sie werde sich dem Stress nicht aussetzen und das Risiko nicht eingehen. So hörte es sich noch bis Anfang September bei der Linken an, wenn man fragte, ob Sahra Wagenknecht Ernst machen und sich von der Linken abspalten werde.
Die Öffentlichkeit und die Medien sind schon seit geraumer Zeit Wagenknechts wichtigstes politisches Werkzeug. In Talkshows sah man sie häufiger als im Bundestag, sagen manche. Und auch für ihre Parteineugründung nutzte sie klug die Aufmerksamkeitsgesetze: Ihre Entscheidung für die Parteigründung ließ sie Monate in der Luft hängen, machte immer wieder Andeutungen. Tut sie es, oder tut sie es nicht, fragte sich das politische Berlin. Ihre Partei stand dem Ganzen nahezu hilflos gegenüber. Weil man ein Parteiausschlussverfahren nicht erneut riskieren wollte, konnten die Parteivorsitzenden nur auf Wagenknechts Provokationen reagieren; machte die eigene Politik weiter, bis eine Rede im Bundestag oder eine „Friedensdemo“ von Wagenknecht die eigenen Kampagnen und kleinen Erfolge überstrahlten.
Diese Lähmung hatte mehrere Gründe: Zum einen die Beliebtheit Wagenknechts und die Lager in der Partei. Vor allem der Reformer-Flügel mit einflussreichen Größen wie Fraktionschef Dietmar Bartsch wollte sie nicht aufgeben. Mit der Folge, dass der Konflikt insbesondere in der Bundestagsfraktion zu einem anhaltenden Zustand der Lähmung führte. Immer wieder schossen Wagenknecht und ihre Anhänger bei Abstimmungen quer, untermalten so den Eindruck der Zerrissenheit. Mehrere Abgeordnete berichten von Fraktionssitzungen, die teilweise unerträglich gewesen seien, persönliche Beleidigungen an der Tagesordnung.
Im Sommer rang sich die Parteiführung zu einer „roten Linie“ durch. Werde bekannt, dass Wagenknecht die Ressourcen der Linken für den Aufbau einer eigenen Organisation nutze, werde man sie ausschließen. Als Gerüchte über die Gründung eines Vereins zur Vorbereitung einer Partei immer lauter wurden, nahm eine Gruppe von rund 50 Linken noch einmal einen Anlauf und forderte ein Ausschlussverfahren. Doch dann ging es plötzlich ganz schnell: Wagenknecht kündigte eine Pressekonferenz am 23. September an, um ihren Verein „Bündnis Sahra Wagenknecht – für Vernunft und Gerechtigkeit“ vorzustellen. An diesem Morgen verkündeten sie und neun Anhänger im Bundestag ihren Austritt aus der Partei. Sie nutzten gleichzeitig eine Klausel in der Geschäftsordnung, die es ihnen zunächst ermöglichte, in der Bundestagsfraktion zu bleiben. Ein weiterer Schachzug, die Partei so lange wie möglich zum eigenen Vorteil zu nutzen. Bartsch erklärt danach die Fraktion für „politisch tot“ und am 6. Dezember ihre Auflösung.
Was für Wagenknecht letztlich den Ausschlag gab, den durchaus riskanten Schritt der Parteigründung zu gehen, ist letztlich unbekannt. Auskunft darüber geben sie und ihre Weggefährten kaum. Druck von außen habe es gegeben auf sie, auch ihr Mann Oskar Lafontaine wird als Antreiber immer wieder genannt. Auch ihre Anhänger sagen zumeist, sie hätten den Schritt gerne vermieden, aber die Partei habe ihnen keine andere Wahl gelassen.
Die Geschichte der Linken und Sahra Wagenknecht ist die Geschichte einer Entfremdung. Aber wer hat sich eigentlich verändert – die Partei oder Wagenknecht? Wagenknecht behauptet Ersteres. So wie sie es in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ beschreibt. Die Partei habe ihren Markenkern, die soziale Gerechtigkeit aufgegeben und kümmere sich zu sehr um aus ihrer Sicht Unwichtiges, wie geschlechtergerechte Sprache und falsch verstandene Humanität. Sie sei dem linken Mainstream gefolgt und habe deshalb viele Wählerinnen und Wähler der AfD preisgegeben.
Es gibt aber auch Aspekte, die dafür sprechen, dass Wagenknecht sich von ihrer alten Partei entfernt hat. Als Parteilinke und überzeugte Kommunistin ist sie gestartet. Ihre neue Partei werde keine linke Partei sein, hört man immer wieder aus der Linken. Während ihrer Zeit im Europaparlament habe Wagenknecht noch Reden für die Aufnahme von Geflüchteten gehalten. Heute glichen ihre wirtschaftspolitischen Überzeugungen eher der Idee von der sozialen Marktwirtschaft, und sie sehe Migration als Bedrohung.
Hinter dem Konflikt Wagenknechts mit ihrer Partei verbirgt sich die Frage, was Links sein heute eigentlich bedeutet. Welche Antworten linke Politik auf die großen Fragen der Zeit gibt und welche gesellschaftlichen Mehrheiten sie dafür finden kann. Zu lange hat die Partei das Ausmaß dieser Spannung nicht erkannt und damit die Abspaltung geradezu zwangsläufig werden lassen. Nun ist die Frage, ob diese sie schwächen wird oder ihr neue Kraft gibt. Bisher hat sich die Linke resilienter gezeigt, als gedacht. Auf den Austritt Wagenknechts folgte keine Austrittswelle der Mitglieder. Im Gegenteil: Mehr Sympathisanten traten ein als aus. Bei ihrem ersten Bundesparteitag nach dem Austritt gab sich die Partei selbstbewusst und verabschiedete mit großer Mehrheit ein Programm, das versucht, soziale Fragen mit Klimaschutz zu verbinden und legale Fluchtwege fordert.
Der moderate Kurs der Regierungsparteien Grüne und SPD gibt der Linken die vielleicht einmalige Gelegenheit, im rot-grünen Spektrum enttäuschte Wählerinnen und Wähler zu erreichen. Die Kampagne mit dem Slogan „Alle gehen nach rechts – wir nicht“ zeigt, dass die Partei genau dort ihre Chance sieht. Was der Linken jetzt vor allem fehlt, sind eine oder mehrere Galionsfiguren, die für diese Politik stehen. Dialektisch gemeint: Ihnen fehlt eine Sahra Wagenknecht.