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„Die Welt ist kein Wunschkonzert“

Berlin.Table: Frau Baerbock, neues Jahr, neue Hoffnung: Sehen Sie für 2023 eine Chance auf Frieden in der Ukraine? 

Baerbock: Die Hoffnung soll man nie aufgeben, und wir alle wünschen uns nichts sehnlicher als endlich wieder Frieden in der Ukraine. Aber trotz aller internationaler Bemühungen sieht es derzeit leider nicht so aus, dass Putin plant, 2023 seine brutale Zerstörung einzustellen. Fakt ist, dass es allein in den Händen des russischen Präsidenten liegt, ob die Ukrainer wieder in Frieden und Freiheit leben können. Der russische Präsident hat diesen brutalen Angriffskrieg angefangen. Und er allein kann ihn beenden. Wenn Russland aufhört zu bombardieren und seine Soldaten zurückzieht, haben wir Frieden. Wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, gibt es keine Ukraine mehr.

Wird es je ein Zurück zu einer Welt davor geben?

Ein Zurück in die Vergangenheit gibt es ohnehin nie. Das Brutale an der Situation seit dem 24. Februar ist aber, dass Putin mit allen Grundsätzen gebrochen hat, die frühere Generationen in Europa, auch in Russland, über die letzten 50 Jahre mühsam geschaffen hatten, um trotz aller Unterschiede gemeinsam in Frieden zu leben. Auch diese europäische Friedensordnung hat der russische Präsident angegriffen. Und zugleich sind Institutionen aus dieser europäischen Friedenszeit wie die EU, aber gerade auch die OSZE, wichtiger denn je. Nicht nur für viele Länder der ehemaligen Sowjetunion, sondern gerade auch in Deutschland spüren viele: Frieden in Europa ist nicht vom Himmel gefallen. Die EU ist unsere Lebensversicherung – das ist das Positive in diesem Jahr.


Sie haben Moskau unmittelbar nach Kriegsbeginn der Lüge bezichtigt. Hatte Ihnen Sergej Lawrow zugesagt, es werde keinen Krieg geben?

Nicht nur mir, der ganzen Welt hatte die russische Regierung immer wieder gesagt, dass man der Ukraine nicht drohe, das sei alles westliche Hysterie. Auf der Pressekonferenz in Moskau habe ich Sergej Lawrow gefragt, wie man die 150.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine denn anders verstehen könne denn als Drohung? Seine Antwort: Normale militärische Übungen auf unserem eigenen Territorium, wie sie jede Armee der Welt macht. Russland hat immer behauptet, es ginge ihm um den Schutz der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine. Und dann mussten wir zusehen, wie Mariupol dem Erdboden gleichgemacht wurde, wie die russischen Panzer nicht Babynahrung gebracht haben, sondern Tod, Leid und Zerstörung überall in der Ukraine. 

Am 18. Januar 2022 geben Annalena Baerbock und der russische Außenminister Sergej Lawrow in Moskau eine denkwürdige Pressekonferenz.

Was hat diese Lüge mit Ihnen gemacht?

Nicht viel und zugleich sehr viel. Russland hatte ja seit 2014 immer das Offensichtliche geleugnet: dass hinter der Annexion der Krim und den sogenannten Separatisten im Donbass russische Truppen standen. Deshalb bin ich nicht davon ausgegangen, dass uns von russischer Seite immer die Wahrheit gesagt wird. Wir haben ja auch die Anzeichen für einen Angriff gesehen, daher hat es mich nicht kalt überrascht. Und dennoch hätte auch ich mir diese Brutalität nicht vorstellen können – und dass Putin bereit ist, sein eigenes Land damit zu ruinieren.

Sie hatten eh mit dem Schlimmsten gerechnet?

Wie viele hatte ich es befürchtet, und wir müssen ehrlich sagen: unsere osteuropäischen Nachbarn haben uns immer wieder gewarnt. Das ist der Punkt, den wir in Deutschland selbstkritisch reflektieren müssen. Ich hatte mir mein Leben lang nie vorstellen können, dass es in unserer unmittelbaren Nachbarschaft wieder so einen Angriffskrieg geben würde.

Beim Blick auf den Krieg haben viele Menschen widerstreitende Gefühle. Zum einen will man den Ukrainern unbedingt zur Seite springen. Zum anderen haben nicht wenige die Angst, dass der Krieg sich ausweitet. Wie oft wechselt sich bei Ihnen das eine Gefühl mit dem anderen ab?

Angst, auch Angst vor Russland, ist ein schlechter Ratgeber. Zugleich sollte man nicht naiv oder tollkühn sein. Deswegen haben wir in den letzten gut zehn Monaten immer wieder abgewogen, auch als Bundesregierung, wie wir gemeinsam mit Partnern der Ukraine helfen können, humanitär, aber auch mit Waffen. Damit das Land seine Menschen retten und sich aus der russischen Besatzung befreien kann.

Das klingt eindeutig. 

Stimmt. Zugleich haben wir aber alles Mögliche unternommen, damit dieser Krieg nicht auf andere Länder überschwappt, zum Beispiel auf Moldau. Der vielleicht wichtigste Schritt: Wir als EU konnten mit Partnern wie den USA, aber auch mit China und Indien deutlich machen, dass es zu keiner nuklearen Eskalation kommen darf.

Als erste Vertreterin der Bundesregierung trifft Baerbock am 10. Mai in Kiew den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Mit dabei, ihr niederländischer Kollege Wopke Hoekstra.

Wie groß ist Ihre Sorge, dass die Ukraine den Krieg verliert?

Ich tue alles in meiner Macht Stehende, damit die Ukraine den Krieg gewinnt. Verliert sie, dann gibt es keine Ukraine mehr.

Gibt es irgendwas dazwischen?

Ich verstehe den Wunsch derjenigen, die sagen: Es sollen bitte einfach nur die Waffen schweigen. Aber dahinter steckt ja, dass man bereit wäre, einen russischen Diktatfrieden einfach so zu akzeptieren. Und wir sehen in Belarus, dass die Abwesenheit von Krieg noch nicht Frieden oder auch nur ein Ende der Gewalt bedeutet, weil die Menschen weder in Sicherheit noch in Freiheit leben.

Was heißt das konkret?

Wir wissen aus den von Russland besetzten Gebieten, was das bedeuten würde, was einige heute als Kompromiss bezeichnen: Frauen der Vergewaltigung preiszugeben, Männer Mord und Folter, Kinder der Verschleppung. Befreite Städte wie Butscha, Izyum und Balalkliya sind Zeugnis dafür. In besetzten Orten wie Melitopol, Mariupol, Lysychansk lässt Putin noch nicht mal das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und die Helfer der UN hinein, um Kinder zu versorgen, um bei -10 Grad, Eis und Schnee Winterhilfe zu leisten. Das zeigt: Es mangelt nicht an diplomatischen Bemühungen. Sondern Putin will die Menschen in der Ukraine brechen oder vernichten. Und genau das müssen wir verhindern.

Gemeinsam mit der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa besucht Baerbock am 10. Mai 2022 Butscha. Sie hält dort ihre bisher wohl emotionalste Rede.

Ihr Koalitionspartner in Person von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich plädiert für Bemühungen um einen Waffenstillstand.

Natürlich hoffe auch ich, dass Putin irgendwann zur Besinnung kommt. Die halbe Welt tut nichts anderes als ihn zu beknien. Aber mit dem Prinzip Hoffnung beendet man keine Kriege, sondern gibt Menschen dem Tod preis. Und Diplomatie heißt doch nicht nur mit Aggressoren zu reden, sondern internationale Beziehungen zu pflegen, die Vereinten Nationen zu stärken, für Frauen, Männer und Kinder in Not humanitäre Hilfe zu leisten. Zentral dafür sind eben nicht große Fernsehansprachen, sondern Arbeit hinter den Kulissen, und das tun wir nonstop seit dem 24. Februar. Diplomatie im Jahr 2022 hieß: die Allianz für die Freiheit zusammenzuzuhalten. Von Europa über Japan, von Kanada bis Nigeria, von Palau bis Mexiko.

Wie lange wird die Solidarität der Menschen in Deutschland und Europa für die Ukraine und den Kurs der Bundesregierung halten?

Solange die Ukraine uns braucht. Das Positive an der schrecklichen Entwicklung ist die Menschlichkeit in unserem Land, in ganz Europa. Als die Menschen wählen mussten, ob sie auf der Seite des Angreifers oder des Opfers, auf der Seite von Menschlichkeit oder auf der Seite von Brutalität stehen wollen, hat sich nicht nur die Bundesregierung, sondern unsere Gesellschaft für die Menschlichkeit entschieden. Tausende haben sogar ihre Wohnungen geöffnet. So eine Solidarität habe ich noch nicht erlebt.

Bleibt das so?

Ja. Ich erlebe 89-Jährige, die sagen: „Ich weiß, wie Krieg sich anfühlt – ohne Frage müssen wir der Ukraine beistehen, auch wenn es für uns selbst härter wird“, ebenso wie 9-Jährige, die zu Weihnachten einen Keksbasar an der Schule für die Winterhilfe in der Ukraine machen. Ob 89- oder 9-Jährige, ich nehme im ganzen Land – bei aller berechtigten Erwartung an die soziale Abfederung der Härten – die Botschaft wahr: Wir sind stärker als Putins Krieg.

Die ukrainische Kleinstadt Irpin wird weitgehend zerstört; Baerbock ist am 10. Mai vor Ort.

Die neue Zeit verlangt nach einer neuen Außenpolitik. Sie haben eine nationale Sicherheitsstrategie angekündigt. Warum eine nationale?

Weil es um unser aller Sicherheit geht, und vielen in unserem Land zum ersten Mal bewusst wird, dass es Sicherheit nicht umsonst gibt, sondern wir etwas dafür tun müssen. Und Sicherheit heißt nicht nur: Abwesenheit von Krieg. Sicherheit bedeutet, so frei zu sein, dass wir unser Leben, unsere Demokratie, unsere Volkswirtschaft so gestalten, wie wir es möchten. Ohne politischen Druck, ohne bedrohliche wirtschaftliche Abhängigkeiten. Und gleichzeitig ist uns allen so bewusst wie nie geworden, dass wir die Bundeswehr stärken müssen. Ich habe nach dem 24. Februar wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben das Wort „Wehrhaftigkeit“ in den Mund genommen. Plötzlich mussten wir alle erleben, dass wir uns wehren können müssen gegen militärische Angriffe.

Trotzdem: warum eine nationale Strategie?

Weil wir anders als andere Länder bisher kein Konzept haben, das Sicherheit vor Bedrohungen von außen und Sicherheit im Land zusammendenkt. Cyberangriffe auf Krankenhäuser, die Pandemie, die Energiepreiskrise, all das zeigt, dass innere und äußere Sicherheit sich nicht mehr trennen lassen. Wir müssen Sie zusammen denken, als integrierte Sicherheit. Und über unsere Sicherheit entscheiden jeden Tag nicht nur Außen- und Verteidigungsministerium, sondern auch Unternehmen, Kommunen, Universitäten. Und natürlich ist die Strategie fest europäisch verankert. Europa ist unsere Zukunft; Europa ist unsere Lebensversicherung. Aber es reicht nicht, auf die EU zu verweisen – und dann nicht mehr weiterzudenken. Deutschland muss sich bewusst werden, was nötig ist, um unsere Sicherheit und unsere Freiheit im Herzen Europas zu beschützen.

Ist unsere Freiheit derart bedroht?

Wir leben in einem der sichersten Länder der Welt – auch das müssen wir uns immer wieder bewusst machen. Ich war vor kurzem erst in Nigeria, und zwar in einem Ort, den die Terrormiliz Boko Haram vor ein paar Jahren völlig niedergebrannt hatte, wo Schulmädchen zu Hunderten verschleppt und versklavt wurden. Auch der Schutz vor Terrorismus und Kriminalität, aber auch soziale Sicherheit sind eben nichts Selbstverständliches. Und es kommt noch etwas dazu: Sicherheit im 21. Jahrhundert heißt auch, unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, die Klimakrise in den Griff zu bekommen. Die Flutkatastrophe im Ahrtal hat uns auf das Schrecklichste gezeigt, dass wir auch in Deutschland verwundbar sind. Die Klimakrise ist die größte weltweite Gefahr, die von Jahr zu Jahr mehr Menschenleben fordert.

Am 19. Dezember besucht die Außenministerin das Dorf Ngarannam ganz im Nordosten Nigerias, das durch die Terrororganisation Boko Haram zerstört und mit deutschen Mitteln wiederaufgebaut wurde.

Teile der neuen Strategie sind schon bekannt, besonders mit Blick auf China. In der SPD wächst die Sorge, der harschere Ton – vorgegeben durch das AA und das Wirtschaftsministerium – könne die Beziehungen zu China schwer beschädigen und den Wohlstand gefährden. Verstehen Sie diese Sorge?

In einer komplett vernetzten Welt kann man sich von keiner Region und erst recht nicht von einer der größten Volkswirtschaften abkoppeln. Deswegen ist die China-Strategie auch keine Entkopplungsstrategie. Aber wir haben erlebt, was passieren kann, wenn wir uns massiv von einem Land abhängig machen, das unsere Werte nicht teilt, das als autokratisches Regime im Wettbewerb zu unserer Demokratie steht. Es macht uns verwundbar, und Vorsorge ist der beste Schutz. Ich sehe es als unsere Verantwortung als Regierung an, uns davor zu schützen, indem wir uns und die Wirtschaft systematisch in Außen-, Digital-, Infrastruktur- und Energiepolitik bestmöglich auf der Höhe der globalen Herausforderungen aufstellen.

Setzen Sie Russland und China gleich?

Nein. Aber wir haben erlebt, dass China sich in den letzten Jahren nicht nur immer weiter von unseren demokratischen Werten, sondern auch vom internationalen Recht und den Regeln für einen fairen Wettbewerb entfernt hat. Deshalb ist es in unserem ureigenen Wirtschaftsinteresse, uns von China nicht so abhängig zu machen, wie wir das bei Russland gemacht haben. Wir können doch nicht nochmal so unverantwortlich auf Sicht fahren nach dem Motto „so schlimm wird es schon nicht kommen“- im Falle Russlands bezahlen wir das jetzt teuer mit unzähligen Milliarden an Steuergeldern.

Das wird aber nicht ohne Folgen bleiben. Wie erklären Sie das Unternehmen und Beschäftigten, die um Geschäft und Arbeitsplätze fürchten?

Ich muss da meist nicht viel erklären. Gerade viele Mittelständler und Familienunternehmen betreiben in ihrem Chinageschäft kluges Risikomanagement, fahren aufgrund der härteren Gangart der letzten Jahre Investitionen in China zurück und diversifizieren sich im Indopazifik. Bei einigen Dax-Konzernen hat man den Eindruck, dass sie die volkswirtschaftlichen Risiken, aber auch die langfristigen Interessen ihres Unternehmens einfach ausblenden, weil für die Boni der Vorstände allein die nächsten fünf Jahre zählen. Für eine verantwortungsvolle Regierung muss allerdings das volkswirtschaftliche Interesse im Mittelpunkt stehen. In dem Sinne war für viele das Grundsatzpapier des BDI von 2019 ein Wendepunkt, und nach dem Russland-Krieg hat sich der Wunsch nach Diversifizierung weiter verstärkt. Deshalb haben Robert Habeck und ich gemeinsam Vorschläge für eine sicherheitsbewusste Außenwirtschaftsförderung gemacht. Eine Außenpolitik, erst recht eine Außenwirtschaftspolitik, die den Wirtschaftsstandort Deutschland und damit unseren Wohlstand und sozialen Zusammenhalt gefährdet, wäre nicht nur kurzsichtig, sie wäre ein Sicherheitsrisiko.

Ist China zum Gegner geworden?

Nein. Es wäre eine Bankrotterklärung der Diplomatie, wenn wir nicht zumindest den Versuch unternehmen würden, mit allen Ländern konstruktive Beziehungen zu haben. Der Kern unserer Sicherheitsstrategie lautet, dass wir mit anderen Ländern in so vielen Bereichen wie möglich kooperieren und zusammenarbeiten wollen – und zugleich souverän und eigenständig handeln können müssen, wenn andere plötzlich zu unseren Lasten agieren. So sieht für mich eine strategische Souveränität Europas aus. Das betrifft nicht nur Infrastruktur oder Halbleiter, sondern auch wichtige Medikamente. Und es betrifft eben nicht nur uns, sondern auch unsere Nachbarn. Wenn ich aus Sorge vor schlechten Beziehungen mit Autokraten bei schweren Regelbrüchen schweige – dann beschädige ich damit zugleich die vielen anderen Beziehungen zu all den Ländern, die Opfer dieser Regelbrüche sind, und die wir mit ihren Sorgen alleine lassen. Genau das haben wir bei Russland erlebt, und ich möchte nicht, dass sich das im Indopazifik wiederholt.

Zum Iran. Das Regime hart zu kritisieren, ist nicht schwer. Es ist aber unendlich schwer, aktuell etwas für die Protestierenden zu erreichen. Quält Sie diese Ohnmacht? 

Es ist keine Ohnmacht, denn wir haben ja in den letzten drei Monaten in der EU und der UN schon einiges erreicht, um den Druck auf das Regime zu erhöhen und den Menschen in Iran beizustehen, aber ja: Es lässt mich alles andere als kalt, immer wieder erkennen zu müssen, wo die eigene Handlungsfähigkeit endet. Das auszuhalten und nicht zu resignieren, sondern immer wieder auszuloten was möglich ist, ist die wichtigste Aufgabe von Außenpolitik. Denn ein Regime austauschen – das können nur die Menschen, aus ihrer eigenen Kraft heraus.

Das klingt resigniert.

Ganz und gar nicht. Realistisch. Das einfachste wäre ja zu sagen: Bringt eh nichts, wir können nichts tun. Mein Job ist, zu überlegen, was wir bei den begrenzten Möglichkeiten tun können, um dennoch zu helfen – und dafür Mehrheiten zu finden. Jede Person, die nicht hingerichtet wird, ist es wert, zu kämpfen.  In der EU haben wir erreicht, dass wir die Konten der Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen einfrieren, wir verwehren ihnen Reisen nach Europa. Und wir können die Menschen im Iran genauso wie die Menschen in Belarus unterstützen, indem wir die Menschenrechtsverletzungen öffentlich machen, indem wir die Beweise für die Verbrechen sammeln. Das haben wir im Iran mit der Resolution im Menschenrechtsrat getan.

„Frau, Leben, Freiheit“: Nach dem Tod von Mahsa Amini, die in einem iranischen Gefängnis stirbt, brechen in ganzen Land und weltweit Proteste aus.

Wann ist für eine Außenministerin der Moment gekommen, etwas zu riskieren. Also eine Initiative zu starten, deren Erfolg auf den ersten Blick sehr unwahrscheinlich ist? Zum Beispiel einen Versuch zu unternehmen, mit dem Regime in Teheran zu reden, um es für eine andere Politik zu gewinnen?

Kerngeschäft von Außenpolitik ist Sisyphusarbeit hinter den Kulissen, Telefonate, um Mehrheiten zu organisieren – zum Beispiel um eben im Menschenrechtsrat Länder, die bei Länderresolutionen immer mit dem Verweis auf „innere Angelegenheiten“ mit  „Nein“ gestimmt hatten, zu einer Enthaltung zu bewegen, trotz des Drucks aus Peking und Moskau. Viele hatten davon abgeraten, das überhaupt zu versuchen. Am Ende waren es 25 „Ja“- und nur sechs „Nein“-Stimmen für unsere Resolution. Auch das ist ein Erfolg. Es rettet zwar in dem Moment noch kein Leben, aber es wird dazu führen, dass irgendwann Schuldige zur Anklage gebracht werden können, weil die UN jetzt Beweise sammeln können. Das war härtere Arbeit als ein Telefonat mit dem iranischen Außenminister.

Das klingt nach: hoffen wir auf das Beste.

Klare Worte und leise Töne sind kein Widerspruch. Aus meiner Sicht besteht eine starke Diplomatie darin, dass man sich bewusst macht, wann man mit leisen Tönen etwas erreicht – und wann klare Worte nötig sind. Klare Worte sind für mich kein Selbstzweck; klare Worte zu wählen, um sich selber stark zu fühlen, bringt einen kein Stück weiter. Aber umgekehrt gilt das Gleiche: Manchmal kann Schweigen mehr zerstören als wenn man Dinge auch mal klar und deutlich anspricht.

Wann ist das so?

Nehmen Sie die Skepsis unserer baltischen Freunde gegenüber Deutschland. Sie kommt nicht von ungefähr, sondern hat ihre Wurzeln in der Tatsache, dass ihre Warnungen, ihre Sorgen vor Russland in der Vergangenheit heruntergespielt wurden, dass man den öffentlichen Konflikt mit Russland gescheut und Nord Stream 2 zum rein wirtschaftlichen Projekt deklariert hat. Jahrelang wollte man vermeiden, Porzellan in Moskau zu zerschlagen und hat dadurch im Baltikum umso mehr Scherben hinterlassen. Um diese Abwägung kommt man nicht herum.

Und wann versucht man das Unmögliche?

In dem Moment, wo das Agieren, sei es mit Putin oder mit dem iranischen Regime, dafür sorgen könnte, dass das Morden und das Töten eingestellt wird, ohne den Betroffenen in den Rücken zu fallen, würde ich es versuchen. In dem Moment aber, wo Gespräche eigentlich nur Kulisse und Vorwand sind und Zeit kosten, weil sie nur den Unrechtszustand verlängern, braucht es Klarheit in der Position. 

Das heißt Stand jetzt: Sie werden keine Versuche starten.

Es ist ein Drahtseilakt, und es gibt keine Blaupause, weil jeder Konflikt anders ist und jedes Regime anders agiert. Seit 10 Monaten versuchen wir auf allen Gesprächskanälen, Putin vom Ende des Kriegs zu überzeugen. Seine Antwort war immer mehr Gewalt. Alle diplomatischen Bemühungen Deutschlands, der USA, des UN-Generalsekretärs konnten den blutigen Angriffskrieg nicht verhindern – weil Putin einer imperialistischen Vorstellung folgt, in der internationale Absprachen nur so lange Bestand haben, wie sie ihm nützen.

Und im Iran?

Das iranische Regime hat bei allem Ringen um das Atomabkommen die Urananreicherung ohne Rücksicht auf die Gespräche immer weiter vorangetrieben und gleichzeitig immer mehr Menschen hingerichtet. Ausgerechnet in der jetzigen Situation dem Regime Angebote zu machen, hielte ich für die komplett falsche Strategie. Man würde den Menschen im Iran massiv in den Rücken fallen und das Regime eher ermutigen, weiterzumachen. Und man würde anderen Ländern, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen, ein fatales Signal senden, und diejenigen, die als junge Demokratien an ihrer Rechtsstaatlichkeit arbeiten, eher entmutigen.

Bei der Fußball-WM konnte man beobachten, wie die meisten Menschen einfach nur gefeiert haben. Südamerikaner, Asiaten, Europäer und die ganze arabische Welt. Das einzige Land, bei dem es anders war, war Deutschland. Ist Deutschland zu moralisch?

Ich habe das wirklich anders erlebt. Erstens hatten wir auch fußballerisch nicht viel zu feiern, und wenn ein arabisches Land wie Marokko, Spanien und Portugal schlägt, ist dort natürlich der Teufel los. Zweitens halte ich nichts davon, Menschenrechte gegen Fußball zu stellen. Wer seinen Job nicht gemacht hat, ist die Fifa. Fußball lebt davon, dass man sich auf gemeinsame Regeln verständigt. In der F-Jugend lernt man bereits, dass Fußball nur gespielt werden kann, wenn man Vielfalt zulässt, wenn Fair Play geachtet wird. Dass die Fifa genau das nicht getan hat, das war die schlechte Nachricht dieser WM. Und die gute Nachricht war, dass die Fans deutlich gemacht haben: Wir stehen für Vielfalt.

Zwischen Fußball, Wirtschaftsinteressen und Menschenrechtsverletzungen: Die Beziehungen zum Iran und der arabischen Welt sind alles andere als einfach.

Trotzdem gab es eine Euphorie in der arabischen Welt, die von den Deutschen weitgehend ignoriert wurde. Fühlen wir uns manchmal zu wohl in unserer Position – und merken gar nicht mehr, was andere empfinden?

Ich habe die Freude Marokkos sehr wahrgenommen und geteilt. Man muss hier klar trennen. Man darf Sportler nicht für falsche Entscheidungen eines Verbandes oder der Politik abstrafen. Fußball kann, wenn es richtig gemacht wird, der beste Botschafter für universelle, unteilbare Werte sein. Und ohne diese Werte zu leben, hätten wir nicht die Superstars wie Messi, Mbappé, Musiala auf dem Platz, wenn Menschen aufgrund ihrer Identität nicht die Chance gegeben würde, mitzuspielen.

Wie passt es zusammen, dass man in der Energiekrise nach Katar fährt, um LNG-Gas zu kaufen – und ein paar Monate später erklärt, Katar sei mit seinem Verhalten ein schlechter Gastgeber für eine Fußball-WM?

Weder Länder noch Menschen sind Schwarz oder Weiß, sondern komplex. Auch Demokratien sind ständig in Bewegung.  Aber wäre es besser, wenn wir schweigen würden, wenn Menschen der Tod droht, bloß weil ein Mann einen Mann liebt? Wäre es besser, wenn man schweigen würde, wenn Bauarbeiter auf Baustellen sterben, weil der Arbeitsschutz keine Rolle spielt? Nein. Umgekehrt hat die WM dazu geführt, dass sich Arbeitsbedingungen verbessert haben. Man muss immer abwägen: Wenn wir spüren würden, dass wir mit unserem Kauf ein System stützen, das gegen jegliche eigene Werte verstößt, würden wir dieses Energieabkommen nicht abschließen. Würden wir Gas kaufen und dann zu Menschenrechten schweigen, aus Angst nicht beliefert zu werden, dann fände ich es falsch.

Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, und Scheich Mohammed bin Hamad bin Kasim al-Abdullah Al Thani, Minister für Handel und Industrie von Katar, handeln in Doha Gaslieferungen für Deutschland aus. (Bild: picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka)

Die Welt spaltet sich immer stärker in Demokratien und Autokratien. Leben wir in einem neuen Kalten Krieg?

Nein. Demokratien sind keine westliche Erfindung. Ich bin kurz vor Weihnachten in eine der weltweit größten Demokratien gereist: Nigeria. Es hat mehr als 220 Millionen Einwohner. Da gibt es viele Baustellen, aber ganz selbstverständlich hört nach zwei Amtszeiten der jetzige Präsident auf, und es gibt einen Regierungswechsel. Oder Indien, die größte Demokratie der Welt. Wir sehen doch, dass vielen Gesellschaften Freiheit, menschliche Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit als ein Wesenskern von Demokratie sehr viel bedeuten. Deswegen ist für mich wichtig, Länder zu unterstützen, die auf dem Weg dorthin sind, die Menschenrechte zu stärken, ihrer Jugend Perspektiven zu bieten, internationales Recht einzuhalten, auch wenn ihre Institutionen und Wahlsystem noch stark ausbaufähig sind. Gerade wenn das unter schwierigen Bedingungen, unter Bedrohung auch durch Terror geschieht.

Das klingt gut. Aber gerade bei diesen Ländern wird wahrgenommen, dass Europa in Krisen erstmal an sich selbst denkt. In der Corona-Krise: Impfstoff erstmal für uns; in der Energiekrise: Rohstoffe erstmal für uns, koste es, was es wolle. 

Natürlich müssen wir zuerst vor der eigenen Haustür kehren. Deswegen war meine Botschaft vor den Vereinten Nationen gerade mit Blick auf die afrikanischen Länder: Wir sehen und wir hören euch. Deshalb reise ich nicht mit erhobenem Zeigefinger durch die Welt, sondern oftmals vor allem mit der Frage, was wir selbst besser machen können. Wir haben in der Vergangenheit Fehler gemacht. Wir möchten aber die Zukunft gemeinsam gestalten und zwar auf Augenhöhe und nicht, indem Europa oder die Industriestaaten Anderen Ansagen machen. Deshalb haben wir als G7 so massiv in die Weltgesundheitsorganisation investiert, die am Ende mit dazu beigetragen hat, dass wir Impfstoffe jetzt weltweit herstellen, gerade auch mit deutscher Unterstützung.

Sie haben diese Rede vor den Vereinten Nationen gehalten. Müssten sie das nicht noch viel deutlicher vor den Menschen in Deutschland und Europa sagen, weil es nämlich Teilen und Verzicht bedeuten wird? Nicht als Strafe, sondern als bittere Notwendigkeit?

Das ist der Anspruch an unsere deutsche Außenpolitik, und ich versuche das umzusetzen, auch im Rahmen der Nationalen Sicherheitsstrategie, zu der ich im Sommer schon bewusst im Inland mit Kabinettskollegen und auch Landesministern auf Tour war. Außenpolitik ist Weltinnenpolitik.

„Der Krieg Russlands ist eine neue Realität“: Die Außenministerin spricht am 1. März 2022 vor der UN-Generalversammlung in New York. 

Sie werden den Deutschen sagen: Wir müssen mehr teilen mit der Welt, sonst wird das nichts mit Frieden auf der Welt?

Ja. Manchmal werde ich auch im Parlament gefragt, warum wir als viertgrößte Volkswirtschaft die zweitgrößten Geber sind? Meine Antwort ist simpel: Weil wir damit in unsere eigene Sicherheit investieren. Wir sind zum Glück keine Atommacht. Unsere Stärke ist unsere Wirtschaftskraft, unser Vertrauen in der Welt als verlässlicher Partner, und das funktioniert nur Hand in Hand. Und wir dürfen nie vergessen, wie andere Länder über Jahrzehnte für uns da waren. Deutschland wäre niemals die viertgrößte Volkswirtschaft, wenn andere Länder uns nicht nach 1950 mit allem, was sie hatten, unter die Arme gegriffen haben.

Die Grünen mussten im vergangenen Jahr vieles mittragen, was sie sich eigentlich nicht hätten vorstellen können. Wie nachhaltig hat der Krieg Ihre Partei verändert?

Wenig, weil die Wahrnehmung, dass wir uns als Grüne schwertun mit der Unterstützung der Ukraine, aus meiner Sicht komplett falsch war. Die Debatten, die jetzt andere geführt haben, haben wir bereits beim Bosnienkrieg und dann noch mal um Afghanistan ausgetragen. Für uns war – deswegen bin ich im Übrigen bei Bündnis 90/Die Grünen eingetreten – die sogenannte Schutzverantwortung „Responsibility to Protect“ eine Lehre all dessen, was auf dem Balkan passiert ist. Dass man also bei schlimmsten Menschenrechtsverletzungen und bei Völkermord Menschenleben nur verteidigen kann, wenn man sich vor schweren Entscheidungen nicht drückt, sondern sich auf die Seite des Schutzes von Menschen stellt – im Zweifel auch militärisch. Deswegen haben wir von Tag eins des Russlandkriegs an die Ukraine in ihrem Recht auf Selbstverteidigung unterstützt. Um Menschenleben zu retten.

Nicht nur die Waffenlieferungen an die Ukraine waren heikel.

Stimmt. Natürlich waren es auch mit Blick auf die Energielieferungen keine einfachen Entscheidungen, Kohlekraftwerke aus der Reserve zu holen. Aber auch da hatten wir uns viele Fragen schon vorher gestellt. Robert Habeck und ich hatten als Parteivorsitzende der Grünen mit unserem Grundsatzprogramm genau diesen Prozess vor unserer Regierungsverantwortung geführt: Sich Dilemmata zu stellen. Deutlich zu machen, dass Wegducken keine Option ist, wo eigene Werte aufeinandertreffen; wo man nicht sagen kann, der eine Wert ist wichtiger als der andere. Klimaschutz ist wichtiger als Menschenleben zu retten? Soziale Gerechtigkeit ist weniger wichtig als Klimaschutz? So einfach ist es nicht, also muss man abwägen. Was nützt den Menschen mehr? Was nützt, was rettet mehr Leben? Und was schützt das Klima mehr? Argumente abwägen und dann den Mut haben, Entscheidungen zu treffen – genau das ist der Sinn von Politik.

Eine sehr heikle Abwägung waren die Waffenlieferungen an Saudi-Arabien. Die Grünen wurden dafür hart kritisiert. Was lag dieser umstrittenen Entscheidung zugrunde?

Der Fakt, dass die Welt kein Wunschkonzert ist. Wenn man sagt, dass man internationale Regeln und internationales Recht verteidigt, kann man geltende Regeln nicht plötzlich ignorieren, weil sie einem nicht gefallen. Es gibt in diesem Fall Altverträge auch mit anderen europäischen Staaten, mit denen wir auch in Zukunft zusammenarbeiten wollen. Diese Verträge kann man nicht einfach für nichtig erklären.

So hat die alte Koalition auch immer argumentiert.

Wenn – wie es jetzt aussieht – Saudi-Arabien die Bombardierungen im Jemen beendet hat, erfüllen wir die Altverträge, aber mit Bedingungen. Das ist ein anderer Kurs als unter der Vorgängerregierung, die lieferte, während die Bombardierungen noch liefen, und die auch keine Auflagen erteilte. Und trotzdem ist das alles andere als eine einfache oder schöne Entscheidung. Wenn ich es mir einfach wünschen könnte, hätten wir schon vor Jahren in den Altverträgen eine Option vorgesehen, die Lieferungen aufzukündigen. Genau das wollen wir mit dem Rüstungsexportkontrollgesetz für zukünftige Verträge vorschreiben. 

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