Man könnte nach dem SPD-Parteitag sagen, die Partei ist auch nicht mehr das, was sie einmal war – lebendig, kritisch, rebellisch. Man könnte sagen, die Partei bewegt sich in einem Paralleluniversum. Man könnte aber auch zu dem Befund gelangen, die Sozialdemokraten sind nur noch schwer aus der Ruhe zu bringen. Sie sind gereift – kompromissfähig, lösungsorientiert, ernsthaft.
Die nackten Tatsachen sind: Die Lage ist mehr als trist. 14 Prozent der Deutschen würden laut der jüngsten Meinungsumfragen noch SPD wählen, 82 Prozent der Deutschen sind unzufrieden mit der Bundesregierung, der Kanzler ist auf einen Tiefpunkt seiner Beliebtheit abgerutscht, kein Kanzler hatte in den vergangenen 25 Jahren schlechtere Werte. Dazu kommen Ärger in der Ampel, Prügel vom Bundesverfassungsgericht, noch kein Haushalt für 2024.
Doch die Revolution blieb aus beim dreitägigen Stelldichein der Genossen in Berlin. Die Partei hielt still, verzichtete darauf, ihren Kanzler zu demontieren und setzte dennoch, unabhängig vom Regierungshandeln, unbeirrt ihre eigenen Akzente. Natürlich, es gab die erwartbaren Attacken gegen die Union und Friedrich Merz, und vor allem gegen die rechtsnationale AfD. Attacken, die immer auch der eigenen Selbstversicherung und Geschlossenheit dienen.
Es gab aber auch selbstkritische Töne. Erstaunlicherweise nicht zuletzt aus dem Führungszirkel der Partei. Alles andere wäre auch wenig glaubwürdig gewesen in Anbetracht der Lage. Von einer „oft trügerischen Ruhe an der Basis der Partei“ sprach die Vorsitzende der Kontrollkommission, Brigitte Reckmann, „zwei empfindliche Wahlniederlagen“ seien nicht aufgearbeitet, die Partei benötige eine neue Kommunikationsstrategie, jedenfalls eine bessere als bisher. Auch Generalsekretär Kevin Kühnert bescheinigte sich und seinen Führungskollegen Luft nach oben.
„Wir müssen den Mitgliedern wieder Orientierung geben “, rief er. Sie müssten auf der Straße wieder sprechfähig werden. Mehr politische Klarheit sei ein Auftrag, „auch an uns als Parteispitze“. Und er forderte Disziplin ein, an der es in der aktuellen Situation allerdings nicht wirklich mangelt. Man könne der Tristesse entkommen, „aber nur, wenn wir uns zusammen reißen und aus diesem Loch rauskommen“.
Die schärfste Klinge führte, seiner Rolle entsprechend, der neue Juso-Vorsitzende. „Da draußen brennt die Hütte“, rief Philipp Türmer dem Kanzler zu, „verändere deinen Kurs!“ Der Regierungschef solle sich eine neue Rolle zulegen: „Werde vom Moderator zum Kämpfer für soziale Gerechtigkeit!“ Er möge endlich die Richtung vorgeben: „Du bist der Chef der Regierung, nicht der Paartherapeut von Robert und Christian!“ Womit er allen aus der Seele sprach: „Es muss besser werden, als es gerade ist!“
Erkennbar wurde aber auch: Die SPD hat gelernt. Die Lage ist faktisch deutlich düsterer als 2003 und 2004. Damals schüttelte die Agenda 2010 die Genossen durch, Drohungen und ein Mitgliederentscheid standen im Raum, eine Bundestagsabgeordnete verließ aus Protest die Partei. Am Ende zog Angela Merkel ins Kanzleramt ein.
Offenbar gibt es aber doch ein kollektives Gedächtnis. Auch heute hadern viele mit dem Kanzler, sind ratlos, manche verzweifeln gar. Aber Wahlkampf und Wahlerfolg 2021 sind in Erinnerung geblieben. Genauso wie die Erkenntnis, dass Disziplin eine hohe Tugend sein kann. Ja, der Unmut an der Basis ist groß, die Kritik am Kanzler ausgeprägt, auch die Erwartungen an den Regierungschef werden klar artikuliert.
Aber im Berliner Messekomplex finden beide zueinander. Die Delegierten empfangen ihren Kanzler vor seinem Auftritt mit wärmendem Dauerapplaus, und der gibt es zurück. Er hält eine seiner besseren Reden, er dankt seinen Genossen für ihre Zurückhaltung, er stellt die Arbeit der Mindestlohnkommission infrage, er verspricht „keinen Abbau des Sozialstaats“ und er sagt denen außerhalb der Partei, die einen „zu üppigen Sozialstaat“ sehen: „Das sehe ich nicht so!“ Und noch einen Gruß, mutmaßlich an die Regierungs-FDP: „Was Deutschland nicht braucht, sind Leute, die nicht weiter ihre Arbeit machen!“
Damit fängt er den Parteitag ein. Manches umgeht er: etwa eine eigene Positionierung zur Schuldenbremse, das Über-Thema Bildung oder auch eine Präzisierung, wie es denn in der heiklen Frage der Migration mit den Abschiebungen und Rückführungen weitergehen soll. Er nennt „die Klarheit, die wir in der Frage irreguläre Migration haben“ – und verliert sich in wolkigen Ausdeutungen. Ungleich präziser wird er zum Artikel 15GG: „Wir werden das Grundrecht auf Asyl nicht aufkündigen.“
Ansonsten hatte der Parteitag eine Kernbotschaft: Die SPD will raus aus den bestehenden Zwängen der Schuldenbremse. Sie will investieren, die Schuldenregel reformieren, manche wollen sie auch ganz abschaffen. Kaum ein Beitrag kommt aus ohne Kritik an der Regel, und sollte sich die Partei 2025 noch einmal an der Regierung beteiligt sein, wird sie sich auf eine solche Festlegung nicht mehr einlassen.
Und dann ist da noch das Thema Bildung – traditionell das Aufstiegsversprechen der SPD. Ein Versprechen, das sie seit Dekaden nicht mehr einlöst. Und das, obwohl die SPD in vielen Ländern das Bildungsministerium besetzt hat. Das Desaster wird, vorangetrieben von Saskia Esken und verpackt in einen Leitantrag, nicht mehr schöngeredet. Das Befähigen, das Empowern – „es gelingt uns zunehmend schlecht“, sagt Esken. Ein Viertel der Kinder könne am Ende der Grundschule nicht gut lesen, schreiben. „Ein Armutszeugnis für uns und unsere Politik“, nennt es die ehemalige Bildungsministerin von Mecklenburg-Vorpommern, Bettina Martin. Manches sei angeschoben worden, „aber es hat nicht gereicht“.
Es herrscht Einigkeit unter den Genossen: Die Bildung braucht mehr Zuwendung. Sie braucht mehr Aufmerksamkeit, mehr Geld, mehr Einsatz des Bundes. Sie braucht aber auch, und das blieb unerwähnt, weniger Blockaden und mehr eigenes Engagement der Länder. Denn das Thema ist in Deutschland immer noch föderal eingehängt.
Und der Haushalt 2024? Thematisiert hat ihn der Kanzler nicht. Aber er hat sich ausführlich den hohen Ausgaben für die Ukraine gewidmet. Dabei schwang unausgesprochen mit, dass damit auch die Haushaltsnotlage für das kommende Jahr zu begründen wäre. Und obwohl er ansonsten nicht zimperlich umging mit Finanzminister Christian Lindner, antwortete der überraschend konziliant auf der Plattform X. Er könne dem Kanzler nur recht geben: „Die Unterstützung der Ukraine ist auch eine Investition in unsere Sicherheit. Wir stehen zu dieser Verantwortung in schwierigen Zeiten.“ Es zeichnet sich also ab, dass da ein Schlüssel liegen könnte für eine Öffnung der Schuldenbremse für den noch ungeeinten Haushalt des kommenden Jahres.
Ins Licht gerückt ist bei diesem Parteitag aber auch die neue Führungsriege der Sozialdemokraten. Sie wächst heran, sie erarbeitet sich Profil, sie wird erkennbar, nachdem die Jahrgänge 1965 bis 1975 einst eher bei den Grünen Anschluss gesucht hatten. Die Generationenlücke macht den Genossen bis heute zu schaffen. Zu den nachrückenden Kräften gehört natürlich der Co-Vorsitzende Lars Klingbeil, der sich mit einem bemerkenswerten Auftritt in die Herzen des Parteitags redete. In die Riege gehört auch Generalsekretär Kevin Kühnert, der mit einer beherzten Rede und einigem taktischen Geschick auch die unzufriedenen Genossen einfing. Dazu gehören Arbeitsminister Hubertus Heil, der auf Knopfdruck Reden abrufen kann, die in der Lage sind, jedes sozialdemokratische Auditorium zu entflammen und der mit 96,6 Prozent das beste aller Stellvertreter-Ergebnisse holte.
Und in die Riege eingereiht hat sich auch die Saarländerin Anke Rehlinger, die sich in ihren eineinhalb Jahren als Ministerpräsidentin ein unaufdringlich-erfrischendes Selbstbewusstsein zugelegt hat, das ihr in Berlin, aber auch im Kreis der Ministerpräsidenten zunehmend Respekt verschafft.
Der Generalsekretär verbarg am Ende nicht „eine gewisse Zufriedenheit“ mit dem Verlauf des Konvents. Professionell und solidarisch habe sich die Partei im Umgang miteinander verhalten. Ja, die Genossen haben sich zusammengerauft. Sie haben sich vorläufig auch mit ihrem Kanzler versöhnt. Es hätte ein halbes Jahr vor einem Sonntag mit einer schwierigen Europawahl und Kommunalwahlen schlimmer kommen können.