im beschaulichen Bonn findet diese Woche die fünfte internationale Chemikalienmanagement-Konferenz (ICCM5) statt – die COP der chemischen Industrie. Akteure aus der Branche, NGOs, Firmen und staatliche Vertreter sind dazu aufgerufen, den überfälligen globalen Rahmen für nachhaltiges Wirtschaften im Chemikalienbereich zu vereinbaren. Dabei beschäftigt die Teilnehmenden auch die Frage, wie der Einsatz von Pestiziden – der speziell im Agrarbereich weiter ansteigt – weltweit eingedämmt werden kann.
Für Deutschland, das dieses Jahr den Vorsitz innehat, sitzt die Bundesumweltministerin mit am Verhandlungstisch. Im Interview mit meiner Kollegin Henrike Schirmacher spricht Steffi Lemke (Grüne) darüber, wie dringend wir unseren Pestizideinsatz überdenken müssen, was Verbote gesundheitsgefährdender Pestizide in der EU für den Rest der Welt bedeuten und welche Spielräume Deutschland bei der Reduktion des Pestizideinsatzes noch hat.
Wie gut es auch ohne Chemikalien gehen kann, zeigt das Beispiel eines Start-Ups aus Hamburg, das unsere Autorin Leonie Sontheimer vorstellt. Die Gründerinnen von Traceless verzichten nicht nur auf Chemikalien, sondern auch auf Abfälle und Abwasser bei ihrer Produktion. Das gelb-braune Biomaterial, aus dem sie Einweg-Besteck oder Kleiderhaken herstellen, soll komplett kompostierbar sein.
Frau Lemke, Sie verhandeln in dieser Woche ein neues internationales Chemikalienmanagement. Ihr Ziel ist, eine ehrgeizige Vereinbarung abzuschließen und ein Aufbruchssignal für eine nachhaltige Chemikalienpolitik zu setzen. Mit Blick auf die Chemikalienpolitik im Agrar- und Ernährungsbereich: Was läuft global betrachtet schief?
Steffi Lemke: Mir ist als erstes wichtig zu betonen, dass die internationale Chemikalienkonferenz sich mit der Entwicklung, Produktion und Anwendung sämtlicher Chemikalien weltweit befasst. Das umfasst neben Chemikalien, die im Agrar- und Ernährungsbereich verwendet werden, beispielsweise auch solche für die Automobilindustrie, die Herstellung von Kosmetika und Arzneimitteln oder den Abbau von Rohstoffen. Chemikalien umgeben uns im Alltag überall und permanent – viele haben sehr nützliche Eigenschaften und sind in einigen Bereichen, wie in der Medizin, unverzichtbar, dennoch gefährden manche Chemikalien und deren Abfälle die menschliche Gesundheit und die Umwelt. Deshalb ist es gut, wenn sich die internationale Staatengemeinschaft nun mit den Risiken befasst und versucht, dafür weltweit ein sicheres Management umzusetzen.
Im Agrarbereich haben wir die Situation, dass der weltweite Absatz und Einsatz von Pestiziden deutlich ansteigt. Deshalb müssen wir auch im globalen Maßstab ein Augenmerk insbesondere auf die besonders gefährlichen Pestizide richten und hier zu den sichersten Anwendungen, die möglich sind, kommen.
Betrifft das sowohl gesundheits- als auch umweltschädliche Pflanzenschutzmittel?
Es geht zwar um beide Kategorien. Aber eine zentrale Rolle wird die von der Weltgesundheitsorganisation als hochgefährlich, auf Englisch “highly hazardous”, eingestufte Gruppe spielen. Wenn diese Pestizide nicht sicher eingesetzt werden, folgen Gesundheitsprobleme, in der Vergangenheit kam es sogar zu Todesfällen.
Eine Handvoll Konzerne teilen den globalen Pestizidmarkt untereinander auf. Bei der Konferenz sitzt beispielsweise die BASF mit am Verhandlungstisch. Was erwarten Sie von den Agrarchemiekonzernen beim globalen Handel mit der als “highly hazardous” eingestuften Gruppe?
Die Risiken dieser als besonders gefährlich eingestuften Mittel sind allen Beteiligten bekannt. Daher muss es einerseits darum gehen, weltweit zu der sichersten Anwendung von Chemikalien zu kommen. Andererseits müssen wir bei nachweislich besonders gefährlichen Chemikalien, zu denen es zudem sicherere Alternativen gibt, wie z. B. Blei, erreichen, dass diese nicht mehr eingesetzt werden. Das schafft auch neue Geschäftsfelder mit alternativen Produkten für Firmen. Es ist eine Besonderheit dieser Konferenz, dass Stakeholder, also sowohl aus der Zivilgesellschaft als auch Hersteller, dies gemeinsam mit staatlichen Vertretern verhandeln können.
Warum sollte die Industrie, die immer stärker in den Ländern des Globalen Südens investiert, wo Pestizide weniger streng reguliert werden, mitziehen?
Gerade für eine nachhaltige und damit zukunftsfähige Chemie sehe ich große Marktchancen, auch für die chemische Industrie in Deutschland und Europa. Wir waren dafür schon immer ein bedeutender Forschungsstandort. Hier sind schon viele fortschrittliche Anwendungen entwickelt worden. Und deshalb baue ich darauf, dass auch die Stakeholder ihrer globalen Verantwortung nachkommen und diesen Diskurs vorantreiben. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass weltweit die Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele zur Halbzeitbilanz stark hinterherhängt.
Wo sind denn die Probleme am größten?
Das betrifft vor allem die Situation in afrikanischen Ländern. Dort werden Pestizide häufig ohne jede Schutzvorkehrungen angewendet, weil die nötigen Informationen hierzu oft fehlen. Dies kann zu schweren gesundheitlichen Problemen führen. Es ist mir ein besonderes Anliegen, dass wir diesen Diskurs mit den afrikanischen Ländern führen und ihre Belange berücksichtigen.
Warum müssen die Agrarchemiekonzerne für eine mangelnde Umsetzung der Sicherheitsvorschriften, die auf den Produkten ausgewiesen sein müssen, herhalten?
Es sind klare Regelungen in den Lieferketten erforderlich. Hersteller und Exporteure müssen ihrer Verantwortung nachkommen und sich vor Augen halten, dass es um die Gesundheit der Menschen geht, die gefährdet sein können.
Im Rahmen des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes müssen Unternehmen garantieren, dass importierte Produkte Standards beispielsweise im Arbeits- und Umweltschutz einhalten. Muss die deutsche Exportpolitik hier analog zu Importstandards Vorgaben machen, beispielsweise, wenn deutsche Unternehmen nach Afrika Pflanzenschutzmittel exportieren?
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, den Export gesundheitsschädlicher Pestizide, die in der EU deswegen nicht mehr zugelassen sind, zu untersagen. Es ist schlichtweg schlecht erklärbar, warum es beim Schutz der Gesundheit unterschiedliche Maßstäbe geben sollte. Das geht nicht. Der richtige Umgang mit Chemikalien kann in Zeiten von Globalisierung und internationalem Handel nicht rein national betrachtet werden.
Umwelt- und Gesundheitsschutz sind aber nur eine Seite der Medaille. In einigen afrikanischen Ländern gibt es Hungersnöte. Eine schlechte Ernte aufgrund von fehlendem Pflanzenschutz würde das Problem vor Ort noch vergrößern und die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten vergrößern …
Bei der Konferenz geht es grundsätzlich um den alltäglichen Gebrauch von Chemikalien, wie etwa Pestiziden. Und hier sollte die Gesundheit der Menschen überall auf der Welt gleichermaßen berücksichtigt werden. Aber natürlich sollte vor Ort geprüft werden können, ob Ausnahmesituationen wie z. B. eine Heuschreckenplage Ausnahmeregelungen rechtfertigen.
Sehen das Importländer von Pflanzenschutzmitteln eigentlich genauso?
Das variiert. Das hängt auch oft davon ab, in welchem Umfang Pestizide eingesetzt werden und wie hoch deren Toxizität für den Menschen ist. Uruguay beispielsweise ist sehr engagiert, wenn es um den Schutz der Gesundheit geht. Es ist wichtig, solche Partnerländer in den Verhandlungen zu haben. Auch afrikanische Länder haben ein starkes Interesse an einem gemeinsamen Vorgehen gezeigt.
Die Beschlüsse der Konferenz sind rechtlich unverbindlich. Dennoch: Ohne gesetzliche Grundlagen, Regulierungen sowie behördliche Kapazitäten besteht die Gefahr, dass der Status quo über Jahre, sogar Jahrzehnte hinweg bestehen bleibt. Das zeigt die Historie: Während der ersten ICCM 2006 in Dubai wurde ein unverbindliches Rahmenwerk verabschiedet, das SAICM. Das Ziel: Ab 2020 sollten Chemikalien so verwendet und hergestellt werden, dass erhebliche negative Effekte auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt minimiert werden. Dieses Ziel wurde weit verfehlt.
Warum sollte sich ausgerechnet nach dieser Konferenz etwas ändern?
Das Verfehlen von Nachhaltigkeitszielen ist bei fast allen internationalen Vereinbarungen in diesem Bereich zu beobachten. Schlussfolgerung kann jetzt aber ja nicht sein, dass man die Ziele für einen besseren Gesundheits- und Arbeitsschutz fallen lässt. Die weltweite Chemikalienproduktion steigt rapide an. Zwischen 2000 und 2030 wird sich die Produktion voraussichtlich vervierfacht haben. Damit steigen nicht nur die Umweltverschmutzung und die Gesundheitsrisiken, sondern dies hat auch volkswirtschaftliche Folgen, wie die Weltbank in einer aktuellen Studie darstellt. Daher müssen wir dieses Ziel weiter energisch in den Blick nehmen und hier in Bonn bei der 5. Weltchemikalienkonferenz weitere Schritte vereinbaren, um weltweit ein sicheres und nachhaltiges Chemikalienmanagement voranzubringen.
Worum geht es in der Weltbank-Studie?
Die Entwicklungsbank weist auf die hohen finanziellen Kosten hin, die durch ein fehlendes Chemikalienmanagement im Umwelt- und Gesundheitsbereich entstehen. Das zeigt, dass dadurch auch die Volkswirtschaften massiv belastet werden. Ich finde, dass das schon ein sehr bedeutender Hinweis darauf ist, dass wir umsteuern müssen.
Global betrachtet gibt es also Verbesserungsbedarf in puncto Gesundheits- und Umweltschutz. Hierzulande gibt es aber auch keinen gesetzlichen Standard beim Abfallmanagement von beispielsweise Pflanzenschutzmittel-Kanistern, sondern lediglich private Initiativen von Herstellern und Handel für eine kostenlose Rücknahme. Hat Deutschland eigentlich eine reine Weste, was das Chemikalienmanagement angeht, oder gibt es Verbesserungsbedarf?
Selbstverständlich gibt es auch in Deutschland noch Spielraum, um beispielsweise Pestizidrückstände in der Umwelt zu reduzieren. Die Wissenschaft unterstreicht sehr deutlich die schädliche Wirkung von beispielsweise Totalherbiziden wie Glyphosat auf die Biodiversität.
In Ihrem Haus wird ja auch eine Biodiversitätsstrategie erarbeitet. Wird das Thema Reduktion der Pflanzenschutzmittel auch miteinbezogen?
Ja, wir haben während der Weltnaturschutzkonferenz in Montreal als internationale Staatengemeinschaft beschlossen, dass die Risiken durch Pestizide bis 2030 halbiert werden müssen. Dort haben wir nicht aus Privatvergnügen als Umweltminister, sondern im Auftrag unserer jeweiligen nationalen Regierung verhandelt. Und deshalb ist das auch für die deutsche Regierung eine Verpflichtung.
Für den 27. September hat Olaf Scholz zu einem Spitzentreffen der Chemieindustrie im Kanzleramt eingeladen. Eins der zehn geladenen Unternehmen ist kein großer Konzern, sondern ein kleines Start-up für die Kreislaufwirtschaft: Das Hamburger Unternehmen “Traceless” hat große Pläne. “Unser Geschäftszweck ist es, der Umwelt zu helfen”, sagt Gründerin und Ingenieurin Anne Lamp. Beim Spitzentreffen möchte sie nicht als Feigenblatt für die konventionelle Industrie herhalten, sondern diese umkrempeln. Mit einem Produkt, das Plastik ersetzen und keine Spuren in der Umwelt hinterlassen soll.
Ort und Zeit für den Chemie-Gipfel sind kein Zufall: In dieser Woche findet in Bonn die fünfte internationale Chemikalienmanagement-Konferenz (ICCM5) statt – die COP der chemischen Industrie. Während der ersten ICCM 2006 in Dubai wurde ein unverbindliches Rahmenwerk verabschiedet, das SAICM. Das Ziel: Ab 2020 sollten Chemikalien so verwendet und hergestellt werden, dass erhebliche negative Effekte auf menschliche Gesundheit und die Umwelt minimiert werden. Dieses Ziel wurde weit verfehlt.
Bei der ICCM5 soll nun unter deutschem Vorsitz der überfällige globale Rahmen für nachhaltiges Wirtschaften im Chemikalienbereich vereinbart werden. Dabei sollten laut Anita Breyer, Präsidentin der ICCM5, alle Sektoren, also Chemieindustrie, verarbeitende Industrie, Bergbau, Landwirtschaft und Dienstleistungen “bewusster über den Einsatz von Chemikalien entscheiden, um schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und die Umwelt über den gesamten Lebenszyklus zu vermeiden.” Dafür müssten insbesondere gesetzliche Grundlagen, Regulierungen sowie behördliche Kapazitäten geschaffen werden.
Wie bei den meisten Klima-COPs sind auch von der ICCM keine völkerrechtlich bindenden ambitionierten Ziele zu erwarten. Auch hier fordern Schwellen- und Entwicklungsländer finanzielle Unterstützung für die Umsetzung der Ziele und den Umbau der Industrie.
Diese Transformation will Traceless vorantreiben. Gründerin Anne Lamp hat als Verfahrenstechnikerin für verschiedene Unternehmen gearbeitet, bevor sie 2020 gemeinsam mit Johanna Baare das Unternehmen gegründet hat. Derzeit beschäftigen die beiden 37 Mitarbeitende. In einer Pilotfabrik bei Hamburg wird aus Pflanzenresten der industriellen Getreideverarbeitung ein Biomaterial hergestellt, das Plastik ersetzen soll. Das Granulat soll mit Standardtechnologien der Kunststoff- und Verpackungsindustrie weiterverarbeitet werden – zu Kleinteilen wie Einweg-Besteck oder Beschichtung von Papier. Kleiderhaken aus dem Material hingen bereits als Pilotprodukt bei C&A in der Sockenabteilung.
Der Clou: Das gelb-braune Biomaterial von Traceless soll komplett kompostierbar sein – daher der Name. Bei der Produktion würden keine chemischen Produkte eingesetzt, es entstünden weder Abwasser noch Abfälle, heißt es. Und auch der CO₂-Fußabdruck soll verschwindend gering sein. Laut Untersuchung eines Risikokapitalfonds wird bei der Produktion und der Entsorgung von Traceless im Vergleich zu neuem Plastik bis zu 95 Prozent weniger Treibhausgas emittiert.
Dafür habe man “einen deutlich weniger energieintensiven Prozess entwickelt”, sagt Anne Lamp. “Kunststoff besteht aus langen Ketten von Makromolekülen. Sie künstlich herzustellen, braucht viel Energie. Wir nutzen die Polymere, die die Natur selbst produziert hat und sparen dadurch Energie in der Produktion.”
Deshalb seien die natürlichen Polymere auch kompostierbar: “Die Mikroorganismen da draußen kennen die Polymere schon und wissen, wie sie sie zersetzen können”, steht auf der Webseite des Start-ups. Lamp ist Verfechterin der Kreislaufwirtschaft, darin sieht sie die Lösung für Klimawandel, Ressourcenverbrauch, Umweltverschmutzung. Und sie wünscht sich Konkurrenz: “Wir hoffen, dass noch viel, viel mehr Start-ups neue Biomaterialien auf den Markt bringen, die auf Reststoffen basieren.”
Ihr ist klar: “Wir können nicht alles Plastik mit Traceless ersetzen.” Das liege unter anderem daran, dass sich das Material bei längerem Kontakt mit Wasser zersetzt. Das Traceless-Verfahren lässt Lamp trotzdem patentieren. Sie strebt mit dem Granulat einen Markteintritt für Anfang 2025 an. Gerade wird die erste Industrieanlage geplant, die durch das Bundesumweltministerium mit fünf Millionen Euro gefördert wird.
Doch nicht alle sind begeistert. Für Thomas Fischer, Experte für Kreislaufwirtschaft bei der Deutschen Umwelthilfe DUH, führt der Ansatz von Traceless nicht zu weniger Müll. Er kritisiert, wie die Kunststoff-Industrie allgemein mit Kompostierbarkeit wirbt. “Die Frage ist doch: Wie entsorgen Menschen diese Produkte? Die wenigsten haben einen eigenen Kompost im Garten. In der Biotonne darf Biokunststoff aber nicht entsorgt werden – mit Ausnahme der Bioplastik-Beutel.” Die Deutsche Umwelthilfe hat letztes Jahr von einer Kompostierungsanlage prüfen lassen, wie gut verschiedene Produkte verrotten, die als “kompostierbar” oder “biologisch abbaubar” beworben werden. “Da hat sich fast nichts abgebaut”, fasst Fischer das Ergebnis des Versuchs zusammen.
An Traceless kritisiert Fischer vor allem, dass mit dem Material auch Einweg-Produkte hergestellt werden sollen. “Selbst wenn so eine Pommes-Gabel einwandfrei kompostierbar wäre, verschwendet sie als Einweg-Produkt Ressourcen, wo es doch eigentlich Mehrweg-Alternativen gibt.”
Ein besonders großes Potenzial für grüne Chemie sieht Fischer in einer weiter optimierten Getrenntsammlung von Bioabfall. “Viel zu viel Organik landet ungenutzt im Restmüll. Dabei könnte man daraus noch Stoffe herstellen, die in der Chemie verwendet werden können.” Derzeit kämen erneuerbare Rohstoffe jedoch eher als Zuckerrohr aus Brasilien oder Mais aus USA. Das sei billig, aber nicht der richtige Weg.
im beschaulichen Bonn findet diese Woche die fünfte internationale Chemikalienmanagement-Konferenz (ICCM5) statt – die COP der chemischen Industrie. Akteure aus der Branche, NGOs, Firmen und staatliche Vertreter sind dazu aufgerufen, den überfälligen globalen Rahmen für nachhaltiges Wirtschaften im Chemikalienbereich zu vereinbaren. Dabei beschäftigt die Teilnehmenden auch die Frage, wie der Einsatz von Pestiziden – der speziell im Agrarbereich weiter ansteigt – weltweit eingedämmt werden kann.
Für Deutschland, das dieses Jahr den Vorsitz innehat, sitzt die Bundesumweltministerin mit am Verhandlungstisch. Im Interview mit meiner Kollegin Henrike Schirmacher spricht Steffi Lemke (Grüne) darüber, wie dringend wir unseren Pestizideinsatz überdenken müssen, was Verbote gesundheitsgefährdender Pestizide in der EU für den Rest der Welt bedeuten und welche Spielräume Deutschland bei der Reduktion des Pestizideinsatzes noch hat.
Wie gut es auch ohne Chemikalien gehen kann, zeigt das Beispiel eines Start-Ups aus Hamburg, das unsere Autorin Leonie Sontheimer vorstellt. Die Gründerinnen von Traceless verzichten nicht nur auf Chemikalien, sondern auch auf Abfälle und Abwasser bei ihrer Produktion. Das gelb-braune Biomaterial, aus dem sie Einweg-Besteck oder Kleiderhaken herstellen, soll komplett kompostierbar sein.
Frau Lemke, Sie verhandeln in dieser Woche ein neues internationales Chemikalienmanagement. Ihr Ziel ist, eine ehrgeizige Vereinbarung abzuschließen und ein Aufbruchssignal für eine nachhaltige Chemikalienpolitik zu setzen. Mit Blick auf die Chemikalienpolitik im Agrar- und Ernährungsbereich: Was läuft global betrachtet schief?
Steffi Lemke: Mir ist als erstes wichtig zu betonen, dass die internationale Chemikalienkonferenz sich mit der Entwicklung, Produktion und Anwendung sämtlicher Chemikalien weltweit befasst. Das umfasst neben Chemikalien, die im Agrar- und Ernährungsbereich verwendet werden, beispielsweise auch solche für die Automobilindustrie, die Herstellung von Kosmetika und Arzneimitteln oder den Abbau von Rohstoffen. Chemikalien umgeben uns im Alltag überall und permanent – viele haben sehr nützliche Eigenschaften und sind in einigen Bereichen, wie in der Medizin, unverzichtbar, dennoch gefährden manche Chemikalien und deren Abfälle die menschliche Gesundheit und die Umwelt. Deshalb ist es gut, wenn sich die internationale Staatengemeinschaft nun mit den Risiken befasst und versucht, dafür weltweit ein sicheres Management umzusetzen.
Im Agrarbereich haben wir die Situation, dass der weltweite Absatz und Einsatz von Pestiziden deutlich ansteigt. Deshalb müssen wir auch im globalen Maßstab ein Augenmerk insbesondere auf die besonders gefährlichen Pestizide richten und hier zu den sichersten Anwendungen, die möglich sind, kommen.
Betrifft das sowohl gesundheits- als auch umweltschädliche Pflanzenschutzmittel?
Es geht zwar um beide Kategorien. Aber eine zentrale Rolle wird die von der Weltgesundheitsorganisation als hochgefährlich, auf Englisch “highly hazardous”, eingestufte Gruppe spielen. Wenn diese Pestizide nicht sicher eingesetzt werden, folgen Gesundheitsprobleme, in der Vergangenheit kam es sogar zu Todesfällen.
Eine Handvoll Konzerne teilen den globalen Pestizidmarkt untereinander auf. Bei der Konferenz sitzt beispielsweise die BASF mit am Verhandlungstisch. Was erwarten Sie von den Agrarchemiekonzernen beim globalen Handel mit der als “highly hazardous” eingestuften Gruppe?
Die Risiken dieser als besonders gefährlich eingestuften Mittel sind allen Beteiligten bekannt. Daher muss es einerseits darum gehen, weltweit zu der sichersten Anwendung von Chemikalien zu kommen. Andererseits müssen wir bei nachweislich besonders gefährlichen Chemikalien, zu denen es zudem sicherere Alternativen gibt, wie z. B. Blei, erreichen, dass diese nicht mehr eingesetzt werden. Das schafft auch neue Geschäftsfelder mit alternativen Produkten für Firmen. Es ist eine Besonderheit dieser Konferenz, dass Stakeholder, also sowohl aus der Zivilgesellschaft als auch Hersteller, dies gemeinsam mit staatlichen Vertretern verhandeln können.
Warum sollte die Industrie, die immer stärker in den Ländern des Globalen Südens investiert, wo Pestizide weniger streng reguliert werden, mitziehen?
Gerade für eine nachhaltige und damit zukunftsfähige Chemie sehe ich große Marktchancen, auch für die chemische Industrie in Deutschland und Europa. Wir waren dafür schon immer ein bedeutender Forschungsstandort. Hier sind schon viele fortschrittliche Anwendungen entwickelt worden. Und deshalb baue ich darauf, dass auch die Stakeholder ihrer globalen Verantwortung nachkommen und diesen Diskurs vorantreiben. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass weltweit die Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele zur Halbzeitbilanz stark hinterherhängt.
Wo sind denn die Probleme am größten?
Das betrifft vor allem die Situation in afrikanischen Ländern. Dort werden Pestizide häufig ohne jede Schutzvorkehrungen angewendet, weil die nötigen Informationen hierzu oft fehlen. Dies kann zu schweren gesundheitlichen Problemen führen. Es ist mir ein besonderes Anliegen, dass wir diesen Diskurs mit den afrikanischen Ländern führen und ihre Belange berücksichtigen.
Warum müssen die Agrarchemiekonzerne für eine mangelnde Umsetzung der Sicherheitsvorschriften, die auf den Produkten ausgewiesen sein müssen, herhalten?
Es sind klare Regelungen in den Lieferketten erforderlich. Hersteller und Exporteure müssen ihrer Verantwortung nachkommen und sich vor Augen halten, dass es um die Gesundheit der Menschen geht, die gefährdet sein können.
Im Rahmen des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes müssen Unternehmen garantieren, dass importierte Produkte Standards beispielsweise im Arbeits- und Umweltschutz einhalten. Muss die deutsche Exportpolitik hier analog zu Importstandards Vorgaben machen, beispielsweise, wenn deutsche Unternehmen nach Afrika Pflanzenschutzmittel exportieren?
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, den Export gesundheitsschädlicher Pestizide, die in der EU deswegen nicht mehr zugelassen sind, zu untersagen. Es ist schlichtweg schlecht erklärbar, warum es beim Schutz der Gesundheit unterschiedliche Maßstäbe geben sollte. Das geht nicht. Der richtige Umgang mit Chemikalien kann in Zeiten von Globalisierung und internationalem Handel nicht rein national betrachtet werden.
Umwelt- und Gesundheitsschutz sind aber nur eine Seite der Medaille. In einigen afrikanischen Ländern gibt es Hungersnöte. Eine schlechte Ernte aufgrund von fehlendem Pflanzenschutz würde das Problem vor Ort noch vergrößern und die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten vergrößern …
Bei der Konferenz geht es grundsätzlich um den alltäglichen Gebrauch von Chemikalien, wie etwa Pestiziden. Und hier sollte die Gesundheit der Menschen überall auf der Welt gleichermaßen berücksichtigt werden. Aber natürlich sollte vor Ort geprüft werden können, ob Ausnahmesituationen wie z. B. eine Heuschreckenplage Ausnahmeregelungen rechtfertigen.
Sehen das Importländer von Pflanzenschutzmitteln eigentlich genauso?
Das variiert. Das hängt auch oft davon ab, in welchem Umfang Pestizide eingesetzt werden und wie hoch deren Toxizität für den Menschen ist. Uruguay beispielsweise ist sehr engagiert, wenn es um den Schutz der Gesundheit geht. Es ist wichtig, solche Partnerländer in den Verhandlungen zu haben. Auch afrikanische Länder haben ein starkes Interesse an einem gemeinsamen Vorgehen gezeigt.
Die Beschlüsse der Konferenz sind rechtlich unverbindlich. Dennoch: Ohne gesetzliche Grundlagen, Regulierungen sowie behördliche Kapazitäten besteht die Gefahr, dass der Status quo über Jahre, sogar Jahrzehnte hinweg bestehen bleibt. Das zeigt die Historie: Während der ersten ICCM 2006 in Dubai wurde ein unverbindliches Rahmenwerk verabschiedet, das SAICM. Das Ziel: Ab 2020 sollten Chemikalien so verwendet und hergestellt werden, dass erhebliche negative Effekte auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt minimiert werden. Dieses Ziel wurde weit verfehlt.
Warum sollte sich ausgerechnet nach dieser Konferenz etwas ändern?
Das Verfehlen von Nachhaltigkeitszielen ist bei fast allen internationalen Vereinbarungen in diesem Bereich zu beobachten. Schlussfolgerung kann jetzt aber ja nicht sein, dass man die Ziele für einen besseren Gesundheits- und Arbeitsschutz fallen lässt. Die weltweite Chemikalienproduktion steigt rapide an. Zwischen 2000 und 2030 wird sich die Produktion voraussichtlich vervierfacht haben. Damit steigen nicht nur die Umweltverschmutzung und die Gesundheitsrisiken, sondern dies hat auch volkswirtschaftliche Folgen, wie die Weltbank in einer aktuellen Studie darstellt. Daher müssen wir dieses Ziel weiter energisch in den Blick nehmen und hier in Bonn bei der 5. Weltchemikalienkonferenz weitere Schritte vereinbaren, um weltweit ein sicheres und nachhaltiges Chemikalienmanagement voranzubringen.
Worum geht es in der Weltbank-Studie?
Die Entwicklungsbank weist auf die hohen finanziellen Kosten hin, die durch ein fehlendes Chemikalienmanagement im Umwelt- und Gesundheitsbereich entstehen. Das zeigt, dass dadurch auch die Volkswirtschaften massiv belastet werden. Ich finde, dass das schon ein sehr bedeutender Hinweis darauf ist, dass wir umsteuern müssen.
Global betrachtet gibt es also Verbesserungsbedarf in puncto Gesundheits- und Umweltschutz. Hierzulande gibt es aber auch keinen gesetzlichen Standard beim Abfallmanagement von beispielsweise Pflanzenschutzmittel-Kanistern, sondern lediglich private Initiativen von Herstellern und Handel für eine kostenlose Rücknahme. Hat Deutschland eigentlich eine reine Weste, was das Chemikalienmanagement angeht, oder gibt es Verbesserungsbedarf?
Selbstverständlich gibt es auch in Deutschland noch Spielraum, um beispielsweise Pestizidrückstände in der Umwelt zu reduzieren. Die Wissenschaft unterstreicht sehr deutlich die schädliche Wirkung von beispielsweise Totalherbiziden wie Glyphosat auf die Biodiversität.
In Ihrem Haus wird ja auch eine Biodiversitätsstrategie erarbeitet. Wird das Thema Reduktion der Pflanzenschutzmittel auch miteinbezogen?
Ja, wir haben während der Weltnaturschutzkonferenz in Montreal als internationale Staatengemeinschaft beschlossen, dass die Risiken durch Pestizide bis 2030 halbiert werden müssen. Dort haben wir nicht aus Privatvergnügen als Umweltminister, sondern im Auftrag unserer jeweiligen nationalen Regierung verhandelt. Und deshalb ist das auch für die deutsche Regierung eine Verpflichtung.
Für den 27. September hat Olaf Scholz zu einem Spitzentreffen der Chemieindustrie im Kanzleramt eingeladen. Eins der zehn geladenen Unternehmen ist kein großer Konzern, sondern ein kleines Start-up für die Kreislaufwirtschaft: Das Hamburger Unternehmen “Traceless” hat große Pläne. “Unser Geschäftszweck ist es, der Umwelt zu helfen”, sagt Gründerin und Ingenieurin Anne Lamp. Beim Spitzentreffen möchte sie nicht als Feigenblatt für die konventionelle Industrie herhalten, sondern diese umkrempeln. Mit einem Produkt, das Plastik ersetzen und keine Spuren in der Umwelt hinterlassen soll.
Ort und Zeit für den Chemie-Gipfel sind kein Zufall: In dieser Woche findet in Bonn die fünfte internationale Chemikalienmanagement-Konferenz (ICCM5) statt – die COP der chemischen Industrie. Während der ersten ICCM 2006 in Dubai wurde ein unverbindliches Rahmenwerk verabschiedet, das SAICM. Das Ziel: Ab 2020 sollten Chemikalien so verwendet und hergestellt werden, dass erhebliche negative Effekte auf menschliche Gesundheit und die Umwelt minimiert werden. Dieses Ziel wurde weit verfehlt.
Bei der ICCM5 soll nun unter deutschem Vorsitz der überfällige globale Rahmen für nachhaltiges Wirtschaften im Chemikalienbereich vereinbart werden. Dabei sollten laut Anita Breyer, Präsidentin der ICCM5, alle Sektoren, also Chemieindustrie, verarbeitende Industrie, Bergbau, Landwirtschaft und Dienstleistungen “bewusster über den Einsatz von Chemikalien entscheiden, um schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und die Umwelt über den gesamten Lebenszyklus zu vermeiden.” Dafür müssten insbesondere gesetzliche Grundlagen, Regulierungen sowie behördliche Kapazitäten geschaffen werden.
Wie bei den meisten Klima-COPs sind auch von der ICCM keine völkerrechtlich bindenden ambitionierten Ziele zu erwarten. Auch hier fordern Schwellen- und Entwicklungsländer finanzielle Unterstützung für die Umsetzung der Ziele und den Umbau der Industrie.
Diese Transformation will Traceless vorantreiben. Gründerin Anne Lamp hat als Verfahrenstechnikerin für verschiedene Unternehmen gearbeitet, bevor sie 2020 gemeinsam mit Johanna Baare das Unternehmen gegründet hat. Derzeit beschäftigen die beiden 37 Mitarbeitende. In einer Pilotfabrik bei Hamburg wird aus Pflanzenresten der industriellen Getreideverarbeitung ein Biomaterial hergestellt, das Plastik ersetzen soll. Das Granulat soll mit Standardtechnologien der Kunststoff- und Verpackungsindustrie weiterverarbeitet werden – zu Kleinteilen wie Einweg-Besteck oder Beschichtung von Papier. Kleiderhaken aus dem Material hingen bereits als Pilotprodukt bei C&A in der Sockenabteilung.
Der Clou: Das gelb-braune Biomaterial von Traceless soll komplett kompostierbar sein – daher der Name. Bei der Produktion würden keine chemischen Produkte eingesetzt, es entstünden weder Abwasser noch Abfälle, heißt es. Und auch der CO₂-Fußabdruck soll verschwindend gering sein. Laut Untersuchung eines Risikokapitalfonds wird bei der Produktion und der Entsorgung von Traceless im Vergleich zu neuem Plastik bis zu 95 Prozent weniger Treibhausgas emittiert.
Dafür habe man “einen deutlich weniger energieintensiven Prozess entwickelt”, sagt Anne Lamp. “Kunststoff besteht aus langen Ketten von Makromolekülen. Sie künstlich herzustellen, braucht viel Energie. Wir nutzen die Polymere, die die Natur selbst produziert hat und sparen dadurch Energie in der Produktion.”
Deshalb seien die natürlichen Polymere auch kompostierbar: “Die Mikroorganismen da draußen kennen die Polymere schon und wissen, wie sie sie zersetzen können”, steht auf der Webseite des Start-ups. Lamp ist Verfechterin der Kreislaufwirtschaft, darin sieht sie die Lösung für Klimawandel, Ressourcenverbrauch, Umweltverschmutzung. Und sie wünscht sich Konkurrenz: “Wir hoffen, dass noch viel, viel mehr Start-ups neue Biomaterialien auf den Markt bringen, die auf Reststoffen basieren.”
Ihr ist klar: “Wir können nicht alles Plastik mit Traceless ersetzen.” Das liege unter anderem daran, dass sich das Material bei längerem Kontakt mit Wasser zersetzt. Das Traceless-Verfahren lässt Lamp trotzdem patentieren. Sie strebt mit dem Granulat einen Markteintritt für Anfang 2025 an. Gerade wird die erste Industrieanlage geplant, die durch das Bundesumweltministerium mit fünf Millionen Euro gefördert wird.
Doch nicht alle sind begeistert. Für Thomas Fischer, Experte für Kreislaufwirtschaft bei der Deutschen Umwelthilfe DUH, führt der Ansatz von Traceless nicht zu weniger Müll. Er kritisiert, wie die Kunststoff-Industrie allgemein mit Kompostierbarkeit wirbt. “Die Frage ist doch: Wie entsorgen Menschen diese Produkte? Die wenigsten haben einen eigenen Kompost im Garten. In der Biotonne darf Biokunststoff aber nicht entsorgt werden – mit Ausnahme der Bioplastik-Beutel.” Die Deutsche Umwelthilfe hat letztes Jahr von einer Kompostierungsanlage prüfen lassen, wie gut verschiedene Produkte verrotten, die als “kompostierbar” oder “biologisch abbaubar” beworben werden. “Da hat sich fast nichts abgebaut”, fasst Fischer das Ergebnis des Versuchs zusammen.
An Traceless kritisiert Fischer vor allem, dass mit dem Material auch Einweg-Produkte hergestellt werden sollen. “Selbst wenn so eine Pommes-Gabel einwandfrei kompostierbar wäre, verschwendet sie als Einweg-Produkt Ressourcen, wo es doch eigentlich Mehrweg-Alternativen gibt.”
Ein besonders großes Potenzial für grüne Chemie sieht Fischer in einer weiter optimierten Getrenntsammlung von Bioabfall. “Viel zu viel Organik landet ungenutzt im Restmüll. Dabei könnte man daraus noch Stoffe herstellen, die in der Chemie verwendet werden können.” Derzeit kämen erneuerbare Rohstoffe jedoch eher als Zuckerrohr aus Brasilien oder Mais aus USA. Das sei billig, aber nicht der richtige Weg.