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Wieso die aktuelle Reformdebatte am Ziel vorbeischießt

Die Reformdebatte verspricht Fortschritt, verfehlt aber den Kern: Statt Ursachen anzugehen, bleibt sie bei Symptomen stehen. Warum gut gemeinte Vorschläge die eigentlichen Probleme ausblenden.

PS
20. Dezember 2025

Deutschland müsse wieder preislich wettbewerbsfähig werden, so Bundeskanzler Friedrich Merz in seiner Rede beim Tag der Metall- und Elektroindustrie von Gesamtmetall. Dafür gäbe es ein erprobtes Rezept – Kostenreduktion zum Beispiel durch niedrigere Unternehmenssteuern und Energiepreise.

Preisliche Wettbewerbsfähigkeit bedeutet, Güter nicht deutlich teurer anzubieten als die Konkurrenz. Davon ist die deutsche Industrie teils weit entfernt: Der chinesische BYD Seal kostet in der Produktion rund 35 Prozent oder 9.000 Euro weniger als ein VW ID.3. Die geplante Körperschaftssteuersenkung senkt die Kosten pro Auto um weniger als 100 Euro, selbst eine Halbierung der Arbeitskosten ließe noch einen Abstand von rund 6.000 Euro. Staatliche Kostensenkungen können diese Lücke nicht schließen.

Trotzdem versucht sich die Politik an der Wettbewerbsfähigkeit durch Kostensenkungen. Vor der Krise funktionierte das exportgetriebene Geschäftsmodell ja noch, warum nicht bald wieder? Weil sich bei genauem Hinsehen schon diese Problemanalyse als falsch erweist. Denn schon in den 2010er-Jahren hörten die Exporte auf zu wachsen. Die wirkliche Hochzeit der Exporte waren die 2000er-Jahre, in denen Deutschland sechsmal nacheinander Exportweltmeister wurde. Möglich gemacht hat das ein handelspolitisches Großereignis: 2001 war China der WTO beigetreten. Der deutschen Industrie stand damit ein neuer Markt von knapp 1,3 Milliarden Menschen offen, deren Pro-Kopf-Einkommen jedes Jahr um zehn Prozent wuchs.

Gerhard Schröders Reformen ab 2003 spielten ihren Part, senkten die Arbeitskosten und erhöhten die Flexibilität, sodass die chinesische Nachfrage möglichst kostengünstig bedient werden konnte. Es war also ein großes exogenes Ereignis, das das deutsche Exportwachstum befeuerte – und im Zusammenspiel mit Schröders Reformen gut funktionierte. Dieses Ereignis – ein riesiger Markt, der nur darauf wartet, erschlossen zu werden – fehlt heute. Stattdessen hofft man darauf, mit Steuersenkungen und hoch-subventionierten Energiepreisen Lücken zu füllen, die um ein Vielfaches zu groß dafür sind. Es geht weiterhin nur um marginale Verbesserungen. Das reicht aber schon lange nicht mehr.

Es hapert an den Fundamentaldaten. Deutschland liegt heute zwar auf Platz fünf der Länder mit dem höchsten (kaufkraftbereinigten) Pro-Kopf-Einkommen der Welt – globale Finanzzentren und Petrostaaten ausgenommen. Im PISA-Mathematikranking dagegen kommen deutsche Schüler nur noch auf Platz 22. Die beste deutsche Universität im Nature’s Research Ranking liegt auf Platz 79. Nur drei Länder in Europa geben einen geringeren Anteil ihrer Investitionen für neue Produkte aus. Unser Wohlstand ist Weltspitze, unser Bildungssystem, unser Forschungssystem und unsere Innovationen sind es nicht mehr.

Deutschlands letzte Phase umfassender Stärke liegt im 19. Jahrhundert. Damals entstanden mit der Forschungsuniversität, Technischen Hochschulen und industrienaher Forschung globale Neuerungen. Ingenieursunternehmer prägten die Welt mit Erfindungen wie dem Ottomotor oder Aspirin, der Staat unterstützte durch Infrastruktur, Nachfrage und den Aufbau des Sozialstaats. Viele heutige Dax-Unternehmen stammen aus dieser Gründerzeit (siehe Executive Summary).

Davon zu leben reicht nicht mehr. Deutschland muss sein Fundament erneuern. Statt sich mit Platz 22 bei PISA zufriedenzugeben und öffentliche Leistungen zu kürzen, sollte die Politik wieder um die Weltspitze kämpfen: bei Bildung, Betreuung und Pflege, einem aktivierenden Sozialstaat, unternehmerfreundlichen Rahmenbedingungen und Spitzenforschung.

Ein erster Schritt wäre, Bildung im Grundgesetz als Gemeinschaftsaufgabe zu verankern. So würde die Erfüllung einer der wichtigsten öffentlichen Aufgaben endlich nicht mehr von den Gewerbesteuereinnahmen abhängen. Bildung sollte nach dem tatsächlichen Bedarf gestaltet werden, nicht nach der konjunkturellen Lage. Damit würde Deutschland auch dem Anspruch des Bundeskanzlers gerecht, den er bei seiner Rede vor Gesamtmetall formulierte: Die EU wieder zu einem der wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten Wirtschaftsräume der Welt zu machen – ein Ziel, das ursprünglich in der Lissabon-Strategie der EU festgeschrieben war.

Philippa Sigl-Glöckner ist Ökonomin und Gründungsdirektorin der Denkfabrik „Dezernat Zukunft – Institut für Makrofinanzen“.

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Letzte Aktualisierung: 20. Dezember 2025