Table.Standpunkt | Migrationspolitik
Erscheinungsdatum: 06. November 2025

Caritas-Chef: „Rückführungen wären ein fatales Signal"

Die Debatte über Rückführungen nach Syrien ignoriere die Realität, sagt Caritas-Vorstand Oliver Müller. Sie gefährde das Vertrauen und die Integration Zehntausender in Deutschland. Eine zwangsweise Rückkehr sei gefährlich und verantwortungslos.

Seit das Assad-Regime im Dezember 2024 von der syrischen Opposition gestürzt wurde, diskutieren politische Vertreter in Deutschland immer wieder über die Möglichkeit der Rückkehr Geflüchteter. Bedauerlich ist, dass diese Debatte selten auf Basis der nüchternen Faktenlage geführt wird. Vielmehr wird schon gebrandmarkt, wer nach eigenem Augenschein und persönlichen Gesprächen die Dinge beim Namen nennt und konstatiert, dass derzeit in Syrien „wirklich kaum Menschen richtig würdig leben“ können. So wie es jüngst Außenminister Johannes Wadephul tat.

Als Caritas sehen wir uns in Syrien tagtäglich mit der bitteren Realität konfrontiert:

  • 70 Prozent der 24 Millionen Syrer brauchen humanitäre Hilfe.

  • Jedes dritte Wohnhaus in großen Städten wie Aleppo, Idlib und Homs ist unbewohnbar.

  • Das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps: 43 Prozent der Hospitäler sind nicht funktionstüchtig.

  • 2,4 Millionen Kinder können nicht zur Schule, weil ihre Schule zerstört ist oder Lehrer fehlen.

  • Die Preise für Nahrungsmittel und Energie haben sich nach dem Regime-Sturz um 200 bis 400 Prozent erhöht

Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Diese Zahlen und Fakten sind wichtiger Teil der Wirklichkeit. Und zu dieser Wirklichkeit gehört auch, dass Syrien nach wie vor von ethnisch-konfessionellen Spannungen, Kriminalität und einer hochgradig volatilen Machtkonkurrenz geprägt ist. Wer in Syrien lebt, setzt sich großen Risiken aus. Übrigens auch humanitäre Helfer: Allein in den vergangenen drei Monaten kamen zwei Helfer ums Leben, acht wurden verletzt und zwei entführt.

Das Auswärtige Amt musste die deutsche Unterstützung für Syrien aufgrund der drastischen Kürzungen der Gelder für humanitäre Hilfe auf lebensrettende humanitäre Maßnahmen sowie vereinzelte Projekte zur zivilen Minenräumung beschränken; andere europäische Länder und die USA haben ihr humanitäres und entwicklungspolitisches Engagement ebenfalls stark reduziert. Investitionen kommen bisher kaum ins Land und die weiter andauernde Ausgrenzung des Landes aus dem internationalen Zahlungssystem erschweren die Erholung der Wirtschaft massiv. Der Wiederaufbau in Syrien geht nur schleppend voran. Von einer Stabilisierung ist Syrien weit entfernt.

Aber nicht nur der Blick auf die syrische Wirklichkeit zeigt, wie weit die aktuelle Rückkehrdebatte an der Realität vorbeigeht. Zu dem gleichen Schluss muss kommen, wer eine juristisch-politische Bewertung vornimmt. Denn nur rund ein Prozent der Syrerinnen und Syrer in Deutschland sind tatsächlich vollziehbar ausreisepflichtig. 99 Prozent leben mit einem gültigen Aufenthaltstitel bei uns. Der Entzug eines Aufenthaltstitels folgt klar definierten rechtsstaatlichen Verfahren – er lässt sich nicht durch politische Rhetorik herbeiführen.

Bewirkt hat die politische Debatte hingegen bereits eine große Verunsicherung der bei uns lebenden Syrerinnen und Syrer, wie unsere Caritas-Migrationsberatungsstellen berichten: Selbst Syrer und Syrerinnen mit deutscher Staatsangehörigkeit fragen mittlerweile nach, was die politischen Diskussionen für sie persönlich und die Zukunft ihrer Familie bedeuten könnte.

Machen wir uns klar: Die Menschen, über deren Köpfe hinweg gerade debattiert wird, sind unsere Nachbarinnen und Freunde, unsere Kolleginnen und Kollegen, die Freundinnen und Freunde unserer Kinder. Es sind Ärztinnen und Pfleger, Fahrer von Lieferdiensten, Unternehmerinnen und Gastronomen. Viele arbeiten in Engpassberufen. Darunter 7000 Ärztinnen und Ärzte, die für unseren Gesundheitssektor unverzichtbar sind. Ihnen wird aktuell vermittelt, dass sie in Deutschland nicht willkommen sind, obwohl sie in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen haben, ein Teil unserer Gesellschaft zu werden. Ein fatales Signal.

Wer ernsthaft Verantwortung übernehmen will, muss die Realität anerkennen: Politische Symboldebatten gefährden Integration und humanitäre Prinzipien gleichermaßen. Rückführungen nach Syrien sind derzeit verantwortungslos. Vielmehr gilt es, humanitäre Hilfe zu sichern, den Wiederaufbau langfristig zu unterstützen, Geflüchtete zu schützen, Integration zu stärken und politische Debatten an den Fakten auszurichten.

Oliver Müller, 60, ist Caritas-Vorstand für Internationales, Migration und Katastrophenhilfe. Er leitet auch Caritas international, das Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes.

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Letzte Aktualisierung: 06. November 2025

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