CEO.Talk
Erscheinungsdatum: 21. November 2025

„Deutschland kann in vier bis fünf Jahren wieder vorne liegen“

Chinesische Waren suchen auf Grund der US-Zölle neue Abnehmer. (picture alliance / CHROMORANGE | Christian Ohde)

Allianz-Trade-DACH-CEO Milo Bogaerts spricht im Interview über den Zollschock, Umlenkungseffekte aus China, steigende Insolvenzrisiken – und warum er dennoch optimistisch für die deutsche Volkswirtschaft bleibt.

Herr Bogaerts, seit April hat die neue US-Regierung die Zölle massiv erhöht. Sie beobachten täglich die globalen Warenströme – wie stark hat dieser Zollschock den Welthandel erschüttert?
Wir sehen sehr deutliche Verschiebungen. Die effektive Zollbelastung auf US-Importe erreicht bis zum Jahresende voraussichtlich rund 14 Prozent – ein enormer Sprung, der die globalen Handelsströme spürbar verändert. Viele Waren, die früher direkt aus China in die USA exportiert wurden, weichen inzwischen auf andere Produktionsstandorte aus, vor allem nach Vietnam und Indien. Ein anschauliches Beispiel sind Schuhe: Früher kamen sie überwiegend aus China, heute zunehmend aus Vietnam.

Können Sie das auch beziffern? Wie stark brechen Chinas Lieferungen in die USA ein?
Die US-Importe aus China sind von 21,6 Prozent im Jahr 2017 auf nur noch 9,4 Prozent bis Juli 2025 gefallen. Die wegfallenden Exporte werden umgelenkt – ein Teil nach Asien oder Südamerika, ein spürbarer Teil aber auch nach Europa und dort besonders nach Deutschland. Das erhöht hier den Wettbewerbsdruck, etwa in Konsumgütern, Elektronik, dem Automobilbereich sowie im Maschinenbau und der Textilindustrie, vor allem in Süddeutschland.

Wie hart treffen die US-Zölle deutsche Unternehmen insgesamt?
Sehr deutlich. 2023 waren nur rund zwei Prozent der deutschen Exporte von neuen Zollmaßnahmen betroffen. 2024 waren es sieben Prozent. Mitte November 2025 liegen wir bei rund 25 Prozent. Das hat sich also mehr als verzehnfacht und das spüren die Unternehmen täglich.

Was ist für deutsche Unternehmen die größere Herausforderung – die direkten US-Zölle oder die indirekten Effekte durch chinesische Umlenkungen?
Das kommt stark auf die Branche an. Einige Unternehmen leiden eher unter den direkten Zöllen in den USA. Andere – etwa im Maschinenbau oder in der Textilindustrie – spüren vor allem den steigenden Wettbewerbsdruck durch chinesische Waren, die wegen der US-Zölle nach Europa ausweichen.

Was sind die Folgen des Zollregimes für deutsche Unternehmen? Zeigen Ihre Daten auch einen Anstieg der Insolvenzen in Deutschland?
Ja. Zwar haben staatliche Ausgaben für Verteidigung und Infrastruktur die Folgen etwas abgemildert, doch wir sehen weiterhin einen Anstieg der Insolvenzen um rund elf Prozent in diesem Jahr auf etwa 24.320 Fälle. Das liegt 22 Prozent über dem Vorkrisenniveau.

Besonders kritisch sind die Großinsolvenzen, also Fälle von Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als 50 Millionen Euro. 2024 gab es 87 solcher Fälle. 2025 liegen wir nach neun Monaten auch schon wieder bei 57, wobei insbesondere im dritten Quartal die Zahl auffällig hoch war. Große Insolvenzen gefährden ganze Lieferketten; ein einziger Fall kann Hunderte Zulieferer mitreißen.

Was macht die deutsche Industrie derzeit so verletzlich?
Ich glaube, wir haben zu lange von unserer Substanz gelebt. Die Energiepreise sind zu hoch und es gibt einen großen Investitionsstau. Wir investieren zu wenig in Innovation, Digitalisierung und Infrastruktur. Und der Fachkräftemangel verschärft die Lage zusätzlich.

Ist die Lage wirklich so aussichtslos?
Nein, das glaube ich nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass Deutschland in vier oder fünf Jahren deutlich besser dasteht und andere Volkswirtschaften wieder überholt. Die Stärken – Ausbildung, Mittelstand, Qualität – sind ja immer noch da.

Hinzu kommt: Deutschland ist in der Vergangenheit immer stark aus Krisen herausgekommen. Warum sollte es diesmal anders sein?

Was raten Sie deutschen Mittelständlern in dieser Situation?
Weiter investieren und nicht aufhören zu innovieren. Die Stärke vieler deutscher Unternehmen liegt darin, dass sie in Generationen denken. Das ist ein Vorteil, den andere Länder so nicht haben. Ja, es ist komplexer geworden, in Deutschland zu investieren, aber Innovation und Investitionen entscheiden darüber, wie gut Deutschland in einigen Jahren dastehen wird.

Wie steht Deutschland im globalen Vergleich da – gehören wir zu den Verlierern des Zollregimes?
Als Exportnation sind wir stark betroffen, aber das gilt auch für andere Länder, die intensiv mit den USA handeln. Unsere Zahlen zeigen im schlimmsten Fall zusätzliche Insolvenzen durch den Zollschock von etwa 1.900 in Kanada, mehr als 6.000 in Frankreich, rund 2.900 in Spanien und etwa 700 in den Niederlanden.

Gibt es eigentlich auch Gewinner des Zollregimes?
Nein, Gewinner gibt es keine. Die USA profitieren zwar kurzfristig etwas, weil ein Teil der Belastung von ausländischen Exporteuren getragen wird. In der ersten Hälfte des Jahres 2025 sind die Unternehmensinsolvenzen in den USA sogar leicht zurückgegangen. Für das Gesamtjahr rechnen wir aber mit einem Anstieg um etwa neun Prozent, vor allem im vierten Quartal, wenn die Effekte der Zölle stärker durchschlagen.

Welche Dimension hat der neue Protektionismus inzwischen angenommen?
Das protektionistisch betroffene Handelsvolumen ist von 887 Milliarden US-Dollar auf rund 2,7 Billionen gestiegen. Das entspricht fast 20 Prozent des weltweiten Warenhandels. Die Zahl neu eingeführter Zölle hat sich innerhalb eines Jahres fast verdoppelt – von 179 im Jahr 2024 auf bereits 309 bis Mitte Oktober 2025.

Was bedeuten protektionistische Maßnahmen konkret?
Zölle sind nur ein Teil davon. Dazu gehören auch Importquoten, neue Normen oder technische Standards. Insgesamt geht die Zahl solcher sonstigen Handelshemmnisse sogar leicht zurück. Aber die Importzölle steigen so massiv und so schnell, dass sich das insgesamt betroffene Handelsvolumen verdreifacht hat.

Bremst das auch den Welthandel insgesamt?
Ja. Das Wachstum des Welthandels dürfte 2025 nur noch bei zwei Prozent liegen – weit unter dem langjährigen Durchschnitt. Für 2026 und 2027 erwarten wir sogar nur 0,6 Prozent beziehungsweise 1,8 Prozent. Die Auswirkungen der Zölle zeigen sich immer mit Verzögerung.

Wie reagieren internationale Unternehmen auf diese Belastungen?
Grundsätzlich gibt es zwei Strategien: Erstens die Preise zu erhöhen, um Margen zu stabilisieren, jedoch mit dem Risiko sinkender Nachfrage. Zweitens, die Preise stabil zu halten, wobei Margen und Cashflows unter Druck geraten.

Wer trägt die Zölle am Ende tatsächlich? Haben Sie dazu ebenfalls Daten?
In den USA tragen nur bei rund 23 Prozent der Produkte die US-Importeure selbst die Zolllast. Bei den restlichen 77 Prozent zahlen ausländische Exporteure oder die US-Verbraucher. Und es gibt Unternehmen, die das sogar ausnutzen. Die Importpreise steigen oft weniger stark als die Endverbraucherpreise. Bei Möbeln sehen wir zum Beispiel eine Differenz von rund 1,2 Prozentpunkten bei den Importpreisen gegenüber 3,6 Prozent bei den Verbraucherpreisen – das zeigt höhere Margen.

Rechnen Sie damit, dass Präsident Donald Trump die Zölle angesichts einer abkühlenden Konsumnachfrage wieder senkt?
Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Der US-Präsident glaubt seit Jahren an Zölle. Das ist sein politisches Kernprojekt.

Wie entwickeln sich die Insolvenzen global in den kommenden Jahren?
Weltweit steigen die Unternehmensinsolvenzen 2025 um rund sechs Prozent – doppelt so stark wie erwartet. 2026 kommen wahrscheinlich weitere fünf Prozent hinzu. Erst 2027 rechnen wir mit einer leichten Entspannung. Die Auswirkungen der Zölle schlagen erst zeitversetzt voll durch, insbesondere ab 2026. Dann besteht ein höheres Risiko von Dominoeffekten.

Profitieren Sie als Kreditversicherer eigentlich von mehr Insolvenzen?
Nein. Mehr Insolvenzen bedeuten für uns mehr Schäden. Was wir uns wünschen, ist ein stärkeres Bewusstsein dafür, wie wichtig Kreditversicherung gerade in volatilen Zeiten ist – und wie sie dabei effektiv helfen kann, die gesamte Lieferkette zu schützen.

Herr Bogaerts, vielen Dank für das Gespräch.

Der gebürtige Niederländer lenkt seit 2021 die Geschäfte des weltweit größten Kreditversicherer Allianz Trade in der DACH-Region.

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Letzte Aktualisierung: 21. November 2025

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