Letzte Aktualisierung: 16. Januar 2024
Keine Angst vor strengerer Regulierung von Lebensmittelwerbung
Von Tim Dorlach
Wenn es um Prävention und Gesundheitsförderung geht, dann schließt Deutschland im internationalen Vergleich meist schlecht ab. Insbesondere für den Kinderschutz ist das ein großes politisches Versäumnis. Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP hatte zuletzt Hoffnung gemacht, dass sich dies zumindest in der Regulierung von Lebensmittelwerbung endlich ändern könnte, verspricht er doch ein Verbot von an „Kinder gerichtete[r] Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt“.
Seit der Vorlage eines ambitionierten Gesetzentwurfes durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) im Februar 2023 tobt eine Debatte darüber, wie streng Werbeeinschränkungen sein sollten und ob diese der Lebensmittel- und Medienindustrie schaden könnten. Ein Blick auf die Erfahrungen Chiles, welches in der Ernährungspolitik als weltweites Vorreiterland und Reallabor gilt, erlaubt es, diese Debatte zu versachlichen.
Chile als Vorreiter und Reallabor
In den 2010er-Jahren setzte die chilenische Regierung umfangreiche Maßnahmen zur Vermeidung ernährungsbedingter chronischer Krankheiten um. Neben verpflichtender Lebensmittelkennzeichnung und Verkaufseinschränkungen in Schulen wurden auch strenge Werbeeinschränkungen eingeführt. Zu diesen liegen mittlerweile belastbare Evaluierungsergebnisse vor. Sie sind für die aktuelle Debatte in Deutschland besonders relevant, weil sie Schlüsse darüber erlauben, welche Art von Werbeeinschränkungen besonders wirksam sind.
Chile hat die verschiedenen Regeln gestaffelt eingeführt: 2016 wurde in einer ersten Phase ein Zielgruppenverbot implementiert, durch das spezifisch an Kinder gerichtete Werbung verboten wurde. 2018 wurde in einer zweiten Phase ein zusätzliches zeitliches Verbot eingeführt, das jegliche Werbung für als ungesund definierte Lebensmittel zwischen 6 und 22 Uhr untersagte.
Zeitliche Verbote wirksamer als reine Zielgruppenverbote
Eine Evaluierung dieser gestaffelten Einführung zeigt, dass ein Zielgruppenverbot durchaus wirksam, ein zusätzliches zeitliches Verbot aber nochmal deutlich wirksamer ist. Nach der Einführung des Zielgruppenverbots ist die tatsächlich gemessene Belastung von Kindern durch Fernsehwerbung für ungesunde Lebensmittel im Kinderprogramm um zwei Drittel und im Gesamtprogramm um die Hälfte zurückgegangen. Nach der Einführung des zusätzlichen zeitlichen Verbots ist diese Belastung dann noch einmal um ungefähr zwei Drittel im Kinderprogramm und um die Hälfte im Gesamtprogramm zurückgegangen. Kinder schauen in der Realität eben auch viele Sendungen jenseits des Kinderfernsehens.
Es besteht wissenschaftlich kaum ein Zweifel daran, dass Werbeeinschränkungen Kinder wirksam vor Werbung für ungesunde Lebensmittel schützen und damit zu einer gesünderen Ernährungsweise beitragen. Wieso wird das geplante Gesetz trotzdem so stark torpediert? Hauptursache hierfür scheinen privatwirtschaftliche Ängste zu sein: Die Lebensmittelindustrie fürchtet, dass sie weniger ungesunde Lebensmittel verkaufen wird, wenn sie diese nicht mehr wie gewohnt bewerben kann. Die Medienindustrie hat Angst, dass ihr dadurch Werbeerlöse wegbrechen.
Keine wirtschaftlichen Schäden
Auch in Chile wurden verheerende wirtschaftliche Schäden prophezeit. Eine ökonomische Evaluation hat mittlerweile aber gezeigt, dass sich die Werbeeinschränkungen dort insgesamt nicht negativ auf die Beschäftigung oder die Löhne in der Lebensmittelindustrie ausgewirkt haben. Und das, obwohl die chilenischen Maßnahmen insgesamt viel umfangreicher sind als die in Deutschland derzeit diskutierten Werbeeinschränkungen. Eine weitere Studie deutet darauf hin, dass es auch keinen Rückgang im Gesamtwerbeaufkommen gab, sondern dass Werbung für ungesunde Lebensmittel mit solcher für gesündere Lebensmittel ersetzt wurde. Die Lebensmittelindustrie ist insgesamt also anpassungsfähig und wirtschaftliche Ängste scheinen unbegründet.
Dieser Blick auf die erwartbaren wirtschaftlichen Auswirkungen von Werbeeinschränkungen soll nicht implizieren, dass wirksamer Schutz von Kindergesundheit nicht auch wirtschaftliche Kosten rechtfertigen kann. Da es aber keine starke Evidenz gibt, dass Werbeeinschränkungen tatsächlich derartige Schäden für die Lebensmittel- und Medienindustrie bedeuten, wäre es besonders fahrlässig, das vom BMEL vorgelegte Gesetz zur strengeren Regulierung von Lebensmittelwerbung nicht umgehend zu verabschieden.
Prof. Dr. Tim Dorlach ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Juniorprofessor an der Universität Bayreuth zu Fragen der globalen Ernährungs- und Gesundheitspolitik.