Die verlorenen KI-Jahre: Tragik deutscher Forschungspolitik

Zunächst ein kurzer Blick zurück. Schon 2019 formulierte die Expertenkommission Forschung & Innovation (EFI) politisch korrekt die erste große Sünde staatlicher KI-Politik. Sie hätte sagen können, dass die relevanten KI-Trends fünf Jahre lang verschlafen wurden, aber der Bericht formuliert taktisch elegant: „Die Bundesregierung verharrte lange auf einer fast ausschließlichen Förderung von symbolischer KI. Sie engagierte sich erst sehr spät im Zuge der Ausschreibung der Kompetenzzentren für Maschinelles Lernen (ML-Kompetenzzentren) im Jahr 2017 für die seit 2012 stärker sichtbar gewordenen Ansätze der neuronalen KI.“  

Politik und alte KI in einem Bett: Die ersten fünf verlorenen Jahre 2012-2017

Der damalige Abteilungsleiter und spätere BMBF-Staatssekretär Wolf-Dieter Lukas hatte 2012 offenbar beschlossen, nur auf den alten Pfad zu setzen. Und zwar in trauter Einigkeit mit dem ehemaligen Papst symbolischer KI, Wolfgang Wahlster aus Saarbrücken. Wer die Pfadtheorie kennt, weiß, was es heißt, bei Wegzweigungen falsch abzubiegen und im Deadlock zu enden. 

Förderpolitik mit wenig Transfer kostet 2018-2023 weitere fünf verlorene Jahre 

Der Königsweg für den „kranken Mann Europas“ wäre eigentlich die schnelle Kommerzialisierung exzellenter KI-Forschung. Der Stanford KI-Report 2023 listet jedoch auf, dass Deutschland zwischen 2013 und 2022 gerade einmal 245 KI-Start-ups gegründet hat, Frankreich dagegen 338, Kanada 341, Israel 402 und Großbritannien 630. Selbst die zehnmal kleinere Schweiz brachte es auf 108 Start-ups. Noch schlimmer sieht es bei KI-Studiengängen aus. Im kleineren Großbritannien gibt es neunmal so viele KI-Studiengänge im Vergleich zu unseren 125 deutschen – und das mit halb so vielen Universitäten. Nur 15 Prozent davon sind hierzulande Bachelorstudiengänge, während Großbritannien und die USA rund die Hälfte für Bachelor anbieten.

Es mangelt nicht an Strategiepapieren, aber an guter Strategie und Umsetzung

Dem neuen KI-Facelift wie auch schon der alten KI-Strategie fehlt jegliche Wettbewerbspositionierung. Eine solide SWOT-Analyse als Grundlage einer strategischen Priorisierung von Hunderten interministerieller Projekte fehlt ebenso wie ein effizientes Projektmanagement für die betroffenen Ministerien zur strategischen Umsetzung. Die Einzelheiten sowie die skeptischen Kommentare des Branchenverbandes Bitkom, des KI-Bundesverbandes und vieler Gründer zum neuen KI-Aktionsplan sind bekannt. 

Übrigens: Von den fünf Milliarden Fördersumme der alten KI-Strategie ist bis Mai 2023 gerade mal ein Viertel abgeflossen, nämlich 1,28 Milliarden Euro. Mit dieser „Deutschland-Geschwindigkeit“ lässt sich leider kein Blumentopf gewinnen.

Innovating Innovation – Fünf Empfehlungen, um die Tragik staatlicher KI-Politik zu mildern: 

  • Nationaler wie internationaler Talent-Magnetismus durch ein attraktives und breites KI-Studiensystem und daraus resultierende KI-Gründerszenen: Die immer wieder nötige Incentivierung der Hochschulen für eine veränderte Studienstruktur muss als Konditionierung im jetzt dynamisierten Zukunftsvertrag Studium und Lehre erfolgen. Die massiven BMWK-Kürzungen bei Exist Potentiale sind Gift für forschungsbasierte Gründer-Ökosysteme. Hier kann eine dann wieder richtig konzipierte deutsche Agentur für Transfer und Innovation (Dati) ein kräftiges Stück kompensieren. Wichtig auch: eine „worry free IP policy“. Bei vielen KI-Start-ups gibt es inzwischen regelrechte Patent-Vermeidungsstrategien. Auf diesen drei Feldern liegen die wirklichen Stellschrauben der „Stärkung der KI-Fachkräftebasis“.   
  • Dies alles muss flankiert werden von forschungsintensiven Ökosystemen. Dass dies auch durch Public-private-Partnership möglich ist, zeigen die Beispiele Tübingen und Heilbronn. Die Schwarz-Stiftung des Lidl-Gründers baut im baden-württembergischen Heilbronn, neben dem von der Hector-Stiftung mit 100 Millionen Euro geförderten Ellis-Institut an der Universität Tübingen ein zweites KI-Ökosystem in Baden-Württemberg auf und integriert auch gleich die deutsche KI-Hoffnung, das Start-up Aleph Alpha. 
  • Die überwiegend Steuergeld-finanzierten KI-Kompetenzzentren, zu denen auch Tübingen gehört, müssen auf ihre Netzwerk- beziehungsweise Multiplikatorwirkung hin optimiert werden. Ich persönlich halte diese virtuellen Verbünde allemal für Notlösungen infolge der historisch hohen Dezentralität deutscher Forschungsstrukturen. Eigentlich wäre ’scientific concentration‘ das richtige. Wenn das schon nicht möglich ist, dann müssen die Kohäsionskräfte dieser bisher als Silos nebeneinander agierenden Zentren gestärkt werden. Forschungsnetzwerke müssen gelebt werden durch Makeathons für Jung- wie Seniorforscher, durch wechselseitige Hospitationen, durch Publikationen im Verbund, durch Karriereentwicklung auch im Netzwerk. 
  • Exzellenz zieht Exzellenz an. Förderung muss gnadenlos auf Exzellenz ausgerichtet sein. Schlecht-Performer wie das DFKI haben nichts darin zu suchen. Lieber neue Kompetenzzentren aufnehmen und die Mitgliedschaft immer wieder an harter Evaluierung ausrichten. Bis heute ist übrigens nicht öffentlich bekannt, ob das DFKI die letzte Evaluierung überstanden hat. Aus dem Zentrum selbst höre ich jubilierende Töne, aus dem Ministerium desaströse. Hier muss Klarheit her!
  • Infrastruktur: Momentan werden 73 Prozent der großen KI-Modelle in den USA und 15 Prozent in China entwickelt. Seit der ursprünglichen Konzeption der KI-Strategie der Bundesregierung im Jahr 2018 ist die KI-Entwicklung so rasant verlaufen, dass Deutschland immer mehr dabei hinterherhinkt, die notwendige Infrastruktur an Rechenleistung aufzubauen. Der vorgesehene Ausbau einer im internationalen Vergleich moderaten Supercomputing-Infrastruktur für Forschung wie für Wirtschaft wird nur möglich sein, wenn die Hunderte an heutigen Projekten schonungslos auf ihren Impact oder Irrelevanz hin priorisiert und gegebenenfalls beendet werden. Andernfalls fällt diese existenziell nötige Infrastruktur strategisch unpriorisierten Sparzwängen zum Opfer. 

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