Wenn es um Moral geht, wird es hierzulande immer besonders hitzig, häufig sogar bösartig. Bei der Debatte um Machtmissbrauch in der Wissenschaft geht es vielen der moralisch von sich überzeugten Diskutanten nicht um Wahrheitsfindung, sondern um Deutungshoheit. Und anstelle gemeinsam um Lösungen zu ringen, werden zuerst die Backpfeifen ausgeteilt und skandaliert.
Als Personalchef genauso wie als Führungskraft mit Personalverantwortung habe ich mich seit den Neunzigerjahren intensiv mit Machtmissbrauch, Mobbing und Diskriminierung beschäftigen müssen. Und zuvor habe ich mich ab und an selbst als Opfer solcher Verhaltensweisen erlebt. Hier einige der Lehren, die ich gezogen habe:
Missbrauch gibt es oben wie unten
Opfer wie Täter sind überall zu finden. Oft sind es Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen, die top down die Opfer von Machtmissbrauch werden. Nicht selten werden auch Führungskräfte Opfer von Mobbing – bottom up oder von ganz oben. Und je hierarchischer und geschlossener die sozialen Systeme sind, so wie eben in der Wissenschaft, umso brutaler, aber auch subtiler sind die Mechanismen. Martin Stratmann, bald Ex-Präsident der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) erklärte mir einmal den Druck, der bei der MPG herrscht, mit der Jagd nach Nobelpreisen, bei der wenige Tage entscheidend sein könnten. Welch heroischer Forschermythos zu Lasten der Geführten!
Auch die Beschäftigten an der Basis der Pyramide wissen ihre Machtmechanismen zu nutzen. Als ich bei der Deutschen Telekom als Pionierunternehmen 2010 die Frauenquote im Führungskörper initiierte, wurde bald die Kritik am Führungsstil weiblicher Führungskräfte lauter. Von „Haaren auf den Zähnen“ bis zum Gerede über weibliche Schikaniermethoden. Inzwischen belegen Studien, dass Beschäftigte mit Kritik von Chefinnen offensichtlich schlechter umgehen können, als mit der ihrer männlichen Counterparts. Es gibt also diskriminierende Stereotype gegenüber weiblichen Führungskräften. Das macht die Klärung von Missbrauch viel schwerer, weil die Wahrheit in einem Dschungel sich überlagernder Wahrheiten verborgen ist. Insofern ist die Aussage von Geraldine Rauch, der Präsidentin der TU Berlin, dass man sich von unten nach oben schwieriger wehren kann, natürlich genauso richtig wie falsch.
Zumindest für Max Planck gilt: Bei gerade mal 54 weiblichen und übermächtigen 250 männlichen Direktoren hat man als weibliche Direktorin fast eine Chance von acht Prozent, dass einem öffentlich Führungsfehlverhalten vorgeworfen wird, als Ausländer (Frau wie Mann) eine Wahrscheinlichkeit von fast vier Prozent und als deutscher weißer Mann bislang null Prozent. Dies gilt auf Basis der mir öffentlich bekannt gewordenen Fälle. Und sobald man öffentlich angeschuldigt ist, kann man sich bei anonymen Beschuldigungen kaum noch wehren.
Schlechten Organisationen fehlen Frühwarnsignale
In einer früheren Kolumne habe ich über die komplett fehlenden, überfälligen Governance- und Compliancestrukturen in Wissenschaftsorganisationen geschrieben, die dann mit Technicalities wie Meldekanälen, externen Anwaltskanzleien und Complianceschulungen angereichert werden. Dies hilft, wenn nur noch Reparatur möglich ist. Gute Unternehmen haben deshalb schon in den Neunzigerjahren damit begonnen, nicht nur regelmäßige Mitarbeiter-Befragungen und 360-Grad-Führungskräfte-Feedbacks durchzuführen, sondern diese auch auf Arbeitsgruppen von mindestens zehn Mitarbeitern herunterzubrechen. So können sich Teams persönlich und direkt mit ihrem Chef oder ihrer Chefin zum Feedback austauschen.
Ich selbst musste vor nicht allzu langer Zeit zu meinem Entsetzen feststellen, dass dies in einer großen Forschungsorganisation dem zuständigen Personalreferat verwehrt wurde. Und Fraunhofer ließ Mitarbeiterbefragungen viele Jahre ausfallen, nachdem eine Befragung für die Führungsspitze um Neugebauer verheerend ausgefallen war. Die Götter und Göttinnen im Wissenschaftssystem erlauben kein direktes Feedback. Dass dann weder an der Spitze noch in der Mitte der Führungspyramide nötige Verhaltensänderungen frühzeitig adressiert werden können, ist selbstredend.
Und dass Führungstrainings nicht hierarchieübergreifend zusammen mit Geführten oder als Teamentwicklung, also in der Organisationsfamilie stattfinden, ist in solchen Laissez-Faire-Führungskulturen ebenfalls gelebte Realität. Ebenso, dass sich die oberen und obersten Führungskräfte solchen Trainings entziehen. Damit nimmt man sich aber jede Chance, die Führungskultur frühzeitig so zu verändern, dass sie Regulativ für schwieriges Verhalten wird. Personal- und Kulturarbeit ist in vielen Wissenschaftsorganisationen methodisch wie in der Wertschätzung noch auf dem Stand der späten achtziger Jahre.
Das Personalreferat wird oft noch als disziplinarisch nachgeordneter Verwaltungsknecht angesehen und Führungsausbildung als ein Thema der Niederrangigen.
Innovating Innovation – it’s culture, stupid!
Wer wirklich etwas beherzt verändern will, dem lege ich zwei Themen ans Herz: Zum einen eine hochprofessionelle HR-Funktion inklusive deren Empowerment. Zum anderem muss jede Wissenschaftsorganisation die 5 Cs beherrschen: Conduct (Führungshaltung und Führungsvorbild), Culture (gemeinsame Spielregeln), Compliance (ethische Regeln, Vorschriften und Toolboxes), Competence (Führungsausbildung und Bildung für Achtsamkeit der Führung) und Control (funktionierende Governance- und Complianceorgane). Deren Umsetzung kann man übrigens durch Mitarbeiterbefragungen prüfen.