Krisenbewältigung: Die EU sollte auf Marktkräfte und Pragmatismus setzen  

Von Christoph M. Schmidt
Der Volkswirt Christoph M. Schmidt ist Präsident des RWI Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen und Vizepräsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech.

Die Welt steht heute vor vielfältigen Krisen und langfristigen Herausforderungen – allen voran der Klimawandel und die geopolitische Fragmentierung. Angesichts dessen braucht die EU ihre eigene, ehrgeizige und konsequente Strategie, um sich als Anker der liberalen Demokratie, als Motor materiellen Wohlstands und zugleich als Vorreiter des Übergangs zu globaler Nachhaltigkeit zu positionieren. 

Mit der Europäischen Innovationsagenda ist die Europäische Union einen wichtigen Schritt zur Verwirklichung dieser Ziele gegangen. Die Innovationsagenda baut richtigerweise auf die starke akademische und industrielle Basis Europas. Sie betont sowohl die Bedeutung förderlicher Bedingungen für unternehmerische Aktivitäten als auch gut ausgebildeter Fachkräfte als Innovationstreiber. 

Vorreiter und Ermöglicher der postfossilen Ära 

Dies ist umso wichtiger, weil Innovation nicht nur das Herzstück allgemeinen Wohlstandswachstums ist, sondern auch der Schlüssel einer Transformation hin zu globaler Nachhaltigkeit. Im Hinblick auf das drängendste Problem der Eindämmung des Klimawandels sind die europäischen Volkswirtschaften nur für begrenzte globale Klimagasemissionen verantwortlich und erreichen ökonomische Prosperität auf vergleichsweise emissionseffiziente Weise. Deshalb muss ein verantwortungsvoller europäischer Ansatz in der Klimapolitik zweigleisig sein:  

  • Erstens muss die EU die Defossilisierung ihrer Energiesysteme entschieden vorantreiben und dabei alle Arten von Akteuren und Aktivitäten in allen Regionen einbeziehen. Die Verwirklichung des Ziels europäischer Klimaneutralität bleibt unverzichtbar.  
  • Zweitens müssen europäische Unternehmen vorangehen in der Bereitstellung technischer Lösungen, die eine Verbindung von Defossilisierung mit Wohlstandswachstum ermöglichen. Nur wenn solche Technologien weltweit verfügbar werden, besteht Hoffnung auf globale Klimaneutralität, denn alle Nationen müssen an diesem Unterfangen freiwillig partizipieren.  

Technologischer Fortschritt ermöglicht, dass Defossilisierung und wirtschaftliche Entwicklung Hand in Hand gehen und dass die Volkswirtschaften des globalen Südens nicht trotz, sondern gerade wegen ihres Strebens nach weiterer wirtschaftlicher Entwicklung partizipieren. Europäische Unternehmen sollten danach streben, sich als Ermöglicher industriebasierten globales Wachstums der post-fossilen Ära zu etablieren. 

Eigene Stärken stärken 

Die EU ist gut beraten, sich auf ihre genuinen komparativen Vorteile zu konzentrieren: starke Industrieunternehmen, die in vielen Bereichen Grenzen des technisch Machbaren definieren, basierend auf einer Symbiose mit gut ausgebildeten Arbeitskräften und starken akademischen Institutionen.  

Vordringliche Aufgabe der EU ist dann, dieses Innovationspotenzial durch Vollendung des Binnenmarktes noch weiter zu entfalten und auf die Industriepolitik anderer Volkswirtschaften zu antworten, indem sie die besten Voraussetzungen für unternehmerischen Erfolg schafft: gut funktionierende Infrastrukturen, eine schlanke digitalisierte Verwaltung, hochqualifizierte Arbeitskräfte, attraktive Unternehmenssteuern und eine ebenso transparente wie diskriminierungsfreie Forschungs- und Innovationspolitik. 

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