Zuckerbrot und Peitsche: Vorschläge für eine Reform der EU-Fiskalregeln

Von Victor Warhem und Marc Uzan
Vorschläge für eine Reform der EU-Fiskalregeln: Victor Warhem ist Referent und Marc Uzan Direktor des Centre de Politique Européenne (cep) in Paris.
Victor Warhem ist Referent und Marc Uzan Direktor des Centre de Politique Européenne (cep) in Paris.

Viele Stimmen innerhalb und außerhalb der Europäischen Union fordern eine Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU. So plädiert etwa der Europäische Fiskalausschuss (EFB) für eine Änderung der EU-Fiskalregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP), die als zu komplex eingeschätzt werden und als zu wenig an die nationalen Gegebenheiten angepasst. Auch der IWF, die Weltbank und die Europäische Zentralbank sind der Ansicht, dass der Rahmen des SWP erneut überarbeitet werden muss.

In diesem Zusammenhang hat die Europäische Kommission am 19. Oktober 2021 ihre Konsultation zur Überprüfung der wirtschaftspolitischen Steuerung erneut eingeleitet. Das Ziel ist, eine angepasste Antwort sowohl auf die strukturellen Herausforderungen zu geben, die bereits vor der Krise bestanden (alternde Bevölkerung, Arbeitskräftemangel, digitale Transformation, Klimawandel), als auch auf die Folgen der Krise (verstärkte makroökonomische und finanzpolitische Divergenzen in der EU).

EU-Fiskalregeln komplex und wenig wirkungsvoll

Eine Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU ist in der Tat notwendig, da die Haushaltsregeln veraltet sind und sich das makroökonomische Umfeld dramatisch verändert hat.

Erstens sind die derzeitigen EU-Fiskalregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts komplex und wenig wirkungsvoll. Sie haben es nicht ermöglicht, die Schuldenquote auf EU-Ebene zu senken, obwohl im vergangenen Jahrzehnt nationale Strukturreformen durchgeführt wurden. Außerdem verstärken sie die finanzpolitischen Divergenzen.

Wenn das Pandemie-Notkaufprogramm im Jahr 2022 ausläuft, könnte das erhöhte Risiko einer Zahlungsunfähigkeit einen neuen Eingriff der EZB in die Märkte auslösen, um die Spreads zu kontrollieren. Dadurch wäre kurz- und mittelfristig ein inflationärer Effekt zu erwarten. Zudem ist das Niveau der öffentlichen Investitionen seit vielen Jahren aufgrund fiskalischer Zwänge rückläufig, was das Wachstum und die wirtschaftliche Souveränität in der EU infrage stellt.

Ist es angesichts dieser heiklen Situation möglich, den Schuldenstand im Verhältnis zum BIP zu senken und gleichzeitig das Wirtschaftswachstum zu steigern? Wahrscheinlich ja, indem man eine Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategie verfolgt.

Die Peitsche: Durchsetzbare EU-Fiskalregeln

Um ein ernst gemeintes Programm zum Abbau der Schuldenquote auf den Weg zu bringen, müssen erstens finanzpolitische Regeln eingehalten werden. Die Idee, sich nur auf Ex-post-Standards zu verlassen, wie sie von Blanchard, Leandro und Zettelmeyer propagiert werden, ist nicht angemessen. Gemeinsame Regeln gewährleisten Fairness zwischen den Mitgliedstaaten.

Selbst wenn die Mitgliedstaaten die EU-Fiskalregeln des Stabilitätsund Wachstumspakts nicht immer einhalten: Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass solche Regeln zu einer Verringerung der Schuldenquote und zu mehr fiskalischer Nachhaltigkeit führen. Die disziplinierende Wirkung des Marktes hingegen hat sich als zu unberechenbar und unbeständig erwiesen, um die Staaten bei der Haushaltsdisziplin zu unterstützen.

Die Haushaltsregeln sollten einfacher ausgestaltet sein als die derzeitigen. Sie sollten sich auf das Potenzialwachstum als vorausschauendes Element zur Berechnung der nationalen Ausgabenobergrenzen stützen. Das könnte auf einer mehrjährigen Basis erfolgen, um mehr finanzpolitische Vorhersehbarkeit, Durchsetzbarkeit und Glaubwürdigkeit zu gewährleisten – und damit ein Signal der mittelfristigen Haushaltsdisziplin an die Märkte zu senden.

Außerdem sollte die Bewertung der Haushaltslage und der Ausweichklauseln einem Netz unabhängiger nationaler Finanzbehörden übertragen werden, das von einer Aufsicht auf europäischer Ebene koordiniert wird.

Das Zuckerbrot: Eine zentrale Investitionskapazität

Die politischen Entscheidungsträger sollten sich auf das Zuckerbrot konzentrieren: ein dauerhaftes fiskalisches Instrument, vorzugsweise eine zentrale fiskalische Kapazität, die der EU helfen würde, bis 2050 den Übergang zur CO2-Neutralität zu vollziehen. Diese öffentlichen Mittel könnten private Investitionen ankurbeln, wie das Aufbauprogramm Next Generation EU oder zuvor der Juncker-Plan. Über die daran geknüpften Bedingungen würden sie den Mitgliedstaaten Anreize für Strukturreformen bieten.

Eine zentrale Fiskalkapazität sollte jedoch nicht so groß sein, dass sie zu einem Steuerföderalismus wie in den USA oder der Schweiz führt. Ein „Hamilton-Moment“, in dem alle EU-Mitgliedstaaten beschließen, ihre Schulden und fiskalischen Ressourcen zu vereinen, ist noch in weiter Ferne und nicht einmal wünschenswert, solange die Präferenzen von Land zu Land sehr unterschiedlich bleiben.

Zwischen einem solchen Fiskalföderalismus und der unvollständigen Wirtschafts- und Währungsunion lässt sich eine funktionale Lösung finden. Die vor uns liegenden Herausforderungen, beginnend mit dem Klimawandel, sind die Gelegenheit, diese neue Struktur für die Bereitstellung von mehr öffentlichen Gütern in der EU aufzubauen.

Daher sollte eine umfassende Reform Folgendes kombinieren:

(a) eine Vereinfachung des SWP, bei der das Tempo des Abbaus der Schuldenquote auf die Mitgliedsstaaten angepasst und das wichtigste mittelfristige Ziel durch eine Ausgabenregel festgelegt wird, während allgemeine Ausweichklauseln von unabhängigen Finanzbehörden geprüft werden.

(b) eine nicht umverteilende, von den Mitgliedstaaten und den Schulden finanzierte zentrale Investitionskapazität, die vom EFB als „längst überfällig“ eingestuft wird, um die EU beim Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft zu unterstützen.

Zeitplan der Reform

Jüngste Erklärungen von Bundesfinanzminister Christian Lindner und seines französischen Kollegen Bruno Le Maire deuten darauf hin, dass die Mitgliedstaaten bereit sind zu einer Reform des SWP, die sich auf das Tempo des Schuldenabbaus im Verhältnis zum BIP konzentriert, was ein erster Schritt zur Vermeidung einer zu starken Austeritätspolitik wäre. Dennoch gibt es weder eine offizielle Erklärung über die Fortführung der NGEU-Fazilität noch über den Aufbau eines völlig neuen Instruments, das ausschließlich auf den ökologischen Übergang ausgerichtet ist.

Die Diskussionen über die wirtschaftspolitische Steuerung wird während des Gipfels am 10. und 11. März stattfinden, wobei ein offizieller Vorschlag der Kommission im Juni 2022 für eine Umsetzung im Jahr 2024 erwartet wird. Dieser Prozess wird zeigen, ob eine umfassende Reform politisch durchsetzbar ist.

In der Zeit nach der Coronavirus-Pandemie und mit mehreren neuen reformorientierten Regierungen besteht die Chance, dass sich die Ansichten annähern. In diesem Klima scheint die Annahme einer Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategie plausibler denn je.

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