
Nicht nur in puncto Verteidigung, sondern auch im Bereich Energie und Resilienz bietet ein einheitlicher Binnenmarkt das Verbesserungspotenzial, das wir heute brauchen. Und der Vertrag sieht es ausdrücklich vor in Artikel 194 AEUV. Die Europäische Union muss deshalb jetzt in folgenden vier Bereichen dringend handeln:
Energiebinnenmarkt
Die mit dem Einmarsch in die Ukraine wieder deutlich gewordene Abhängigkeit von russischem Erdgas – 75 Prozent des Bezugs von leitungsgebundenem Gas wird von EU-Staaten abgenommen – hat allen vor Augen geführt, dass der Europäische Energiebinnenmarkt integrativer gedacht und besser ausgestaltet werden muss. Nicht nur der sogenannte „Taxonomie“-Vorschlag der EU-Kommission, mit dem die Bonität von Energiearten unter finanzmarktrechtlichen Überlegungen bewertet werden soll, sondern auch die anderen Vorschläge des „Green Deal“ gehen bereits wichtige Schritte in die richtige Richtung.
Deswegen ist jetzt der Moment gekommen, wo ein einheitlicher Energiebinnenmarkt geschaffen werden muss. Primärenergie und Elektrizität müssen mit starken und resilienten Netzen grenzüberschreitend europaweit zur Verfügung gestellt werden. Es bedarf einer Vertiefung der europäischen Energieinfrastruktur, um das System flexibel zu machen. Mit grenzüberschreitenden Verbindungen bilden wir ein europäisches Verbundnetz, in dem Strom über Landesgrenzen hinweg einfacher, effizienter und günstiger übertragen werden kann. Nur so kann Europa im 21. Jahrhundert seine Energieversorgung sicher, nachhaltig und bezahlbar vorhalten.
Gemeinsame Verteidigung
Schon vor Jahren hat das Europäische Parlament innerhalb des Forschungsrahmenprogramms mehr Mittel für die Verteidigungsforschung bereitgestellt. Damit ist das Parlament der Grundidee von Art. 296 AEUV gefolgt, der schon heute eine europaweite Ausschreibung von Verteidigungsgütern vorsieht. Leider haben die Mitgliedstaaten in den vergangenen Jahren vor allem nationale Interessen vorangestellt. Auch die deutsche Idee, das israelische Raketenabwehrsystem jetzt mit dem Sondervermögen nur für Deutschland anzuschaffen, zeugt von einer großen Naivität: Denn wie soll sich Deutschland verteidigen, wenn unsere Nachbarstaaten nicht auch sicher sind?
Wir brauchen also auch ein europäisches Kampfflugzeug, einen europäischen Panzer und eine europäische Drohne. Dafür müssen jetzt die richtigen Entscheidungen vorbereitet werden. Europa ist nur sicher, wenn alle sicher sind! Auch wenn es auf dem Weg zu einer Europäischen Armee noch weit ist, können zumindest bei der Ausrüstung endlich gemeinsame Projekte den Weg weisen!
Abgabe für Digitalgiganten
Nach dem Abschluss der wettbewerbsrechtlichen Regeln im Gesetz über digitale Märkte, wodurch endlich die Durchsetzung der europäischen Regeln schneller angewendet werden können, kommt jetzt das Gesetz über digitale Dienste. Dadurch sollen künftig nur noch legale Inhalte auf den großen Internetplattformen verfügbar sein. Dass es daran bis heute Zweifel gibt, ist ein Armutszeugnis – zumal es sich bei den Betroffenen um die größten Unternehmen der Welt handelt. Angesichts des Aufwandes, den die Behörden – und im Falle der sogenannten „very large online platforms“ (VLOPs): der Europäischen Kommission – mit der Aufsicht dieser Unternehmen haben, ist es keinesfalls unverhältnismäßig, dafür eine Verwaltungsgebühr zu verlangen. Denn: Wer den Binnenmarkt nutzen will, muss sich auch an der Einhaltung der Regeln beteiligen.
Resilienz im Binnenmarkt
Europas innerer Zusammenhalt zeigt sich nirgendwo besser als an den ehemaligen Grenzen der Mitgliedstaaten. Diese Grenzen sind weitgehend aus dem Alltag verschwunden, aber sie sind noch immer organisatorische Barrieren in Situationen, wo bessere Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine ist ein Beispiel, das zeigt, dass guter Wille allein noch kein Konzept ist. Flüchtlinge, die aus der Ukraine kommen, benötigen einen unkomplizierten Bargeldwechsel von Hrywnia in Euro, auch müsste die digitale Selbstregistrierung der Ankommenden möglich gemacht werden. Aber auch die Covid-Krise hat gezeigt, dass die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Gesundheitsfragen noch nicht auf der Höhe der Zeit ist.
Eine vorausschauende Nutzung der Ressourcen der Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten, eine abgestimmte Quarantänepolitik über Landesgrenzen hinweg, die Offenhaltung der Transportwege für medizinisches Material und Lebensmittel, aber auch für Krankenschwestern, OP-Ärzte und Servicetechniker ist in dieser Krise nicht so gelungen wie die Bürger das von der Europäischen Union erwarten dürfen. Deswegen muss die Europäische Kommission im Sommer mit dem sogenannten „Single Market Emergency Instrument“ einen ambitionierten Vorschlag vorlegen, der die Interessen der Bürger in den Grenzregionen in den Mittelpunkt stellt.
Aufnahme der Ukraine in die EU
Der Angriff auf die Ukraine hat eine große Solidarität der EU-Staaten gezeigt. Ob die Ukraine bald oder erst mittelfristig in die Europäische Union aufgenommen werden wird, hängt vor allem von den Mitgliedstaaten ab. Klar ist aber schon jetzt, dass die EU ihre Hausaufgaben machen muss, wenn sie mit den heutigen Herausforderungen erfolgreich umgehen will.