
Das US-Energieministerium kündigte am vergangenen Dienstag an, dass die erste Kernfusion mit positiver Energie mithilfe der Trägheits-Fusionstechnologie in Kalifornien durchgeführt wurde. Die National Ignition Facility (NIF) in Kalifornien hat dafür Wasserstoffplasma mit Hochleistungslasern beschossen. Es ist ein historisches Ereignis, denn bislang hat die Fusion immer mehr Energie benötigt als sie erzeugt hat.
2021 hatte das US-Startup Commonwealth Fusion Systems (CFS), mit einer anderen Technologie – Tokamak genannt – die größte private Finanzierungsrunde, die jemals in die Kernfusion getätigt wurde, aufgebracht: 1,8 Milliarden US-Dollar. CFS wurde erst vor vier Jahren gegründet und strebt an, bis 2025 die weltweit erste Fusionsanlage mit positiver Nettoenergie zu liefern.
Zum Vergleich: Das ITER-Projekt, ein internationales Konsortium mit Sitz in Südfrankreich, wurde 2007 mit einem Budget gestartet, das sich seither vervierfacht hat (von fünf auf 20 Milliarden Euro). Es wurde ein Jahrzehnt früher als die CFS gegründet und hat nun eine Verzögerung von fünf Jahren und zusätzliche Kosten von einer Milliarde Euro angekündigt. Die erste Plasmaproduktion ist erst für 2030 geplant. ITER strebt ein ausgeglichenes Verhältnis von erzeugter zu verbrauchter Energie an, während NIF und CFS einen Faktor von zwei oder sogar mehr anstreben.
Europas Ambitionen sind zu gering
Aus dem Vergleich dieser Projekte lassen sich drei Erkenntnisse gewinnen, wie wir unsere Forschung und unsere öffentlichen Investitionen organisieren müssen: Agilität ist der Schlüssel, um die neuesten technologischen Entwicklungen aufzugreifen. Wir dürfen uns auf keinen Fall in zu starren Plänen einschließen und müssen eine große Porosität zwischen der akademischen Welt und der Welt der Unternehmen zulassen. Und schließlich muss man in der Kernenergie wie anderswo auch immer die nächste Technologiegeneration anstreben.
CFS hat es geschafft, das Beste aus den neuesten Technologien herauszuholen. Insbesondere durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz und Deep Learning hat CFS es geschafft, ein extrem komplexes, heißes Plasma zu erhalten. Das Team in Boston konnte seine Forschung mithilfe von digitalen Zwillingen (digital twins) für seine Simulationen wesentlich schneller vorantreiben. Sie gingen technologische Wagnisse ein, indem sie neue Architekturen und Materialien einsetzten, zum Beispiel Hochtemperatur-Supraleiter. So gelang es, ein 20 Teslas starkes Magnetfeld zu erzeugen; das stärkste, das jemals auf der Erde entstanden ist. ITER dagegen setzt auf Niedrigtemperatur-Supraleiter.
Europa braucht Sprunginnovationen
Wir müssen unbedingt auf Sprunginnovation setzen, um Schlüsselprobleme zu lösen. Vor allem, da wir über die Zukunft der Kernenergie nachdenken und viele Milliarden an öffentlichen Geldern in EPR-Kraftwerke stecken, die man in Großbritannien, Frankreich und Finnland zurzeit vergeblich versucht zum Laufen zu bringen. Im Fall der Kernenergie sind die Schlüsselprobleme unsere Abhängigkeit von russischem Uran, das Risiko eines radioaktiven Unfalls und die Lagerung von Atommüll.
Die Kernfusion arbeitet mit anderen Brennstoffen als Uran; zum Beispiel Deuterium, ein Wasserstoffisotop, das in Wasser vorkommt und daher unerschöpflich ist. Dies erzeugt radioaktive Produkte, die weniger langlebig sind als der fast ewige Endmüll aus heutigen Kraftwerken. Vor allem handelt es sich nicht um eine „kontrollierte“ Kettenreaktion, die nicht immer so kontrollierbar ist, wie in Tschernobyl oder Fukushima zu sehen war, sondern um einen instabilen Vorgang, der bei einer Anomalie zum Stillstand kommt. Diese Eigenschaften könnten die Versöhnung Deutschlands mit der Kernenergie unterzeichnen.
Rückstand Europas ist ein Skandal
Der US-Durchbruch ist ein großer Schritt für die Menschheit und ein kleiner Schritt (rückwärts) für unseren Kontinent. Der Rückstand Europas bei der Kernfusion ist ein Skandal und eine echte Schande, obwohl Frankreich lange Zeit eine Vorreiterrolle gespielt hat. Die USA holen auf.
NIF und CFS zeigen, dass sie in der Lage sind, das Beste aus ihrem Ökosystem zu mobilisieren: Universitäten, private Investoren und öffentliche Behörden. Gemeinsam konzentrieren sich diese auf die wesentliche, aber punktuelle Finanzierung bahnbrechender Innovationen mit klaren Zielvorgaben, anstatt „klassische“ Industriepolitik zu betreiben, mit bürokratischen Instrumente wie IPCEIs oder massiven Subventionen.
Nicht dieselben Fehler wie in der Energiekrise
Während sich die europäischen Entscheidungsträger noch über die „grüne Taxonomie“ streiten und, ob Kernenergie sauber ist, arbeiteten US-amerikanische Akteure daran, die Energie grüner zu machen. Wir haben bereits vor einem Jahr vor diesen neuen potenziellen technologischen Durchbrüchen aus den USA gewarnt. Aber sowohl die EU-Kommission als auch nationale Regierungen haben sich nicht von den bestehenden Energie-Akteuren oder Verwaltungen abbringen lassen. Sie schaffen es einfach nicht, schnell und ohne die bürokratische Kontrolle von IPCEIs und Horizon-Europe-Programmen zu Durchbrüchen zu kommen. Das Resultat: Zu viele Geldjäger und nicht die besten Teams.
Während Europa in einer Energiekrise steckt und der Krieg in der Ukraine ein bequemes Alibi ist, den Mangel an strategischer Antizipation zu verschleiern, begehen wir denselben Fehler mit der Kernfusion. Dabei sollte sie gerade aus diesem Grund ein absolut prioritärer Bereich sein.
Wieder einmal sind wir in Europa dabei, den Zug des technologischen Fortschritts zu verpassen. Es ist Zeit, Rechenschaft zu fordern, richtigen Impact bei Forschung und Entwicklung zu erzielen und die bürokratischen Monster, die wir geschaffen haben, radikal zu verändern. Sonst wird die europäische Dämmerung eine Realität.