
Eine der markantesten Botschaften des neuen Koalitionsvertrags bezieht sich auf die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union. Die Ampelparteien fordern die EU-Kommission nicht nur auf, „die bestehenden Instrumente der Rechtsstaatlichkeit konsequenter und zeitnah zu nutzen“. Sie sagen auch, dass Berlin nur dann bereit ist, Gelder aus dem Konjunkturprogramm für Länder wie Ungarn und Polen freizugeben, „wenn Vorbedingungen wie eine unabhängige Justiz erfüllt sind“.
Diese Formulierung spiegelt die Erklärung des niederländischen Premiers Mark Rutte von Ende Oktober wider. In dieser hatte Rutte erklärt, er könne sich nicht vorstellen, dass die Gelder für diese Länder ausgezahlt werden, solange der Streit über die Rechtsstaatlichkeit andauere. Sein belgischer Amtskollege Alexander De Croo äußerte sich noch deutlicher: „Dies ist ein grundlegendes Problem, das politisch gelöst werden muss, und zwar durch den Europäischen Rat und das Europäische Parlament“, sagte er in einer Rede, die Warschau so schockierte, dass der belgische Botschafter vom polnischen Außenministerium vorgeladen wurde.
Es besteht kein Zweifel, dass in der europäischen Debatte über die grundlegenden Normen und Werte der EU ein neuer Ton herrscht. Bis vor kurzem war der Kampf um die Rechtsstaatlichkeit ausschließlich Sache der supranationalen Institutionen – der Kommission, des EU-Gerichtshofs und des Europäischen Parlaments. Die EU-Mitgliedstaaten übertrugen ihnen gerne die undankbare Aufgabe, die schwarzen Schafe der EU in die Schranken zu weisen. Angela Merkel war maßgeblich daran beteiligt, zu betonen, dass die Rechtsstaatlichkeit eine europäische Angelegenheit sei und sich daher die EU-Institutionen darum kümmern sollten – als ob die Mitgliedstaaten nicht die wahren Herren der EU-Verträge wären.
Hinter den Kulissen trat Deutschland auf die Bremse, in der Überzeugung, dass eine Eskalation des Konflikts die EU zerreißen würde. Diese Entpolitisierung der Fragen der Rechtsstaatlichkeit, die stattdessen an technokratische und juristische Gremien delegiert wurden, führte dazu, dass diese Gremien ihre Instrumente und Befugnisse ausweiteten.
Aufstieg des Neo-Autoritarismus
Die Kommission griff auf Vertragsverletzungsverfahren zurück, die normalerweise dazu dienen, die Einhaltung langweiliger sektoraler Vorschriften sicherzustellen, um unabhängige Gerichte und damit die Grundlagen der demokratischen Ordnung zu verteidigen. Der EuGH griff mit Urteilen ein, die die Demontage einiger Grundpfeiler des polnischen Justizsystems verlangten – noch vor wenigen Jahren ein undenkbarer Schritt, selbst für diejenigen, die die angebliche Machtübernahme durch das Gericht am kritischsten sehen.
Während sich die europäischen Politiker zurückhielten, war eine stille institutionelle Revolution im Gange. Natürlich kritisierten prinzipientreue Verfechter der Demokratie den mangelnden Enthusiasmus und die Langsamkeit, mit der sich die EU-Kommission der Herausforderung der Rechtsstaatlichkeit stellte. Doch der Glaube, dass Technokraten und Richter das größte politische Problem unserer Zeit, den Aufstieg des Neo-Autoritarismus in der Mitte Europas, lösen könnten, während demokratisch gewählte Politiker gute Polizisten spielen würden, war vielleicht immer nur eine gefährliche Illusion.
In der Tat hat sich die Krise nur verschärft. Die polnische Regierung hat die Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz ausgehebelt, dem Justizminister die volle Kontrolle über das Disziplinarsystem der Richter übertragen und verfolgt diejenigen, die gegen diese autokratische Machtübernahme protestieren. Eine Gegenreaktion gegen die Vorherrschaft des EU-Rechts breitet sich auf dem ganzen Kontinent aus. In Frankreich verweisen die meisten Rivalen von Emmanuel Macron auf das polnische Beispiel als Wegweiser.
Der Zusammenbruch der unabhängigen Justiz in einem EU-Mitgliedstaat ist der schwerste Schlag für die Rechtsordnung der EU. Die Ablehnung der Autorität des EuGH würde dessen Zusammenbruch perfekt machen.
Kein Wunder, dass ihre Politik der Rechtsstaatlichkeit den Staats- und Regierungschefs der EU nun auf die Füße fällt. Langsam wird ihnen klar, dass ihre Strategie des Abwartens bedeuten könnte, an dem Ast zu sägen, auf dem sie sitzen. Es war diese Strategie, die die Krise so weit anschwellen ließ, dass sie nun ohne ein riskantes politisches Engagement nicht eingedämmt werden kann.
Zeit der Abrechnung gekommen
Die Zeit der Abrechnung ist gekommen. Eher früher als später werden die EU-Mitgliedstaaten entscheiden müssen, ob sie finanzielle Druckmittel gegen Länder einsetzen wollen, die sich falsch verhalten. Viele glauben, dass eine offene Konfrontation die EU zerstören würde. Emmanuel Macron fürchtet, dass die polnische Regierung die französische EU-Ratspräsidentschaft kurz vor den Präsidentschaftswahlen ruinieren könnte.
Die Deutschen neigen dazu, sich hinter ihrer schrecklichen Vergangenheit zu verstecken, um eine Entschuldigung für ein sanftes Vorgehen zu haben. Andere fürchten, dass es zu neuen Austritten aus der EU kommen könnte als Reaktion auf ein zu starkes Beharren auf dem, was das europäische Projekt eigentlich ausmacht. Oder sie glauben, dass ein zu großes Mitspracherecht des EU-Gerichtshofs gegenüber den nationalen Richtern das institutionelle Gleichgewicht der Macht zerstören und den Weg für eine heimliche Föderalisierung ebnen würde.
Dies mögen alles edle Einwände sein. Doch ihre Befürworter sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Auf dem Spiel steht nicht zuletzt die Frage, ob die EU ein Block von Demokratien bleibt oder zu einer Vereinigung ohne gemeinsames Schicksal erodiert. Die Abschaffung der Gewaltenteilung ebnet den Weg für Autoritarismus.
Die EU hat sich immer als Gentlemen’s Club verstanden, für den die Einhaltung der internen Regeln selbstverständlich ist. Doch dieses Bild ist überholt. Die demokratischen Führer Europas haben keine andere Wahl, als sich ihnen politisch zu stellen.
Vor allem sollten sie die Schlüsselrolle des EuGH als letzte Instanz für die Rechtsstaatlichkeit nachdrücklich unterstützen und verteidigen. Diese Krise hat uns – auch wegen der mangelnden Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten, sich auf politische Auseinandersetzungen einzulassen – vor Augen geführt, dass es keinen besseren Weg gibt, die Grundlagen der EU zu schützen.
Die Angst vor einer Eskalation eines Konflikts ist verständlich. Aber wenn die EU eine politische Familie ist, dann muss sie endlich akzeptieren, dass auch große Auseinandersetzungen sehr oft eine reinigende Wirkung haben. Die EU braucht das mehr denn je.
Der Text ist Teil einer Kooperation zwischen Europe.Table und dem Annual Council Meeting des ECFR, das am 9. und 10. Dezember stattfindet.