Das existenzielle Dilemma der EZB

von Jürgen Stark, Thomas Mayer und Gunther Schnabl

Unser Papiergeldsystem erfordert einen institutionellen Anker, der glaubwürdig und entschlossen ein stabiles Preisniveau und langfristiges Vertrauen in den Euro sicherstellt. Glaubwürdigkeit ist der wichtigste Aktivposten einer Notenbank, weil sie das Vertrauen in die Kaufkraft einer Währung garantiert. Und Glaubwürdigkeit ihrerseits beruht auf der Unabhängigkeit der Notenbank von politischer Einflussnahme und ihrem Bekenntnis zur Währungsstabilität.

So betrachtet befindet sich die Europäische Zentralbank seit mehreren Jahren in gefährlichen Gewässern. Sie hat ihre politische Unabhängigkeit gefährdet und ihre primäre Zielvorgabe kompromittiert. Maßnahmen, die eindeutig dazu dienen, politischen Druck zu antizipieren, lassen keinen Zweifel, dass sie die Grenzen ihres Mandats überschritten hat.

Zum Beispiel beteiligte sich die EZB während der europäischen Staatsschuldenkrise, die Ende 2009 einsetzte, aktiv an der Umstrukturierung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Mit ihrem Programm für die Wertpapiermärkte gab sie wichtige geldpolitische Grundsätze auf, darunter das Verbot einer monetären Finanzierung staatlicher Schulden und die Vorgabe einer einheitlichen Geldpolitik für die Eurozone. Die EZB übernahm zudem eine führende Rolle bei der Rettung von durch die Krise hart getroffenen EU-Mitgliedstaaten, obwohl dies in die Verantwortung der jeweiligen nationalen Regierungen fiel. Die Grenzen zwischen Geld- und Fiskalpolitik wurden so vorsätzlich verwischt, was zu einer engen Abstimmung zwischen beiden führte.

Mit der einseitigen Zusage des damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi, zu tun, was immer erforderlich sei, um den Euro zu retten, hat sich die EZB selbst zum Kreditgeber letzter Instanz für die Eurozone gemacht. Der Versuch, diese Rolle im Rahmen des EZB-Programms der „Outright Monetary Transactions“ mit Auflagen zu verknüpfen, scheiterte. Tatsächlich wurde das Programm nie aktiviert, und inzwischen wurde es durch das Asset Purchase Programme (Kaufprogramm für Vermögenswerte; APP) und das Pandemic Emergency Purchase Programme (Pandemie-Notfallankaufprogramm; PEPP) ersetzt.

EZB verursache Anreize für höhere Schulden

Durch den Ankauf von Staatsanleihen hat die EZB grundlegende Verwerfungen auf den Rentenmärkten hervorgerufen. Sie argumentiert, dass sie versuche, eine Zersplitterung des Marktes zu verhindern. Nun jedoch, da sich die Risikoaufschläge eingependelt haben und für alle Mitgliedstaaten der Eurozone ein Marktzugang zu günstigen Bedingungen sichergestellt wurde, haben die Regierungen einen Anreiz, ihre schon jetzt exorbitant hohen Schuldenstände weiter zu erhöhen. Hochverschuldete Staaten wie Italien und Frankreich werden sich voraussichtlich zeitlich unbegrenzt auf diesen Sicherheitsmechanismus verlassen.

Noch schlimmer ist, dass sich die Grenzen der Verträge und Statuten der EU überschreitenden Aktivitäten der EZB während der Präsidentschaft von Christine Lagarde intensiviert haben. Die EZB hat sich unter Berufung auf „sekundäre Ziele“ verpflichtet, die „grüne Transformation“ zu unterstützen. Sie will zu einer Verbesserung der Finanzierungsbedingungen „grüner“ Projekte beitragen und sicherstellen, dass die Sicherheiten und Anleihen, die sie akzeptiert, ökologisch „nachhaltig“ sind.

EZB-Vertreter tun die Inflation als vorübergehend ab

Bis 2021 löste die zunehmende Politisierung der EZB keine größeren Konflikte über ihr Kernmandat aus: die Gewährleistung von Preisstabilität. Doch angesichts des deutlicher werdenden Anstiegs der Inflation hat sich die Lage geändert. Zwar tun führende EZB-Vertreter die heutige Inflation noch immer als vorübergehend ab. Und niemand bestreitet, dass einige Faktoren, die die Inflation beeinflussen, vorübergehender Art sind. Das Problem ist, dass andere Faktoren länger als prognostiziert fortbestehen könnten.

Es wird daher zunehmend klar, dass die Inflation ohne geldpolitische Gegenmaßnahmen an Schwung gewinnen wird, was das Ende der Ära der Preisstabilität einläuten wird. Das bringt die EZB in eine schwierige Lage, weil sie dadurch zeitgleich mit mehreren akuten, von ihr selbst verursachten Problemen konfrontiert wird.

Erstens hat die monetäre Finanzierung neuer staatlicher Schulden einen Geldüberhang geschaffen, und nun stehen einer robusten Nachfrage die durch die Coronavirus-Pandemie verursachten Beschränkungen beim Angebot entgegen. Das Ergebnis sind höhere Preise, die durch anschließende Lohnerhöhungen endemisch werden dürften. Die EZB muss das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale ernst nehmen, auch wenn es derzeit kaum Hinweise darauf gibt, dass es dazu kommt.

Geldpolitische Kehrtwende für mehr Preisstabilität

Zweitens wird immer deutlicher, dass die „grüne Transformation“ ohne steile Zunahme der Inflation nicht möglich sein wird. Im Idealfall sollten sich fossile Brennstoffe im gleichen Umfang verteuern, wie sich Erneuerbare Energien durch Ausbau der betreffenden Kapazitäten und Infrastruktur verbilligen. Die Änderung der relativen Preise sollte die Nachfragestruktur ändern, während das Preisniveau insgesamt stabil bleibt. Tatsächlich aber sind die Produktionskapazitäten für umweltschädliche Energien schneller gefallen, als neue Kapazitäten für umweltfreundliche Energien geschaffen werden konnten. Infolgedessen sind die Preise für fossile Brennstoffe gestiegen, ohne dass die Preise für erneuerbare Energien zum Ausgleich fallen.

Aufgrund des offen zur Schau gestellten Aktivismus der EZB und ihrer erwiesenen Bereitschaft zur Koordinierung der Geld-, Wirtschafts-, Finanz- und Klimapolitik steht sie nun vor einer ernsten Zwickmühle. Weil ihr Kernmandat darin besteht, für Preisstabilität zu sorgen, muss sie auf eine geldpolitische Kehrtwende vorbereitet sein.

Das würde bedeuten, dass sie konsequent Schritte ergreift, um die Nachfrage zu dämpfen, indem sie (durch Verkauf der sich in ihrer Bilanz auftürmenden Staatsanleihen) den Geldüberhang verringert und die Zinsen rascher erhöht – entgegen ihren früheren Verlautbarungen. Eine derartige Straffung ihrer Politik würde die hoch verschuldeten Mitglieder der Eurozone vor ernste Probleme stellen – nicht nur bei der Finanzierung neuer Schulden, sondern auch bei der Refinanzierung fällig werdender Schuldverpflichtungen. Sinkende Steuereinnahmen und steigende Arbeitslosigkeit angesichts der wirtschaftlichen Abkühlung würden das Problem weiter verschärfen. Die Zukunft der WWU-Mitgliedschaft einiger Länder stünde rasch wieder infrage.

Falls die EZB die steigende Inflation jedoch toleriert, wird sie aufgrund wachsender Zweifel an ihrer Bereitschaft oder Fähigkeit, den Geldwert stabil zu halten, an Glaubwürdigkeit verlieren. Steigende Inflationserwartungen würden zu einer zunehmenden Inflationsdynamik und einer Währungsabwertung führen, was den Inflationsdruck weiter erhöhen würde.

Wie Shakespeares Hamlet steht die EZB vor einem Dilemma. Soll die EZB konsequent an ihrem Mandat festhalten und einen weiteren Härtetest für die WWU riskieren oder die höhere Inflation akzeptieren, Glaubwürdigkeit einbüßen und das Schicksal des Euro als Weichwährung besiegeln? Hamlet kann sich in dem Theaterstück nie entscheiden. Das ist der Grund, warum es eine Tragödie ist, die in einer Katastrophe endet.

In Kooperation mit Project Syndicate, 2021. Aus dem Englischen von Jan Doolan. 

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