
Brüsseler Rührei: Am 30. und 31. Mai werden sich die 27 Staats- und Regierungschefs in Brüssel zu einer außerordentlichen Tagung des Europäischen Rates treffen, die dem Krieg in der Ukraine gewidmet ist. Während die Europäische Union gegenüber Russland Einheit predigt, wird aber der Riss im europäischen Gebäude zwischen dem deutsch-französischen Paar und den mittel- und osteuropäischen Ländern größer.
Die meisten EU-Gipfel finden in Brüssel in jenem Gebäude statt, das umgangssprachlich als „The Egg“ bezeichnet wird. Nebenan befinden sich die Pressesäle von Deutschland und Frankreich nebeneinander. Das sind jene Räume, in denen sich die Staats- und Regierungschefs nach langen Verhandlungen meist zu sehr später Stunde vor der Presse äußern.
Dass die beiden Presseräume nebeneinander liegen, ist natürlich stark symbolisch und spiegelt auf seine Weise das Gewicht des deutsch-französischen Paares in der europäischen Diplomatie wider. Dieses Gewicht wird von den anderen Mitgliedstaaten regelmäßig als erdrückend angeprangert.
Nun ändert der Krieg in der Ukraine auch hier die Lage grundlegend. Berlin und Paris sehen ihre Initiativen, Positionen und Strategien in Bezug auf Moskau ernsthaft infrage gestellt – und zwar von den mittel- und osteuropäischen Ländern. Ernsthaft, weil der Krieg in der Ukraine die Legitimität der Argumente der Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich nachhaltig gestärkt hat – eine Legitimität, die ihre Wurzeln in ihrer nationalen und manchmal auch persönlichen Geschichte hat.
„Können Deutschland und Frankreich nicht mehr trauen“
So Kaja Kallas, Premierministerin von Estland. Sie ist eine scharfe Kritikerin der anhaltenden Bemühungen von Politikern wie Emmanuel Macron, Kontakte zu Wladimir Putin zu pflegen, während die Ukraine um ihre Existenz als unabhängiger Staat kämpft. Für ihre Warnungen, dass der Einmarsch Russlands in die Ukraine einen Wendepunkt in der europäischen Geschichte darstellt und um jeden Preis und ohne Kompromisse zurückgeschlagen werden muss, hat sie viel Lob erhalten. Aber eben nicht aus Paris und Berlin. Kaja Kallas hat in ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament am 9. März über ihre eigene Geschichte gesprochen: Ihre Familie wurde von Stalin deportiert und nach Sibirien geschickt. Ihre Mutter war damals erst sechs Monate alt.
Und während Warschau, Prag oder Tallinn nicht zögerten, Waffen an die Ukraine zu liefern, war Olaf Scholz bei den Waffenlieferungen lange zurückhaltend. Eine Position, die sich von der Haltung Washingtons und Londons, den Hauptlieferanten von Waffen an die Ukraine, deutlich abhebt. Und die natürlich nicht kaltlässt.
„Wir, die Ost- und Mitteleuropäer, können Frankreich und Deutschland nicht mehr trauen. Nach dem Krieg in der Ukraine sollten wir unsere Sicherheit neu überdenken und Sicherheitspakte mit den USA und dem Vereinigten Königreich schließen“, twitterte etwa Ivana Stradner nach ihrem Auftritt im EU-Parlament über die Bedrohung der europäischen Sicherheit durch die russische Informationskriegsführung.
Deutschland und Frankreich warnen vor schnellem Beitritt der Ukraine
Auch der Vorschlag von Emmanuel Macron vom 9. Mai, eine „Europäische Politische Gemeinschaft“ zu gründen, stößt manchen in Mittel- und Osteuropa auf. Sie verdächtigen Macron, diese als Parkplatz für Kiew und andere beitrittswillige Länder nutzen zu wollen. Die Regierung Tschechiens hingegen will den Beitritt der Ukraine zu einem der Schwerpunkte ihrer am 1. Juli beginnenden Präsidentschaft machen. Deutschland und Frankreich warnen hingegen vor einer übereilten Aufnahme der Ukraine.
Mehr noch: Macron sprach in der Rede über seine Sorge, Russland im Falle einer – noch sehr ungewissen – Niederlage in der Ukraine „nicht zu demütigen“. Das sehen etwa viele Balten anders: „Wir glauben, dass man Russland bestrafen muss, ihm Reparationszahlungen auferlegen und dafür sorgen muss, dass es in Moskau zu einem Regimewechsel kommt“, sagte Margarita Seselgyte, Direktorin des Litauischen Instituts für Internationale Beziehungen, zu „Le Monde“.
„Kundendienst“ für Frankreich
Die Idee einer „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ geht übrigens auf eine mehr als 30 Jahre alte französische Idee zurück, die ursprünglich von Präsident Francois Mitterand geäußert wurde. Am 31. Dezember 1989 war das, als ein neuer Wind auf dem europäischen Kontinent wehte: Die Berliner Mauer war gefallen, Deutschland leitete seine Wiedervereinigung ein, während die osteuropäischen Länder das kommunistische Kapitel abschlossen.
Dabei ist Emmanuel Macron derjenige unter den französischen Präsidenten, der den politischen Gewinn am klarsten erkannt hat, den er innen- und außenpolitisch aus einem Engagement in der Europäischen Union ziehen kann. Man denke nur an seine Rolle dabei, Ursula von der Leyen an die Spitze der Europäischen Kommission zu heben. Aber auch an seinen Einfluss auf Charles Michel, der in der Brüsseler Bubble als „Kundendienst“ für den französischen Präsidenten wahrgenommen wird. Tatsächlich forderte Charles Michel diese Woche nach Macrons „Europäischer Politischer Gemeinschaft“ die Schaffung einer „Europäischen Geopolitischen Gemeinschaft“.