
Von vielen Seiten wird seit einiger Zeit der Versuch unternommen, eine Globalisierung 2.0 zu proklamieren, die sich von der Globalisierung 1.0 vor allem dadurch unterscheidet, dass der Westen/Norden, also die sogenannte industrialisierte Welt, sich politisch und wirtschaftlich weniger vom Osten/Süden abhängig macht. Man ordnet die Handelspartner dazu von vorneherein in Kategorien ein wie den „Wertepartner“ oder das „autoritäre Regime“.
Noch beeindruckender ist es, dass diejenigen, die sich mit den Wertepartnern unbedingt auf eine „regelbasierte“ Ordnung einigen wollen, offenbar davon ausgehen, man könne mit dem Rest der Welt dann genau den Handel treiben, den man selbst gerne möchte und genau auf den Handel verzichten, der „zu große Abhängigkeiten“ mit sich bringt. Ob irgendjemand auf der Welt Interesse an einem solchen Handel hat, der dem Westen/Norden nicht nur die schon bisher üblichen Vorteile beschert, sondern ihm auch noch freie Hand bei der Auswahl der Produkte gibt, die er handeln möchte, das fragt erstaunlicherweise niemand.
Die Globalisierung ist nicht das Problem
Auch die einfache Frage, ob internationaler Handel überhaupt sinnvoll ist, wenn nicht nur seine Regeln, sondern auch seine Produkte zum Spielball westlicher Wertepartner werden, wird nicht gestellt. Bisher hat die große Mehrheit der Ökonomen in Deutschland und Europa Globalisierung und Freihandel als unverbrüchliche Einheit gesehen und beides vehement als wohlstandsfördernd für alle verteidigt. Jetzt schweigen die Liberalen.
Doch sie lügen sich auch mit ihrem Schweigen in die eigene Tasche. Es war nämlich nicht die Globalisierung als solche, die „Abhängigkeit und Verletzbarkeit“ im Westen und Norden mit sich gebracht hat, sondern die Art und Weise, wie die Globalisierung von den entwickelnden Ländern in den sich entwickelnden Ländern umgesetzt wurde. Das beliebteste Modell war der Umzug ganzer Fabriken in Niedriglohnländer, wo man mit der bombigen westlichen Produktivität Gewinne oder Marktanteile auf dem Weltmarkt erzielen konnte, die zu Hause niemals möglich gewesen wären. China steht dafür wie kein anderes Land jemals vorher.
Wenn aber ein auf diese Weise sich entwickelndes Land wie China auf die Idee kommt, selbst im Westen/Norden zu investieren oder sich gar in anderen Entwicklungsländern zu engagieren, dann finden wir das gar nicht gut, weil China ja nicht zu unseren Wertepartnern gehört.
Nicht genug damit. Basierend auf vollkommen realitätsfremden Modellen hat der Westen/Norden über viele Jahrzehnte die vollkommene Freiheit des Güter- und Kapitalverkehrs ausgerufen und jedes Land massiv politisch und wirtschaftlich unter Druck gesetzt, dass sich diesem Dogma nicht beugen wollte. Geriet ein Land in Konflikt mit den „Märkten“, wurde es mithilfe des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank systematisch und auch gegen den Willen ihrer Regierungen auf Neoliberalismus getrimmt.
Der aufgezwungene Neoliberalismus war jedoch niemals in der Lage, die Probleme der Länder zu lösen. Das Maß an Währungsstabilität, das unabdingbar für einen funktionierenden Freihandel ist, hat es beispielsweise nie gegeben. Die Kapitalmärkte waren nicht effizient, sondern haben in jeder Hinsicht versagt. Sie haben verrückt gespielt und jeden mit massiven Spekulationen überzogen, der versuchte, seine Wirtschaft auf eine Weise, wie sie im Westen durchaus üblich ist, zu steuern. Brasilien kann viele Lieder davon singen.
Doch selbst die Dogmen des Neoliberalismus waren den Verkündern des Neoliberalismus immer wieder vollkommen egal. Länder wie Deutschland und die Niederlande predigen zwar den anderen den Freihandel, praktizieren mit ihren Leistungsbilanzüberschüssen gleichzeitig jedoch Merkantilismus in Reinform und verteidigen ihn – gegen jede Vernunft – mit Zähnen und Klauen.
Die Welt braucht ein globales Währungssystem
Die Welt braucht 50 Jahre nach dem Ende des Systems von Bretton Woods wieder ein globales Wirtschafts- und Währungssystem. Ein solches System muss auf der Erkenntnis aufbauen, dass Handel und Finanzen nicht voneinander zu trennen sind. Unternehmen, die im internationalen Handel erfolgreich agieren wollen, müssen sich, nicht anders als auf der nationalen Ebene, absolute Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten erarbeiten. Sie müssen – bei gleicher Qualität der Produkte – billiger sein. Die von den Ökonomen seit Jahrhunderten hochgehaltenen komparativen Kostenvorteile im internationalen Handel, die den Entwicklungsländern vorgaukeln, eine kleine Chance zu haben, sind ein geschickter Trost, aber in Wirklichkeit nicht existent.
Was für Unternehmen gilt, gilt jedoch nicht für Länder. Sind viele Unternehmen eines Landes erfolgreich im Sinne einer deutlichen Zunahme der Produktivität, müssen unter vernünftigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Löhne in dem Land so stark steigen, dass der Produktivitätsvorteil im internationalen Vergleich nicht mehr zugunsten der Unternehmen dieses Landes zu Buche schlägt. Trotz höherer Produktivität müssen die Lohnstückkosten, die Löhne im Verhältnis zur Produktivität, dann genauso stark wie in den Ländern steigen, die eine geringere Produktivitätszunahme aufweisen.
Steigen die Löhne im Verhältnis zur heimischen Produktivität zwischen den Ländern in unterschiedlichem Tempo, ergeben sich Inflationsdifferenzen, die absolute Vorteile für ganze Länder mit sich bringen, nämlich für diejenigen, die die geringsten Inflationsraten aufweisen. Die Inflationsdifferenzen müssen deshalb zwingend durch das Währungssystem ausgeglichen werden.
Standortwettbewerb zwischen Ländern schadet
Die Währungen von Ländern mit niedrigen Inflationsraten müssen aufwerten und umgekehrt. Konstante reale Wechselkurse, also konstante Wettbewerbspositionen von Ländern, sind der Kern der Lösung der Globalisierungsprobleme. Standortwettbewerb von Ländern ist genau das Gegenteil dessen, was die Welt braucht. Die Positionen von Unternehmen können sich auch bei konstanten realen Wechselkursen in der gleichen Weise ändern wie in einem Binnenmarkt, sodass die Vorteile des Wettbewerbs erhalten bleiben, ohne dass ganze Gesellschaften in den Ruin getrieben werden und Auswanderungswellen nach sich ziehen.
Die Welt braucht folglich ein Handelssystem, das von einem Währungssystem ergänzt wird, welches dafür sorgt, dass kein Land auf Dauer absolute Vorteile oder Nachteile hat. Was nichts anderes heißt, als dass keine Länder dauerhafte Leistungsbilanzdefizite oder Leistungsbilanzüberschüsse aufweisen dürfen. Nur so kann man einen Neuanfang schaffen, der auf Integration der Entwicklungsländer und auf Kooperation statt auf Konfrontation setzt.
Direktinvestitionen wird es dennoch geben und man sollte sie auch nicht verhindern, denn sie schaffen für die Entwicklungsländer die Möglichkeit schneller aufzuholen. Allerdings muss man den Ländern, die von den daraus resultierenden Billigimporten überschwemmt werden, die Möglichkeit einräumen, ihre eigene Industrie zu schützen.
Rivalität ist grundsätzlich fehl am Platz
Generell muss sich die Einstellung der Industrieländer zu den Entwicklungsländern fundamental ändern. Standortwettbewerb ist ebenso fehl am Platz wie die immer wieder in den internationalen Organisationen hochkommende „natürliche“ Gegnerschaft des Nordens mit dem Süden. Die Entwicklungsländer sind nicht die Gegenspieler der Industrieländer. Diese weit verbreitete Vorstellung, die sich auch in Brüssel immer wieder als hoffähig erweist, ist eine Form des geistigen Kolonialismus, die dringend in die Mülltonne der überholten Dogmen entsorgt werden muss.
Noch schlimmer ist die „Rivalität“, die von der deutschen Außenpolitik im Verhältnis zu China den USA abgeschaut wurde. Mit China das Land leichtfertig zum Rivalen zu erklären, von dessen rasender Entwicklung die deutsche Wirtschaft wie keine zweite auf der Welt profitiert hat, zeugt schlicht von Unwissen über die Verhältnisse in China und in der gesamten Welt.
Wahre wirtschaftliche Probleme anerkennen
Gerade diejenigen, die das Tempo der globalen Klimaschutzpolitik forcieren wollen, werden kläglich scheitern, wenn sie über kein zukunftsfähiges Wirtschaftsmodell für die gesamte Welt verfügen. Eine fair gestaltete wirtschaftliche Globalisierung ist der Schlüssel zu einer effizienten Klimapolitik. Bisher hangelt man sich von Konferenz zu Konferenz, um hinterher festzustellen, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse niemals so waren, dass sie den Entwicklungsländern den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern erlaubt hätte. Der Westen muss nicht reisen und reden, er muss durch seine Taten zeigen, dass er die wahren wirtschaftlichen Probleme anzuerkennen bereit ist.
Der Volkswirt Heiner Flassbeck ist Honorarprofessor an der Universität Hamburg. Er arbeitete von 1976 bis 1980 im Stab des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und danach sechs Jahre im Bundesministerium für Wirtschaft. Im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin war er von 1988 bis 1998 Leiter der Abteilung Konjunktur. 1998 wurde er beamteter Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen. Von August 2003 bis Dezember 2012 war er bei UNCTAD in Genf, Direktor der Abteilung für Globalisierung und Entwicklungsstrategien. Er ist Autor vieler Bücher. Sein letztes Buch, „Der begrenzte Planet und die unbegrenzte Wirtschaft“, erschien 2020 im Westend Verlag. Mit Friederike Spiecker zusammen hat er einen „Atlas der Weltwirtschaft“ in den Jahren 2020 und 2022 herausgebracht. Er schreibt regelmäßig zu aktuellen Fragen auf Relevante-Ökonomik.com.