
Die EU versteht sich als normative Macht. In ihrer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik will sie fundamentale Werte vertreten. Die EU versteht sich auch – und zu Recht – als globale Macht. Aus ihrer unbestreitbar großen ökonomischen Bedeutung leitet die EU – erneut völlig zu Recht – die Notwendigkeit ab, ihre Interessen global zu vertreten, gerade auch im Indopazifik. Die EU wird damit zu einem immer wichtigeren Faktor in dem eskalierenden Konflikt zwischen den USA und China. Sei dies in Hinblick auf die strategische Re-Adjustierung von Handelsströmen, die Verhängung von Technologie-Boykotten gegen chinesische Firmen oder die Behandlung Taiwans im globalen System.
Die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen betont ihre strategische Autonomie. Doch obwohl formal mit der VR China weiterhin eine Strategische Partnerschaft besteht, erzwingen die zunehmenden Rivalitäten in Hinblick auf die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnungen eine wachsende Distanzierung von der ostasiatischen Macht. Europa steht global wieder fester an der Seite seines wichtigsten militärischen Verbündeten, den USA.
In diesem Spannungsfeld hat die Europäische Union nun einen Protagonisten wieder entdeckt, der lange bestenfalls am Rande der europäischen Aufmerksamkeit lag: Taiwan, die bunte Demokratie in Ostasien, Opfer der Ein-China-Politik; zugleich das Technologieland, das 90 Prozent der weltweiten Produktion der fortschrittlichsten Halbleiter beherbergt. Ohne die Chips der Taiwan Semiconductor Manufacturing Company Ltd. würden die zukunftsweisendsten Projekte der globalen Technologie-Industrie in sich zusammenfallen.
Zu schön, um wahr zu sein
Die EU steht hier vor einem massiven Dilemma: Sie muss ihre Lieferketten resilienter machen, ihre strategische Abhängigkeit nicht nur, aber vor allem von China schnellstmöglich verringern und verhindern, dass Europa vollends zum technologischen Entwicklungsland wird. Dafür muss sie enger mit Taiwan zusammenarbeiten. Zudem möchte sie den Wertepartner Taiwan in seiner de facto Eigenständigkeit unterstützen, gerade auch gegen Druck aus China und eine weitere Eskalation der Spannungen zwischen Peking auf der einen und Washington und Taipeh auf der anderen Seite verhindern.
Auf den ersten Blick treffen sich hier also normative Überzeugungen und geostrategische Interessen der EU aufs Vorzüglichste: Die EU fördert die Zusammenarbeit mit der taiwanischen Demokratie, sichert sich so Zugang zu einem der zentralen Bausteine moderner Volkswirtschaften und sendet ein wichtiges Signal an Peking, dass Taiwans Sicherheit ein sehr konkretes Anliegen der EU ist.
Dieses Narrativ ist jedoch zu schön, um wahr zu sein. Eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit Taiwan gerade im Hochtechnologiesektor, sprich bei den fortschrittlichsten Computerchips, erodiert die vielleicht wichtigste Sicherheitsgarantie Taiwans: seinen „Silizium-Schutzschild“, den „silicon shield“. Auch die Wirtschaft Chinas ist bislang noch auf die Spitzenprodukte aus Taiwan angewiesen.
Peking kann sich nicht erlauben, dass diese Ressource in Folge militärischen Drucks oder gar einer Invasion der Insel wegbricht. Zwar verstärken TSMC-Produktionsanlagen in den USA – im Bau – und in Europa – in Sondierung – die Bindungen zwischen Taiwan und mächtigen Verbündeten. Doch bedeutet die Einrichtung dieser Produktionsstätten im Ausland eben auch, dass die Bedeutung der Anlagen auf Taiwan selbst geringer werden.
Im Kriegsfall würden diese zentralen Bausteine der Weltwirtschaft weiter hergestellt werden können, aber eben außerhalb Taiwans. Die angestrebte engere Zusammenarbeit der EU im Bereich Halbleiter und die Verlagerung von Produktionsstätten aus Taiwan heraus schwächt deshalb den „silicon shield“ Taiwans erheblich.
Gegenleistung erforderlich
Was also tun in Brüssel? Die EU muss ihre Eigeninteressen mit klarem Blick verfolgen – und die bedeuten nun einmal nicht nur die rhetorische und praktische Unterstützung von Taiwan, sondern auch die Sicherstellung der eigenen Handlungsfähigkeit. Also muss die EU weiter versuchen, mit Taiwan zusammen eine Diversifizierung der globalen Lieferketten von Halbleitern voranzubringen und sich den Zugang zu dieser strategisch so enorm wichtigen Ressource auch bei einer chinesischen Blockade oder einem Angriff der Volksbefreiungsarmee zu sichern – das heißt, Produktionsanlagen auch außerhalb Taiwans aufbauen.
Als Gegenleistung für die damit einhergehende Schwächung des „silicon shield“ Taiwans wäre eine umfassende Technologiekooperation in anderen Bereichen denkbar: grüne Energien und grüner Wasserstoff, neue Batterietechnologien, Big-Data-getriebene Medizintechnik, et cetera bieten sich hier insbesondere an. Taiwan auf vielen Ebenen gleichzeitig in die europäischen Wirtschaftskreisläufe einzubinden, ohne übermäßige Abhängigkeiten zu schaffen, wäre eine Option, Taiwan zu stärken, und gleichzeitig ein starkes Signal an Peking auszusenden.
Für die EU wird es immer wichtiger, einen klaren und differenzierten Kurs gegenüber Peking zu steuern. Auch wenn die Volksrepublik zunehmend zu einem Systemrivalen aufsteigt, bleibt sie in wichtigen Politikfeldern zugleich ein unverzichtbarer Partner. Globale Herausforderungen wie der Klimaschutz, die Friedenssicherung bzw. -wiederherstellung, Armutsbekämpfung und Entwicklung können letztlich nur mit China gemeinsam gelöst werden.
Die deutsche Politik – und mit ihr Gesellschaft und Wirtschaft – werden von daher Spannungen und Widersprüche aushalten und lernen müssen, sehr viel nüchterner mit den tatsächlichen Kapazitäten deutscher Außenpolitik umzugehen. Ein erster Schritt wäre eine ehrlichere Diskussion, was konkret die deutschen Interessen in Bezug auf Taiwan und China sind. Diese Diskussion darf nicht von professionellen Lobbyisten und schwärmerischen Idealisten gekapert werden.
Ein zweiter Schritt sollte das offene Eingeständnis sein, dass Deutschland die Kooperation und Unterstützung seiner Partner in der EU braucht, um seine eigene Position im Indopazifik vertreten zu können – und um von Peking ernst genommen zu werden. Nur auf dieser Grundlage lässt sich die schwierige Gratwanderung einer intensiveren Zusammenarbeit mit Taiwan bei gleichzeitiger Partnerschaft und Rivalität mit China überhaupt in Gang bringen.
Nationales Denken in schwarz-weißen Schablonen – von Peking abkoppeln, mit Taiwan flirten – ist gefährlich und schadet allen, nicht zuletzt Taiwan.
Jörn-Carsten Gottwald ist seit 2011 Professor für Politik Ostasiens an der Ruhruniversität Bochum. Zuvor arbeitete er unter anderem an der Arbeitsstelle Politik Chinas und Ostasiens der Freien Universität Berlin und am Irish Institute of Chinese Studies der National University of Ireland Cork.
Steffi Weil ist Professorin an der Antwerp Management School und der Universität Antwerpen. Sie verfügt über mehr als 15 Jahre Berufserfahrung innerhalb und außerhalb der Wissenschaft. Sie ist dort die akademische Leiterin des Executive PhD Programms und des China-Europe Master.
Markus Taube ist Inhaber des Lehrstuhls für Ostasienwirtschaft / China an der Mercator School of Management der Universität Duisburg-Essen und Gründungspartner von THINK!DESK China Research &Consulting.
Die Autorin und Autoren dieses Textes haben im Dezember 2022 eine Studie zu den Möglichkeiten eines Resilient Supply Chain Agreements der EU mit Taiwan für die Fraktion Die Grünen / EVA im EP verfasst.