
Wenn deutsche Kanzler oder Kanzlerinnen nach Chinas reisten, trugen sie immer die Wunschvorstellung Wandel durch Handel im Gepäck. Die Logik dahinter: Durch immer engere Geschäftsbeziehungen zwischen China und dem Westen würde die Volksrepublik schrittweise liberaler werden, irgendwann sogar vielleicht demokratisch.
China würde sich nach der wirtschaftlichen Öffnung unter Deng Xiaoping und dem beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg automatisch dem gewinnbringenden System der freiheitlichen Demokratien und einer regelbasierten Weltordnung anschließen, so die Überzeugung.
Wandel durch Handel – nur nicht so, wie antizipiert
Und tatsächlich ist das Prinzip Wandel durch Handel 20 Jahre nach Chinas Eintritt in die Welthandelsorganisation aufgegangen. Nur nicht so, wie wir es antizipiert hatten, sondern genau andersherum. Durch den Handel mit China haben vor allem auch wir Deutschen damit begonnen, uns zu wandeln.
Wir sind aus unserem schönen Traum bitter erwacht. Die Abhängigkeiten unserer Lieferketten und die Gier nach neuen Wachstumsmärkten haben uns in eine Situation manövriert, in der wir heute unser Verhalten chinesischen Befindlichkeiten anpassen. Unsere Abhängigkeiten vom chinesischen Markt sind inzwischen so groß, dass Peking sie im „Divide et Impera“-Verfahren – Teile und Herrsche – gegen uns ausspielt. Wir müssen uns endlich eingestehen und darüber diskutieren, dass wir uns mittlerweile so verhalten, um chinesischen Bestrafungen zu entgehen.
Wir lassen Vorsicht walten, wenn wir Kommentare mit China-Bezug in Sozialmedien posten. Firmenbosse beißen sich auf die Zunge, um nahezu jede öffentliche Kritik an China zu vermeiden. Und selbst unsere Regierung ist extrem darauf bedacht, Hongkonger Menschenrechtsaktivisten, Exil-Dissidenten oder geschweige denn dem Dalai Lama eine allzu große Bühne zu bieten, wenn überhaupt. Wir nehmen hin, dass westliche Online-Plattformen in China gesperrt sind, während Chinas Propagandamaschine hierzulande Twitter und Co. nutzt, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen.
Der chinesische Traum: Aufstieg einer Kollektivität
Das Selbstvertrauen des Westens in seine eigene Stärke, das nach dem Kalten Krieg offenbar ins Unermessliche stieg, scheint viele blind gemacht zu haben. Dass die Volksrepublik jedoch anderes im Sinn hat, als nur westliche Waren zu kaufen und westliche Werte anzunehmen, kam uns offenbar nicht in den Sinn. China hat es seit dem WTO-Beitritt exzellent verstanden, diese für sich zu instrumentalisieren.
Der chinesische Traum, den Präsident Xi Jinping als Vision formuliert hat, befeuert Stolz auf Gewesenes, aber auch den Anspruch auf die Spitze. Dies ist per se nicht verwerflich. Als Westen müssen wir uns aber im Klaren darüber sein, dass diesem chinesischen Traum der Aufstieg einer Kollektivität zugrunde liegt, der auf einem anderen Wertesystem fußt, statt Freiheit und persönlicher Entwicklung des Einzelnen fördert.
Hätten wir wissen können, auf welchem Fundament der chinesische Traum wachsen soll? Vergessen scheinen Vorzeichen wie das Dokument Nr. 9, für dessen Veröffnetlichung die Journalistin Gao Yu zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Demokratie und Journalismus nach westlichem Vorbild, eine Zivilgesellschaft, universelle Werte wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit oder Demokratie wurden im Dokument Nr. 9 ebenso klar abgelehnt wie ein ökonomisches System, das mehr von Privatwirtschaft als Sozialismus geprägt wird. Ein Blick in die chinesische Verfassung (Art.7), die das Primat der Staatswirtschaft festhält, wäre auch von Nutzen gewesen.
Ja, wir hätten dies alles wissen können und müssen. Wir hätten mehr Druck auf die Einhaltung eines weltumspannenden Regelwerks machen können, statt auf Wandel durch Handel im Zuge wachsender Verflechtung zu hoffen. Ohne westliche Investitionen war und ist China auch heute noch nicht in der Lage, das Versprechen einzulösen, seiner riesigen Bevölkerung einen moderaten Wohlstand zu verschaffen.
Stattdessen haben sich westliche Unternehmen jahrzehntelang mit Zugangsbeschränkungen zum chinesischen Markt durch Joint Venture-Erfordernisse, erzwungene Wissenstransfers oder ausgeschlossene Industrien abgefunden, während chinesische Unternehmen Hafenanlagen und Stromnetze in Europa erwarben, oder Autobahnen und andere Infrastruktur bauen durften.
Reziprozität war lange kein Thema
Die Hoffnung, dass China dem Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (GPA) beitritt, hat sich auch nach 20 Jahren WTO-Mitgliedschaft bis heute nicht erfüllt. Die de facto Unmöglichkeit bei wichtigen Vergaben in China als ausländische Firma zum Zug zu kommen, wurde zu lange ignoriert. Erst seit wenigen Jahren scheint Reziprozität überhaupt Teil unserer Diktion zu sein.
Zu spät. Mittlerweile sind Mammutkonzerne in China entstanden, die (nicht nur, aber auch) durch Transfer von Know-how aus dem Ausland mächtig geworden sind und durch ihre staatliche Unterstützung Wettbewerbsvorteile weit über den chinesischen Markt hinaus genießen.
Ich bin während meiner Zeit in der Europäischen Handelskammer für die Verwendung des Begriffs Reziprozität mehr als einmal kritisiert worden. Heute ist klar, dass sie die richtige, regelbasierte Grundlage für friedliche Koexistenz und gemeinsame Entwicklung ist. Auch die Lösung globaler Probleme funktioniert im Zusammenarbeit mit China.
Kein Akteur – natürlich auch der Westen nicht – sollte Rosinen aus den Regelwerken picken dürfen, die einseitige Vorteile versprechen. Doch genau das haben wir China jahrzehntelang zugestanden. In unseren demokratisch verfassten Gesellschaften müssen wir deshalb definieren, welchen Preis wir für Wachstum und Wohlstand zu zahlen bereit sind und entsprechende Linien ziehen. Der Krieg in der Ukraine gibt uns gerade ein gutes Beispiel dafür, dass wir solche klaren Grenzen benötigen und behaupten müssen.
Stefan Sack, 54, arbeitete früher als Unternehmensberater bei McKinsey, ehe er 2005 nach China ging. Dort war er in zahlreichen leitenden Positionen bei internationalen Unternehmen tätig. Zwischen 2013 und 2016 war er Vize-Präsident der Europäischen Handelskammer in Shanghai. Seit Ende vergangenen Jahres lebt Sack in Hamburg.