
Chinas Jugend nennt sich selbst die „nach 2000 geborene“ Generation (Lingling-Hou – 00后). Einst wurden sie als Einzelkinder verhätschelt, wuchsen privilegiert in Zeiten zweistelligen Wachstums und touristischen Reisens auf, waren die Generation Internet und wurden zugleich stupide durch die Mühlen rigoroser Schulerziehung gedroschen. Während über Millennials im Ausland seit Jahren geforscht wird, ist Chinas Generation Z, die nun erwachsen wird, noch ein unbeschriebenes Blatt. Sind sie unselbstständige kleine Kaiser, ausgebuffte Hightech-Nerds, welterfahrene Globetrotter, Rebellen – oder international umworbene Konsumfreaks? Lassen sie sich seit der Pandemie von KP-Chef Xi Jinping in sein Korsett aus engstirnigem Patriotismus und leninistischen Parteidoktrinen pressen? Auch in China wird darüber gerätselt.
Die Pekinger Eröffnungsfeier für die Olympischen Winterspiele 2022 wird am Freitag alle Blicke auf sich ziehen. Das gilt auch für den Staatsregisseur Zhang Yimou, der das Imageprojekt im Vogelnest-Stadium aufführen lässt, dort, wo er bereits den Auftakt für die Sommerspiele 2008 inszenierte. Die Propaganda feiert Zhang im Voraus. Chinas soziale Medien aber erinnern auch daran, dass er einst in Ungnade fiel, weil er sich dem Zwang der Einkind-Familienpolitik entzog. Zhang hatte eine Tochter, als er 2001, 2004 und 2008 noch drei Kinder ins Leben setzte. 2013 wurde er mit 7,48 Millionen Yuan Bußgeld bestraft (damals gut 900.000 Euro).
Der damalige Skandal ist vergessen, zumal Peking wieder zum Kinderkriegen drängt. Blogger fordern daher augenzwinkernd, dem Starkünstler seine Strafe mit Zinsen zu erstatten und ihm dazu noch einen Orden zu verleihen. Schließlich hätte Peking selbst seine Geburtenplanung gestoppt und 2015 allen Familien zuerst erlaubt, wieder zwei Kinder und seit Mai 2021 drei Kinder zu haben. Zhang wäre nur seiner Zeit etwas voraus gewesen.
Das ist der Spott von Chinas Millennials, der zwischen 2000 und heute geborenen Jugend. Sie reagieren auf Pekings unvermittelten Stopp seines 35-Jahre dauernden Einkind-Zwangs. Dafür gab es gute Gründe. 2021 verzeichnete das 1,4 Milliarden Volk mit einer auf 0,75 Prozent gefallenen Geburtenrate das geringste Plus seit Gründung der Volksrepublik. Bei einer Sterberate von 0,72 Prozent legte die Bevölkerung nur noch um 480.000 Menschen zu. Zugleich stiegen die Zahlen der über 65-Jährigen auf mehr als 14 Prozent aller Chinesen. Das „Reich der Mitte“ muss sich bald umbenennen in das neue „Reich des Alters.“

Um die Fehler seiner Geburtenplanung auszubügeln, ruft Peking seine jüngste Generation zur Hilfe. Die Nachrichtenagentur Xinhua drängt: Ab 2022 treten die „Lingling-Hou“ ins gesetzliche Heiratsalter von 20 Jahren für Frauen und 22 Jahre für Männer ein. Sie sollten gefälligst heiraten und Babys kriegen. Doch die Generation nach-Zweitausend hat null Bock darauf. Peking will sie zwingen. Es sei Zeit, sie in die Gesellschaft „einzuordnen und zurecht zu hämmern“, ( 现在,轮到00后进入社会“受锤“了), warnte Shanghais Online-News „Thepaper“.
Immerhin geht es statistisch um 146 Millionen Chinesen, die meist als Einzelkinder zwischen 2000 und 2010 geboren wurden und nun erwachsen werden. Zusammen mit ihren Eltern-Generationen der „Nach-80er“ (1980 – 89 geboren) und der „Nach-90er“ Jugend (1999 bis 2000 geboren) sind es mehr als eine halbe Milliarde Menschen. Sie wurden von Chinas Reform- und Öffnungsperiode tief beeinflusst. Nach Maos Tod 1976 kamen die Begriffe „nach 80er-“ und „nach 90er-Generation“ in Mode, als der Wandel von Wirtschaft, Gesellschaft, Internet und erstmaliger Freizügigkeit das Leben jedes Einzelnen in Zehn-Jahressprüngen prägte.
Chinas KP unter Parteichef Xi Jinping kämpft um den Einfluss auf ihre Seelen. In seiner zum Frühlingsfest vom Theoriemagazin „Qiushi“ veröffentlichten Rede an junge KP-Nachrücker fordert er Gehorsam. „Macht alles, was die Partei von Euch verlangt und geht dorthin, wohin Euch die Partei schickt.“
Das, was die polyglott aufgewachsenen „Lingling-Hou“ denken, fühlen und künftig tun, ist auch im Ausland ein Rätsel. Chinas Generation Z sei „auch im internationalen Vergleich schneller und tiefer ins digitale Zeitalter eingetaucht als die Jugend woanders. Sie ist nicht mehr das Geschöpf der Vergangenheit ihres Landes, sondern Gestalter seiner Zukunft,“ schreibt einer der besten China-Experten der USA und Brookings-Institutsdirektor, Cheng Li, in seiner Einführung für eine Aufsatzsammlung der Jugendforscherin Li Chunling der Pekinger Akademie für Sozialwissenschaften (Li Chunling: China’s Youth Increasing Diversity amid Persistent Inequality).
Li analysiert eine Generation, die als Teil der neuen Mittelschicht Chinas voller innerer Widersprüche steckt – zwischen alten und neuen, modernen und traditionellen Werten, Rebellion und Anpassung. Es bleibe abzuwarten, ob sich der Wandel in ihren Lebensweisen auch in ihren Ansichten zur Politik niederschlägt. Auch Cheng Li schreibt: Die Frage sei offen, ob Chinas Jugend heute genauso oder weniger nationalistisch als vorhergehende Generationen sein wird.

Seit der Pandemie und Pekings verstärkter ideologischer Indoktrination der Gesellschaft beschäftigt das viele. Überraschend sorgte sich jetzt der linkspatriotisch eingestellte und bekannte Dekan des Instituts für internationale Studien der Tsinghua Universität, Yan Xuetong, dass Chinas „Nach 2000er“- Generation überzuversichtlich geworden sei. Er beobachte bei Erstsemestern, dass ihnen Chinas Rolle als zweitstärkste Volkswirtschaft der Welt zu Kopf gestiegen sei. Sie glaubten „an wirtschaftlichen Determinismus“, denken, dass es für China „sehr einfach ist, seine außenpolitischen Ziele zu erreichen“, seien anfällig für Verschwörungstheorien und agitatorische Reden im Internet. Yan störte sich an ihrem „engstirnigen Nationalismus (狭隘民族主义), dem man durch Aufklärung entgegenwirken muss“.
Das Thema treibt auch die kommunistische Jugendzeitung um, die seit 2015 mehr als 180 Untersuchungen über das Verhalten der Generation Z druckte und gerade ihre umfassendste Umfrage veröffentlichte. 80 Prozent der befragten Hochschüler forderten den im März zusammentretenden Volkskongress (Chinas sozialistisches Parlament) auf, ihre persönlichen und sozialen Probleme auf die Tagesordnung zu setzen. Sie fürchten auch um ihre Jobs, nachdem Chinas erstarrtes Ausbildungssystem und die Folgen der Einkind-Politik zu einer nie dagewesenen Akademikerschwemme führten. Für 2022 rechnet das Erziehungsministerium mit einem Rekord von 10,76 Millionen Hochschul-Absolventen nach 9,09 Millionen 2021. Akademische Arbeitslosigkeit sei ein potenzieller Quell für soziale Unruhen. Interessant ist auch der stärkere patriotische Tonfall. Fast 80 Prozent der Befragten wollen den Kauf einheimischer Produkte ausländischen vorziehen. Sie würden sich dabei auch von ihren Gefühlen leiten lassen.
Das war vor der Pandemie und Re-Ideologisierung noch anders. Die „Lingling-Hou“ wurden als konsumfreudige neue Generation zum Liebling der Werbeagenturen. Obwohl sie nur 15 Prozent der chinesischen Bevölkerung stellen, bestreiten sie 25 Prozent des Konsums von vor allem westlichen Markenprodukten. Wonach sie heute verlangen, wird morgen zum Massentrend, fanden der E-Commerce-Riese Alibaba und seine B2C-Marktplätze Tmall und Taobao heraus.
Doch das beginnt sich zu ändern. Den größten Wandel im Lebensstil und Denken der Generation Z brachte das abrupte Ende des Auslandstourismus mit sich, worin sie einst Weltmeister war. Das fand die erste systematische Befragung von 15.000 „Lingling-Hou“ durch Chinas Internetkonzern Tencent noch Mitte 2019 heraus.

Auch andere Gewissheiten kommen auf den Prüfstand. Mehr als 35 Jahre strikter Geburtenplanung hatten in China eine Jugend geprägt, die pauschal als verhätschelte „Kleine Kaiser“ und lebensuntüchtig beschrieben wurde. Der Kantoner Psychologe Wu Zhihong beschrieb das 2016 kritisch in seinem Aufsehen erregenden Buch: Die Nation der Riesenbabys. „Zuhause mussten sie auf ihre Eltern hören, in der Schule auf die Lehrer, in der Gesellschaft auf ihre Führer, Partei und Regierung“. Doch Wu erkannte auch, wie sich die neue Generation davon zu emanzipieren versuchte. Sein 480-Seiten-starkes Buch wurde rasch von der Zensur indiziert, denn er plädierte für den Ausbau von Rechtssystemen und der Freiheit in China, um den „Teufelskreis“ einer in Unmündigkeit und kindlichem Gemüt gehaltenen Jugend zu durchbrechen,
Solche Forderungen dürfen heute erst recht nicht mehr diskutiert werden. Peking versucht, die „Lingling-Hou“ patriotisch zu vereinnahmen, sie in ideologische Korsette zu schnüren. Die Frage ist nicht entschieden, ob sie dabei mitmachen, sich anpassen oder ob sie sich gar verweigern.