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Mit mehr Transparenz zu mehr Impfungen

von Nancy Qian
Nancy Qian ist Professorin für Managerial Economics and Decision Sciences an der Kellogg School of Management der Northwestern University. Hier schreibt sie über das mangelnde Vertrauen der Bevölkerung Chinas in die Covid-Impfstoffe.
Nancy Qian ist Professorin für Managerial Economics and Decision Sciences an der Kellogg School of Management der Northwestern University

Die Menschen in Chinas Städten haben einige der intensivsten Maßnahmen zur Infektionsverhütung im Zuge der Covid-19-Pandemie ertragen müssen. Die 27 Millionen Einwohner Shanghais waren 60 Tage lang zu einem strengen Lockdown gezwungen – und sie waren nicht die einzigen. Während des Höhepunkts der Omikron-Welle im April und Mai waren 45 Städte mit insgesamt 373 Millionen Einwohnern in irgendeiner Form abgeriegelt. Das ist mehr als die Bevölkerung der Vereinigten Staaten (329,5 Millionen) und Kanadas (38 Millionen) zusammen und 83 Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union (447 Millionen).

Chinas „Null-Covid“-Strategie hat der Wirtschaft und der Bevölkerung des Landes großen Schaden zugefügt. Die Omikron-Welle hat aber auch deutlich gemacht, dass die ältere Bevölkerung weiterhin anfällig für das Virus ist. Bis zum 2. Juni hatten 40 Prozent der über 60-Jährigen (rund 95 Millionen Menschen) noch keine einzige Dosis des Covid-19-Impfstoffs erhalten, obwohl für sie ein höheres Risiko besteht, an der Krankheit zu erkranken und zu sterben.

Ältere Menschen fürchten die Nebenwirkungen

Ein Grund für die niedrige Impfrate ist, dass sich die chinesische Bevölkerung in den letzten zwei Jahren einfach an die niedrigen Covid-19-Infektionsraten gewöhnt hat. Jetzt, wo die Omikron-Welle zuschlägt, dürfte das höhere Risiko, ungeimpft zu sein, die Impfquote bei älteren Menschen etwas erhöhen.

Ein weiterer Grund für die niedrige Impfrate bei älteren Menschen ist jedoch, dass viele die Nebenwirkungen der Impfung fürchten. Um dem entgegenzuwirken, hat die chinesische Regierung kürzlich ein Covid-19-Impfpaket für Personen über 60 eingeführt. Impflinge, die wirklich erkranken, können 75.000 Dollar erhalten – mehr als das Vierfache des durchschnittlichen Jahreseinkommens des Landes (15.950 Dollar). Dies ist eine kluge Idee. Aber sie wird nicht ausreichen, denn das größere Hindernis ist das mangelnde Vertrauen zwischen der chinesischen Öffentlichkeit und dem medizinischen Establishment.

Natürlich haben alle Länder Schwierigkeiten, die besorgte Bevölkerung davon zu überzeugen, dass der Nutzen von Impfstoffen die Risiken überwiegt. In den USA sind nach wie vor 15 Prozent der Menschen nicht gegen Covid-19 geimpft, und 42 Prozent aus dieser Gruppe sagen, dass sie den Impfstoffen nicht trauen. Dennoch ist dies eine enorme Verbesserung gegenüber September 2020, als 49 Prozent der amerikanischen Erwachsenen angaben, dass sie sich nicht impfen lassen würden, wenn ein Impfstoff verfügbar wäre. In dieser Kohorte gaben 76 Prozent der Befragten an, dass sie Bedenken wegen der Nebenwirkungen haben.

Die Impfskeptiker in China und den USA haben also die gleiche Angst vor Nebenwirkungen. Allerdings haben die chinesischen und amerikanischen Gesundheitsbehörden auf diese Bedenken auf sehr unterschiedliche Weise reagiert.

Intransparenz und kaum Daten fördern das Misstrauen

In den USA hat das medizinische Establishment versucht, Vertrauen zu schaffen, indem es unabhängige und transparente medizinische Studien durchführte, deren Ergebnisse in unzensierten Veröffentlichungen publiziert und auf allen Ebenen offen diskutiert wurden – von Experten, Journalisten, Politikern und der Öffentlichkeit. Dieser Ansatz beruht auf zwei bekannten Maximen des öffentlichen Gesundheitswesens: Vertrauen in das medizinische Establishment wird die Akzeptanz von Behandlungen erhöhen; und dieses Vertrauen wird durch Transparenz und offene Diskussion aufgebaut.

Im Gegensatz dazu war Chinas Vorgehen fast völlig undurchsichtig. Die Regierung hat nur sehr wenige Daten über Impfstoffversuche veröffentlicht und jegliche Diskussion über Nebenwirkungen zensiert – selbst über gewöhnliche, geringfügige Nebenwirkungen wie Wundschmerzen nach der Injektion. Die chinesischen Behörden folgen der Maxime, dass Informationen über kontroverse Themen zurückgehalten werden sollten, um zu verhindern, dass Meinungen geäußert werden, die den Zielen der Regierung zuwiderlaufen könnten.

Diese Strategie hat sich als kontraproduktiv erwiesen, denn sie schafft ein Informationsvakuum, das nur durch Gerüchte, Spekulationen und Verschwörungstheorien gefüllt werden kann. Das derzeitige Scheitern steht in krassem Gegensatz zu Chinas früheren Erfolgen bei der Entscheidungsfindung in gesundheitspolitischen Fragen. Nach dem Ausbruch von SARS in den Jahren 2002 bis 2004 ließ China eine konstruktive Debatte über die Probleme in seinem Gesundheitssystem zu. Wie viele bemerkten, hatten damals über 80 Prozent der Landbewohner und 40 Prozent der Stadtbewohner keine Krankenversicherung.

Als Reaktion darauf kündigte die Regierung im Jahr 2009 an, 850 Milliarden Yuan (127 Milliarden US-Dollar zum heutigen Wechselkurs) zu investieren, um 90 Prozent der Bevölkerung eine Gesundheitsversorgung zu bieten. In den folgenden zwei Jahren fanden intensive Diskussionen zwischen nationalen und regionalen Entscheidungsträgern, Gesundheitsexperten, führenden Persönlichkeiten der Gesellschaft, Journalisten und der Öffentlichkeit statt. Die Beratungen führten zu zahlreichen Änderungen an der vorgeschlagenen Politik. Obwohl das Ergebnis noch nicht perfekt war, fand es großen Anklang und führte zu einer breiten Akzeptanz der Krankenversicherung. Im Jahr 2021 waren 95 Prozent der Chinesen in irgendeiner Form versichert.

Vertrauen statt Null-Covid-Strategie

Natürlich müssen die Überlegungen zu den Covid-19-Impfstoffen schneller vorangetrieben werden und wären mit Kosten verbunden. Die chinesischen Impfstoffe würden auf Kritik stoßen, und einige Menschen würden sich immer noch durch häufige Nebenwirkungen (wie Fieber) oder seltenere Risiken (wie allergische Reaktionen) abgeschreckt fühlen. Andere würden den Umgang der Regierung mit der Pandemie kritisieren, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten.

Doch diese kurzfristigen Kosten sind die langfristigen Vorteile wert, die sich aus dem Aufbau von Vertrauen in die Gesundheitsbehörden und der Erhöhung der Impfraten im Laufe der Zeit ergeben. Wie andere Länder festgestellt haben, kann die Offenlegung negativer Informationen über Impfstoffe kurzfristig die Zurückhaltung der Öffentlichkeit erhöhen, aber sie trägt dazu bei, das Vertrauen zu erhalten und Verschwörungstheorien zu entkräften.

Um das Coronavirus wirksam zu bekämpfen, muss man angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit künftiger Wellen und der Notwendigkeit zusätzlicher Impfungen langfristig denken. Für China ist der Aufbau von Vertrauen noch wichtiger als für andere Länder, da dies ein notwendiger Schritt ist, um von der Null-Covid-Strategie wegzukommen. Diese Umstellung wird natürlich zu mehr Infektionen und Todesfällen führen. Aber eine offene Diskussion über die Impfstoffe kann deren Akzeptanz erhöhen, die Ausbreitung der Krankheit eindämmen und den negativen Auswirkungen auf das öffentliche Vertrauen entgegenwirken.

China muss in dieser Frage dringend für Transparenz sorgen. Je länger es wartet, desto schwieriger wird es sein, seine wirtschaftlich zerstörerische Null-Covid-Politik aufzugeben.

Nancy Qian, Professorin für Managerial Economics and Decision Sciences an der Kellogg School of Management der Northwestern University, ist Gründungsdirektorin des China Econ Lab und des Northwestern’s China Lab und leitet die Kellogg-Initiative für Entwicklungsökonomie. Übersetzung: Andreas Hubig.

Copyright: Project Syndicate 2022.
www.project-syndicate.org

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