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Kommunistische Kaiser üben keine Selbstkritik

Von Johnny Erling
Johnny Erling schreibt die Kolumne für die China.Table Professional Briefings

Nach jeder Wahl von Xi Jinping zum Chefkader folgt das Unterwerfungsritual der Kommmunistischen Partei. 2013, 2017 und zuletzt Ende Dezember vergangenen Jahres rief Xi das Politbüro zur Sondersitzung „Kritik und Selbstkritik“ zusammen.

Xi gab damit zugleich den Startschuss für die fast 100 Millionen Parteimitglieder im Land, es ihren Führern mit eigenen Kritik- und Selbstkritiksitzungen in ihren lokalen Parteizellen gleichzutun. Der Theorie nach sollen sie sich gegenseitig kritisieren und zugleich selbstkritisch ihre eigenen Unzulänglichkeiten eingestehen. Xi verlangt von ihnen, mit sich so aufrichtig ins Gericht zu gehen, bis ihnen „der Schweiß von der Stirn perlt.“  

Xi verlangt, Kritik und Selbstkritik ernst zu nehmen: Ringelreihen mit Rückenkratzer. „Kritik“ tut nicht weh, wenn sich alle nur den Rücken kratzen.

Das von freien Bloggern „Stechen und sich selbst Hauen“ verspottete Verfahren stammt aus der Sowjetunion; Mao kupferte es zur parteiinternen ideologischen Säuberung und Erziehung seiner Partei von Stalin ab. Er nutzte es als Schreckensinstrument für Gehirnwäsche und zur Selbstkasteiung von Millionen Chinesen und weitete es in der Kulturrevolution auf alle aus. Xi führte die Politbüro-Spezialsessions mit seiner Machtübernahme wieder ein.

Nach 2017 wurden die Regeln verschärft. Alle KP-Zellen über Kreisebene müssen die Sitzungen mindestens einmal pro Jahr organisieren. Xi ließ in Kapitel 4 der Verordnung aufnehmen, was er schon 2013 von allen Parteimitgliedern forderte. Jeder müsse zur Selbstkritik „in den Spiegel schauen, seine Kleidung zurechtmachen, sich waschen und seine Krankheiten heilen.“ (照镜子、正衣冠、洗洗澡、治治病). 

Propagandatafel zum Lob des Parteimottos „Kritik und Selbstkritik“. Es ist so wichtig für den chinesischen Sozialismus wie die Staatsfahne, das Tiananmen-Tor und die Große Mauer.

Wer aber von Xi erwartete, mit gutem Vorbild voranzugehen, wurde eines Besseren belehrt. Auf der Politbüro-Kritiksitzung Ende Dezember lobten ihn seine Mitgenossen überschwänglich. Xi sei nicht nur Kern der Partei, sondern als Schöpfer der neuen sozialistischen Lehre für sie auch ideologisches Vorbild. Das wiederholten sie dreimal. Wer würde da noch wagen, Xi zu kritisieren, oder von ihm Selbstkritik zu verlangen? Fehler machen nur die anderen.

Im Februar erfuhr Chinas Öffentlichkeit, dass Xi plötzlich zum entschiedensten Verfechter der Marktwirtschaft aufgestiegen war. Das ZK-Theoriemagazin „Qiushi“ enthüllte, dass er im Dezember dem Zentralkomitee die Leviten gelesen hatte. „Seit geraumer Zeit kursieren in der Gesellschaft unrichtige, gar bewusst falsche Ansichten darüber, ob wir eine sozialistische Marktwirtschaft betreiben und ob wir noch an den zwei Unerschütterlichen festhalten“, also unerschütterlich sowohl die Staats- als auch die Privatwirtschaft gleichermaßen fördern (一段时间以来,社会上对我们是否还搞社会主义市场经济、是否坚持 „两个毫不动摇“ 有一些不正确甚至错误的议论). Danach sagte Xi: „Klar und eindeutig“ müssten alle dazu Position beziehen und sich nicht wie Dummköpfe anstellen (决不含糊).

Das ist selbst für Pekings Propaganda starker Tobak. Schließlich war Xi zuvor öffentlich gegen die Privatwirtschaft, gegen Tech-Plattformen, Monopole und Immobilienspekulanten mit ideologischer Kontrollwut zu Felde gezogen. Nun aber blies er zur Umkehr, um das eingebrochene Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Prompt lobte ihn die Volkszeitung: „Generalsekretär Xi Jinping hat sich immerzu um die gesunde Entwicklung der Privatwirtschaft gekümmert und sie unterstützt“ (习近平总书记一直关心和支持民营经济健康发展).

Die überraschende Umarmung der Privatwirtschaft folgte auf Xis 180-Grad-Wende in der Null-Covid Politik. Statt seinen Sinneswandel zu erklären, rief er sich kurzerhand zum Sieger über die Pandemie aus – nicht trotz, sondern dank seiner Zickzackpolitik.

Karikatur-Entwürfe vom Satire-Altmeister Hua Junwu zum Thema: Wie sich Funktionäre der Selbstkritik entziehen (aus den frühen 1990er-Jahren): etwa mit der Taschenlampe nach anderen leuchten, aber nicht auf sich selbst; krank sein, weil die Medizin zu bitter sei; unangenehme Wahrheiten nicht anhören wollen; Schmutz in das Gesicht bekommen vom dreckigen Handtuch; Null gelernt, weil die Bücher zu schwer waren.

Wie Mao räumt auch Xi nie einen Fehler ein. Da waren Chinas alte Kaiser konzilianter. Sie prägten drei Schriftzeichen: „罪己诏“ (Zui Ji Zhao). Die Staatsenzyklopädie „Meer der Worte“ (Cihai) erklärt den altchinesischen Ausdruck als Begriff für ein imperiales Schuldeingeständnis. „Chinas Herrscher veröffentlichten sogenannte Edikte ihrer Schuld, in denen sie die Verantwortung für schwere Naturkatastrophen oder große Unglücke übernahmen. Sie hofften so, den befürchteten Aufruhr des Volkes beruhigen zu können.“

Mao, der sich in den Dynastie-Geschichten bestens auskannte, hielt allerdings nichts von herrschaftlicher Selbstkritik. Als ihm Revolutionsführer Ho Chi Minh in den 1950er-Jahren anvertraute, er wolle seine Vietnamesen um Verzeihung für linksradikale Fehler bitten, riet ihm Mao eindringlich ab. Auf internen Parteitreffen warnte er andere KP-Führer, solche Fehler nicht zu begehen. Seinem Neffen Mao Yuanxin erklärte der Diktator: „Alle Dynastien, deren Kaiser Schuldgeständnisse vor dem Volk ablegten, gingen danach unter.“

Mao hatte Unrecht, meint Historiker Xiao Han (萧瀚). Er fand in den Annalen Beispiele von 79 Kaisern, die in 2.000-jähriger Dynastiegeschichte 260 Schuld-Edikte veröffentlichten, ohne dass ihre Reiche zusammenbrachen.

Doch der Vorsitzende entzog sich ernsthafter Selbstkritik selbst auf der legendären Mammutkonferenz Anfang 1962, auf der sich Chinas Führung vor 7.000 Funktionären für die von Maos Kollektivierungswahn ausgelösten Hunger-Katastrophe rechtfertigen und um Kurskorrektur bemühen musste. Nach der offiziellen Partei-Biografie (毛泽东传, 1949-1976, S.199) wiegelte Mao auf der Konferenz ab: „Wer Fehler macht, muss sie auch korrigieren. Wenn es meine sind, werde ich sie ändern“ … „Du bist doch der Vorsitzende, musst Du das nicht tun?“ (谁的错误谁就改。是我的错误我要改 … 你当主席嘛,谁叫你当主席?)

Mao wusste, was er verbrochen hatte. Der damalige Staatspräsident Liu Shaoqi sagte es ihm ins Gesicht, nachdem er vom Kannibalismus in seiner und Maos Heimatprovinz Hunan erfuhr: „So viele Menschen sind verhungert. In künftigen Geschichtsbüchern wird Deine und meine Schuld daran und am Kannibalismus vermerkt werden“ (饿死这么多人,历史上要写上你的我的,人相食,要上书的!). Wenige Jahre später ließ Mao Liu bis in dessen Tod verfolgen. Den Vorfall schildert der frühere Vizekulturminister und Historiker Yu Youjun 于幼军 in seinem 2011 offiziell erschienenen Buch „Sozialismus in China 1919 bis 1965“ (社会主义在中国  1919-1965, S.412).

Im berühmten Roten Buch „Worte des Vorsitzenden Mao“ ist das Kapitel 27 Maos Zitaten zur Kritik und Selbstkritik gewidmet. Auch für seinen Kronprinzen Lin Biao wurde während der Kulturrevolution ein Rotes Buch: „Worte des Vize-Vorsitzenden Lin“ gedruckt. Darin findet sich ein eigenes Kapitel mit Lin-Zitaten zu Kritik und Selbstkritik.

„Kritik und Selbstkritik“ nutzte Mao als Herrschaftsinstrument. Die beiden Schlagwörter prägten den Mythos des Maoismus auch im Ausland. In dem während der Kulturrevolution zwischen 1964 und 1976 in mehr als eine Milliarde Exemplare gedruckten und in 20 Weltsprachen übersetzten Roten Buch „Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung“ ist Kapitel 27 Maos Zitaten über „Kritik und Selbstkritik“ gewidmet. Mao fordert, oppositionelle Meinungen kompromisslos zu kritisieren. „Können wir gutheißen, dass irgendein politischer Schmutz unser reines Antlitz befleckt, dass irgendwelche politische Mikroben unseren gesunden Körper anfressen?“ Und Selbstkritik sei nötig „um immer sauber zu sein und den Schmutz zu entfernen, täglich unser Gesicht waschen und den Fußboden fegen.“

Diesen Säuberungsvergleich übernahm ein halbes Jahrhundert später Xi, als er 2013 seine innerparteiliche Erziehungskampagne neu plante und zur „Selbst-Reinigung, Selbst-Perfektion, Selbst-Erneuerung und Selbst-Verbesserung“ aufrief. Heute plant Xi „Kritik und Selbstkritik“-Kampagnen, um in der Partei eine „Selbst-Revolution“ loszutreten, damit sie jedem Versuch zum Regime-Wechsel widersteht.

In dem Parteimotto „Kritik und Selbstkritik“ steckt noch immer das sowjetische Erbe. Als Mao am 1. Oktober 1949 in Peking die Gründung der Volksrepublik ausrief, füllten sich die Buchläden mit Propagandaschriften. Dazu gehörten auch Schulungsbände, wie ein im September 1949 gedrucktes Pamphlet „Über Kritik und Selbstkritik“. Es waren übersetzte Reden Stalins und Aufsätze aus der Prawda dazu.

China übernahm die innerparteiliche Erziehungsmethode „Kritik und Selbstkritik“ aus der Sowjetunion. Eines der frühen Schulungsbücher über Kritik und Selbstkritik mit übersetzten Texten von Stalin und aus der Prawda (erschienen im September 1949).

Sowjetische Kommunisten hatten schon in den 1920er Jahren, beeinflusst von der Russisch-Orthodoxen Kirchenlehre, mit ihren Läuterungsriten und Reue-Zeremonien die Methode Kritik und Selbstkritik entwickelt. Der Nanjinger Historiker Pan Xianghui (潘祥辉) fand heraus, wie stark die Traditionen der tausend Jahre alten Kirche die sowjetische politische Kultur beeinflusst hat.

Bei Chinas Kommunisten tauchten die Begriffe ab 1937 in Maos Schriften auf. Zum Zweck der Umerziehung, Unterwerfung und Selbstläuterung verordnete er seinen Genossen Kritik und Selbstkritik. 1942 nutzte sie Mao für seine erste systematische Parteisäuberungs- und Verfolgungskampagne im Guerillastützpunkt Yan’an (批评与自我批评成为整风运动的基本原则和方法),

Hinter den heute erneut von Xi verfolgten Kampagnen steckt immer noch der Glaube, sich die Parteimitglieder total unterwerfen zu können und der Mythos, sie zu ihm loyal ergebenen, sozialistisch handelnden Menschen mit eigenem Wertekodex umzuwandeln und zu vervollkommnen. Doch auch in China kommt statt dem ersehnten neuen Menschen immer nur der alte Adam zum Vorschein.

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