Themenschwerpunkte


Großmacht der Geheimnisse  

Von Johnny Erling
Johnny Erling schreibt die Kolumne für die China.Table Professional Briefings

Nur wenige Staaten geben so viele Rätsel auf wie das chinesische Reich. Das war schon unter seinen Dynastien so und setzt sich in der Volksrepublik fort. Während KP-Führer ihre Herrschaft als transparent anpreisen, beweisen sie mit ständiger Geheimniskrämerei das Gegenteil. Wie etwa im Umgang mit der vor drei Jahren in Wuhan ausgebrochenen Corona-Pandemie. Am Anfang blockierte Peking jede ernsthafte Suche nach den Ursachen. Am Ende vollzog es über Nacht eine völlige Kehrtwende in seiner Haltung zur Pandemie.

EU-Kammerpräsident Jörg Wuttke, der wie kein anderer Ausländer Chinas Entscheidungsträger kennt und in seinen mehr als drei Jahrzehnten vor Ort auf viele unerklärte Rätsel stieß, kam jetzt aus dem Staunen nicht mehr raus: „Praktisch hatte das Virus drei Jahre lang Peking die Hand geführt“. Dann wurden abrupt alle Signale von Rot auf Grün gestellt. „Was war nur passiert?“ 

Manchmal, wenn zu viel spekuliert wird, lüftet Pekings Führung Geheimnisse – allerdings auf chinesische Art. So hatten die CCTV-Abendnachrichten am 19. Februar vor Chinesisch-Neujahr deutlich Überlänge. Grund war eine Extra-Nachricht kurz vor dem Frühlingsfest. Der CCTV-Sprecher sagte: Parteichef Xi Jinping und alle ZK-Genossen „wünschen den alten Genossen“ alles Gute zum Fest 中央领导同志慰问老同志. Danach begann der Sprecher minutenlang 109 Namen aufzuzählen, ohne Fotos oder Erklärungen zu den jeweiligen Personen.

Eingeweihte wussten: Er las die illustre Rentnerliste der höchsten Partei- und Staatspensionäre vor. Über sie dürfen die Medien nichts schreiben, nicht einmal mitteilen, wie und wo sie ihren Ruhestand verbringen und ob sie noch gesund sind. All das sind Staatsgeheimnisse. Die Partei hat das intern festgelegt.

Nur einmal im Jahr macht sie eine Ausnahme, entbietet den Alten über das Staatsfernsehen ihren Gruß, indem sie ihre Namen aufzählt. Die Zuschauer erfahren, wer noch lebt und wichtiger, wer bei den heute Herrschenden weiter wohlgelitten ist. Die ersten 17 Personen unter den 109 Genannten saßen früher im Politbüroausschuss. Alle anderen waren Entscheider in Partei und Regierung. Sie gehören heute zu Chinas Nomenklatur a.D. 

Nachdem im Dezember der 96-jährige KP-Patriarch Jiang Zemin starb, rückte der 80-jährige Ex-Parteichef Hu Jintao 胡锦涛 auf Platz 1 vor. Es war ein Hinweis, dass Hu die Altenelite anführt, obwohl er vergangenen November beim 20. Parteitag, an dem er als Ehrengast teilnahm, auf Geheiß des derzeitigen KP-Chefs Xi Jinping aus dem Sitzungsaal hinauskomplimentiert wurde. Ganz China tuschelte erregt darüber. 

Darum verschwand Xi

Xi hat Hus Hinauswurf nie erklärt. Was immer geschah, bleibt ein weiteres rätselhaftes Ereignis unter seiner Herrschaft. Xis unaufhaltsamer Aufstieg seit 2012 begann bereits mit einer geheimnisvollen Aktion. Er verschwand vom 1. September 2012 bis zum 15. September ohne Ankündigung plötzlich von der Bildfläche. Dann tauchte er ebenso überraschend wieder auf, ließ sich beim Spaziergang mit hohen Funktionären in einer Universität filmen und dominierte am Abend die CCTV-Hauptnachrichten.

Das wäre kaum erwähnenswert, wenn Xi damals nicht designierter Parteichef kurz vor Beginn des 18. Parteitags gewesen wäre und für seine Auszeit alle Termine platzen ließ, darunter mit US-Außenministerin Hillary Clinton, Singapurs Premier Lee Hsien Loong, mit der Vorsitzenden des russischen Föderationsrats oder Dänemarks Premier. Informell erfuhren sie nur, sorry, Xi hätte sich beim Schwimmen verletzt.   

Jahre später gab mir ein gut vernetzter Parteifunktionär unter der Vorgabe, ihn nicht zu zitieren, eine plausible Erklärung: Xi habe dem Politbüroausschuss ein Ultimatum gestellt und den Machtkampf für sich entschieden. Er werde sich nur zum Parteichef wählen lassen, wenn er zugleich die Befehlsgewalt über die Armee erhalte. Auf dem 18. Parteitag übergab ihm Partei- und Armeechef Hu Jintao beide Ämter. Das zeige, sagte mein Gewährsmann, nicht nur Xis Machtwillen, sondern auch, welchen Einfluss er damals schon innerparteilich hatte.

Katastrophen sind Geheimsache

„Wir sind eine Großmacht der Geheimnisse“, titelte spöttisch im April 2014 das Magazin Yidu 壹读. „Jedes Jahr produzieren die USA 100.000 Verschlusssachen. Bei uns sind es Millionen.“ Ende 2015 wurde die vorlaute Enthüllungszeitschrift eingestellt.

Einst war ohnehin fast alles geheim. Jahrzehntelang durften Todeszahlen nach Fluten oder Erdbeben nicht berichtet werden und erst recht nicht über die millionenfachen Opfer der Mega-Katastrophen und Hungersnöte gesprochen werden, die Maos viele Terror- und Verfolgungskampagnen verschuldet hatten. Drei Jahre dauerte es nach dem verheerenden Großbeben von Tangshan am 28. Juli 1976, bis im November 1979 gemeldet wurde, dass mindestens 240.000 Menschen dabei umgekommen waren. Erst im August 2005 endete die Zensur, große Unfälle oder Unglücke zu melden. Nun durfte auch über verschwiegene Katastrophen berichtet werden. So hatte die Provinzführung von Henan im August 1975 den Bruch des riesigen Banqiao-Staudamms nach Regenstürmen 30 Jahre vertuschen lassen. 2005 wurde bekannt, dass dabei 85.600 Anwohner ertrunken waren. Zehntausende Menschen starben an Epidemien, die den Fluten folgten.    

Chinas Justiz behandelt bis heute alle Informationen darüber, wie viele Todesstrafen ihre Gerichte verhängen und ausführen, als streng geheim. Internationale Rechtsexperten sind überzeugt, dass jährlich mehr Verurteilte in China hingerichtet werden, als in allen anderen Ländern der Welt zusammen.    

Der Panchen Lama wurde ausgetauscht

Nirgendwo lässt sich öffentlich nachlesen, was parteiintern als „Staatsgeheimnis“ angesehen wird. Sicher fallen darunter alle hochsensiblen Ereignisse, etwa das Tiananmen-Massaker am 4. Juni 1989, zu dem alle Fragen verboten sind, was wirklich passierte und wie viele Pekinger starben. Tabu ist nach 27 Jahren auch die Frage, was mit dem tibetischen Knaben Gedhun Choekyi Nyima geschah. Am 14. Mai 1995 wurde er vom Dalai Lama als Wiedergeburt des gestorbenen 10. Panchen Lama anerkannt. Am 17. Mai 1995 verschleppten ihn Chinas Behörden, erklärten die Dalai Lama-Wahl für „ungültig“ und setzten einen anderen Jungen als „echte“ Reinkarnation ein. Der gekidnappte Junge ist seither verschwunden.

Geheimniskrämerei sei ein „essenzieller Bestandteil des Systems und führe zum Rätselraten im öffentlichen Diskurs“ meint Michael Kahn-Ackermann, Sinologe und einst Gründer und Regionalleiter des Goethe-Instituts China. Als Beispiel nennt er das geheimnisvolle alljährliche Ritual, wenn sich die höchste Parteiführung in ihrer Sommerpause im dann hermetisch bewachten Prominenten-Badeort Beidaihe trifft und informell über wichtige Entscheidungen berät. Jede Nachricht darüber unterbleibt, nicht einmal, wann die Führer kommen oder gehen, oder ob sie überhaupt da sind.   

Die USA verstanden die indirekte Geste nicht: Am 1. Oktober 1970 bat Mao zum Nationalfeiertag den US-Journalisten Edgar Snow zu sich auf die Tribüne des Tiananmen-Tores. Er wollte damit signalisieren, dass er sich mit den USA aussöhnen will.

Manchmal dechiffrieren Beobachter über Pekings Andeutungen mit „chinesischen Besonderheiten“, wenn etwas im Busch ist. Die derzeit viel diskutierte und geforderte China-Kompetenz in der westlichen und deutschen Politik müsste solche Signale deuten können. In seinem Standardwerk „Diplomacy“ gesteht Henry Kissinger, der 1972 das Treffen Nixons mit Mao einfädelte, wie seine Chinaexperten versagten. Sie ignorierten etwa Maos „Versuchsballon“, über den US-Journalisten Edgar Snow seine Absicht zu lancieren, sich mit den USA auszusöhnen. Mao hatte Snow am 1. Oktober 1970 eingeladen, neben ihm auf der Brüstung des Tiananmen-Tores zu stehen, um den Nationaltagfeiern zuzuschauen. Kissinger erinnerte sich: „Wir nahmen Maos Geste gar nicht wahr und hielten Snow für ein kommunistisches Werkzeug… Wir beachteten auch nicht sein Interview mit Mao im Dezember 1970, in dem er Nixon einlud, China entweder als Tourist oder als amerikanischer Präsident zu besuchen.“

Snows Artikel am 30. April 1971 in „Life“ wurde von offiziellen US-Stellen nicht wahrgenommen.

Als Journalist in Peking versuchte ich 2001, einem der großen Geheimnisse Chinas auf die Spur zu kommen. Zusammen mit der Pekinger Korrespondentin Eva Corell machte ich mich in der Äußeren Mongolei auf die Suche nach dem Wrack des Flugzeugs von Lin Biao aus dem Jahr 1971. Er war Chinas zweitmächtigster Mann und Maos Kronprinz. Als Lin erfuhr, dass Mao ihm misstraute und er mit seiner Verhaftung rechnen musste, war er mit seiner Trident Typ 1E zuerst nach Kanton geflogen, wo er eine Gegenregierung ausrufen wollte. Als er während des Flugs ins Visier Pekings geriet, ließ er abdrehen und versuchte, über die Äußere Mongolei nach Moskau zu entkommen. Unterwegs musste er am 13. September um 2:50 Uhr früh notlanden. Die Trident zerschellte. Alle neun Insassen verbrannten.  

Soweit die heutigen Erklärungen Pekings.

Wir fanden nach eineinhalb Tagen im Jeep durch Zufall die versteckte Absturzstelle bei Berkh. Sie lag drei Kilometer vor einem Quarzminen-Städtchen und 48 Kilometer von einem Militärflughafen entfernt. Der Flieger wollte dorthin. In jener Nacht sei eine von russischen Experten betriebene Quarzmine erleuchtet gewesen. Der Pilot muss sie als vermuteten Flugplatz angesteuert haben. Als er seinen Irrtum erkannte, wagte er die Notlandung. Lokale Augenzeugen erinnerten sich, dass der Flieger bereits in der Luft brannte.

Maos Kronprinz Lin Biao floh im September 1971 nach einem angeblichen Putschversuch. Lin stürzte dabei auf dem Weg nach Moskau über der Mongolei ab. Ein taubstummer Hirte zeigte mir den Weg zu dem Flugzeugwrack.

Mongolisches Militär hatte die großen Teile und die Motoren einst geborgen. Die Trockenheit der Steppe konservierte 30 Jahre lang Metallsplitter und Flugzeugschrott. Unsere wichtigste Quelle wurde ein ehemaliger Diplomat des mongolischen Außenministeriums, der zu den ersten gehörte, die einst im Morgengrauen des Absturztages im Hubschrauber eintrafen. Sie fanden verkohlte Leichen. Einige Insassen müssen den Crash überlebt haben, weil es Spuren gab, denen zufolge sie vom brennenden Rumpf wegzukriechen versucht hatten.

Fundstücke des Lin Biao-Flugzeugs, das über der Mongolei abstürzte. Die Steine stammen aus einer Quarzmine, die der Pilot irrtümlich für einen Militärflugplatz hielt, der nur 48 Kilometer entfernt war.

Der Beamte, der 1966 in Peking stationiert war, sagte, er habe nicht gewusst, wer die Insassen in Militärkleidung waren, die aus dem mit der Mongolei verfeindeten China eingedrungen waren. Dann aber fand er später unter den geborgenen Papieren einen verkohlten Ausweis des Sohnes von Lin Biao und eine Pistole. An Bord sei geschossen worden, denn sie entdeckten Einschusslöcher in Teilen der Kabinenwand.

Bis heute ist unklar, was an Bord vorfiel, zumal die Black Box fehlt. Warum floh Lin Biao, warum putschte er? Was hatte Mao mit seinem Tod zu tun? Pekings Archive wurden nur in einer kurzen Reformphase geöffnet, dann wieder geschlossen. Die Partei hält China auf Kurs als Großmacht der Geheimnisse.  

Mehr zum Thema

    Der Kreuzzug eines Unbeugbaren
    Finanzsektor wieder fest im Griff der Partei
    Die geplante China-Strategie ist der falsche Weg
    Chinas Aufstieg neu erzählt