
Der Krieg in der Ukraine hat uns schmerzlich vor Augen geführt, wie gefährlich es ist, sich „in guten Zeiten“ von Regimes abhängig zu machen, deren grundlegende Philosophie wir nicht teilen. Sehenden Auges haben wir uns in eine unzulässige Energieabhängigkeit von Moskau begeben, obwohl es genug Warnungen vor den Zielen von Präsident Putin gab.
Nun schaut die Welt auf China, wo das Problem potenziell noch viel größer ist. Wieder in gutem Glauben sind wir in eine kritische Abhängigkeit von China als Absatzmarkt sowie als zentrales Glied in den globalen Lieferketten geraten. Die Abhängigkeit von China als Absatzmarkt wird bei der Autoindustrie besonders deutlich. Volkswagen erwirtschaftet dort 40 Prozent seines Umsatzes. Die Abhängigkeit von China im Rahmen der globalen Lieferketten zeigt sich auch bei Produkten, welche für die angestrebte Energiewende von zentraler Bedeutung sind: Mehr als 80 Prozent aller Solarzellen werden heutzutage in China hergestellt. Bei vielen der zum Einsatz kommenden Industriemetalle, den Seltenen Erden, hat das Land eine marktbeherrschende Stellung. In der Vergangenheit hat es diese zur Durchsetzung politischer Interessen benutzt. Ebenso kommen bis zu 90 Prozent der Vorprodukte für Antibiotika aus China. Als Konsumenten brauchen wir uns nur einige Monate zurückzuerinnern, als die Bekämpfung der Corona-Pandemie am Mangel an FFP2-Masken aus dem Reich der Mitte zu scheitern drohte.
Davos: „China-freie Lieferketten“
Dabei hat sich China in den vergangenen Jahren konsequent als unerbittlicher Systemrivale etabliert. In der jüngsten Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik wird sogar von einem Angriff Chinas auf die liberal-demokratische internationale Ordnung gesprochen. Vor diesem Hintergrund wurde auf dem jüngsten Weltwirtschaftsforum in Davos den Ausführungen eines Teilnehmers der Beratungsfirma McKinsey zufolge von „China-freien Lieferketten“ gesprochen.
Dieser Gedanke ist natürlich weder praktikabel noch wünschenswert. Es ist aber genauso zweifelsfrei richtig, dass wir die hohen Abhängigkeiten von China konsequent und signifikant reduzieren müssen. Die Berücksichtigung politischer Gesichtspunkte bei der strategischen Positionierung der Wirtschaft ist das Gebot der Stunde.
Dabei wäre es wünschenswert, dass wir uns ein kollektives Gedächtnis zulegen, das mehr als nur ein paar kurze Jahre zurückreicht. Wir erinnern uns, bereits ab 1992, also nur drei Jahre nach der Niederschlagung des Tian’anmen-Aufstandes von 1989, mit fliegenden Fahnen und voller bedenkenlosem Optimismus wieder nach China gereist zu sein. Die moralische Entrüstung gegen das aus unserer Sicht unmögliche Vorgehen des Regimes war angesichts des unvergleichlichen Marktpotentials schnell verflogen und vergessen.
Die Reduzierung der Abhängigkeiten von China bedeutet indes nicht, an der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt vorbeizuleben. In China werden heute Produkte hergestellt, die teilweise einen höheren technologischen Standard haben als unsere eigenen, und dieser Trend wird sich nur noch weiter fortsetzen. Die Abkoppelung von dieser Entwicklung reduziert nicht nur unseren Lebensstandard, es schneidet uns auch von technologischem Fortschritt ab und beeinträchtigt die umfassende Kenntnis unseres stärksten Systemrivalen.
So gelingt ein kluger Umgang mit China
Es geht also nicht darum, China-freie Lieferketten auszudenken, sondern die Beziehungen zu China im Rahmen der globalen Lieferketten zu überdenken und neu zu ordnen. In den kommenden Jahren wird die Aufgabe darin bestehen, mehr der heute in China hergestellten Produktion in unsere eigenen Länder zurückzuholen und die Lieferketten derart neu zu gestalten, dass chinesische Firmen zunehmend mehr in Europa produzieren. Diese Art der Arbeitsteilung ist im Falle Chinas neu, aber an anderer Stelle bereits gut etabliert. So haben japanische Unternehmen im Zuge der steten Steigerung des Yen gegenüber dem US-Dollar schon vor Jahren konsequent die Fertigung ins Ausland verlagert und auch deutsche Industrieunternehmen produzieren ja bekanntlich seit Jahren erfolgreich in vielen Teilen der Welt.
Auf diese Weise wird nicht nur unsere Abhängigkeit von China reduziert, es wird auch die Versorgung mit kritischen Rohstoffen wie den Seltenen Erden erleichtert, die chinesische Unternehmen zur Herstellung ihrer Produkte mit nach Europa führen werden. Selbstverständlich wird auch Wertschöpfung und Beschäftigung in unseren Ländern geschaffen.
Die ersten strategischen Partnerschaften dieser Art werden bereits angebahnt. Spektakuläre Unternehmenskäufe wie der von Kuka 2016 sind im Rahmen dieser Strategie dabei nicht erwünscht. Sie zielt vielmehr darauf ab, geeignete lokale Partner zu finden, mit denen der Markt gemeinsam erschlossen werden soll. Möglichen chinesischen Alleingängen sollte mit Vorsicht begegnet werden.
Wie bei anderen Initiativen mit China stellt sich auch hier die Frage nach der Tiefe der Kenntnisse über die potenziellen chinesischen Partner. In diesen Zusammenhang gehört der Vorschlag des Aufbaus einer Open-Source-Datenbank zur effektiven Erfassung notwendiger Informationen zu China und deren Distribution an Regierungen, die Privatwirtschaft und andere Interessenten.
Die außergewöhnlichen Abhängigkeiten von China sind über Jahrzehnte entstanden. Ihre Rückführung ist ein facettenreicher und umfassender Prozess, der uns noch lange herausfordern wird. Der mit dem Wort „Friendshoring“ bezeichnete Aufbau von Produktion in Ländern mit einem ähnlichen Wertegerüst gehört sicherlich zu den geeigneten Maßnahmen.
Die Verlagerung von Produktion durch China nach Europa wiederum ermöglicht eine Verringerung der Abhängigkeiten auf Basis unserer eigenen Governance. Sie kommt der berechtigten Forderung nach einem Ausgleich zwischen politischen und ökonomischen Prioritäten entgegen. Heute ist dieser Trend vom Volumen her noch vernachlässigbar. Doch es ist abzusehen, dass der Aufbau von europäischen Fertigungskapazitäten durch chinesische Unternehmen eine wichtige Alternative darstellen wird.
Dr. Gerhard Hinterhäuser ist Partner bei der Unternehmensberatungsgesellschaft Strategic Minds Company. Er lebt in Asien und Deutschland und war von 2006 bis 2014 Mitglied der Geschäftsführung des Investmenthauses PICC Asset Management in Shanghai. Zu seinen beruflichen Stationen in Asien gehörten die Deutsche Bank, die Hypovereinsbank und die Münchener Rück.