Ein 15-jähriger Internatsschüler wurde am 14. Oktober 2022 als vermisst gemeldet. Sowohl die Schule als auch die örtliche Polizei in Qianshan in der ostchinesischen Provinz Jiangxi erklärten, sie hätten alles in ihrer Macht Stehende getan, um nach ihm zu suchen. Doch die Suche war vermutlich eher flüchtig. Drei Monate später fehlte von Hu Xinyu immer noch jede Spur.
Seine Eltern hatten im Internet schon früh vom Verschwinden ihres Sohnes berichtet und um Hilfe gebeten. Doch erst eine Verschwörungstheorie verschaffte dem Fall landesweite Beachtung: Diese besagte, Hu sei möglicherweise das Opfer eines Untergrundnetzwerkes geworden, das Organe stiehlt und an Menschen verkauft, die eine Transplantation benötigen. Gerüchten zufolge seien örtliche Beamte und sogar Angehörige der Schule daran beteiligt gewesen.
Für diese erschreckende Theorie gab es zwar keine Beweise, doch die Netzgemeinde verbreitete sie munter weiter.
Der Fall ist ein Beispiel für ein gravierendes Problem, das sich die chinesische Regierung selbst zuzuschreiben hat: einen Mangel an Glaubwürdigkeit.
In China sind an jeder Straßenecke Überwachungskameras installiert. Es scheint, als könne die Regierung jeden ausfindig machen und festnehmen, den die Behörden auch nur als ansatzweise gefährlich für die Regierung erachten. Wie konnte es sein, dass sie nicht in der Lage waren, einen Schüler zu finden? Die Öffentlichkeit spekulierte, dass die Behörden der Suche nach einem einfachen Schüler vom Lande einfach keine große Bedeutung zuschrieben, oder, schlimmer noch, dass in der Regierung etwas wirklich Übles im Gange sei.
Der Organhandel wurde beendet (oder nicht?)
China besitzt tatsächlich eine zweifelhafte Bilanz, was die Kontrolle von Organtransplantationen angeht. Der frühere stellvertretende Gesundheitsminister Huang Jiefu räumte ein, dass Kriminellen ohne ihre Zustimmung Organe für Transplantationen entnommen worden sind. Dieses Vorgehen sei jedoch im Jahr 2015 eingestellt worden. Seitdem stammten alle Organe von freiwilligen Spendern.
In der Öffentlichkeit herrscht jedoch weiter die Sorge, dass die Praktik weiter besteht. Wenn ein junger Mann vermisst wird, sagt immer irgendjemand, der arme Kerl sei vielleicht wegen seiner Leber oder Nieren abgeschlachtet worden.
Während die Aufmerksamkeit für den Fall Hu wuchs, heizte ein Artikel zum Gedenken an einen hochrangigen Regierungsbeamten im Ruhestand die Gerüchte über den Organdiebstahl weiter an. Gao Zhanxiang, ein ehemaliger stellvertretender Kulturminister, war im Dezember im Alter von 87 Jahren verstorben, kurz nachdem das Land die Corona-Maßnahmen aufgehoben hatte. Der Artikel lobte Gao für seine optimistische Lebenseinstellung, „obwohl er mehrere Transplantationen erhalten habe“.
Während die Gerüchteküche über Gao brodelte, wurden in den sozialen Medien alte Beiträge über den ehemaligen Finanzminister Jin Renqing ausgegraben. Jin, der im Jahr 2021 im Alter von 77 Jahren starb, soll ein Spenderherz erhalten haben. Das Organ stammte Berichten zufolge von einem 28-jährigen Mann.
Dass hochrangige Partei- und Regierungsbeamte eine erstklassige medizinische Versorgung genießen, ist in China kein Geheimnis. Der Großteil der öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen des Landes geht an amtierende oder pensionierte Politiker und Bürokraten, die sich als Diener des Volkes gerieren. Doch die Vorstellung, dass die Mächtigen die Organe der Schwachen entwenden könnten, traf einen wunden Punkt.
Die Menschen glauben der Polizei nicht
Am 28. Januar wurde die Leiche von Hu schließlich in einem Hof nahe dem Schulgelände gefunden. Es hieß, er habe sich mit einem Schnürsenkel erhängt. Auf eine Pressekonferenz gab die Stadtverwaltung das abschließende Ermittlungsergebnis bekannt: Man ginge davon aus, dass Depressionen infolge des akademischen Drucks die Ursache für den Selbstmord waren. Als Beweis wurden Text- und Sprachnachrichten von Hu vorgelegt.
Diese Schlussfolgerung ließ die Fragen aber nicht verstummen. Kurz nach der Konferenz tauchten in den sozialen Medien Videos auf, die die offizielle Version infrage stellten und in denen die Stärke von Schnürsenkeln getestet wurden.
Hinzukam, dass die Familie von Hu nicht bei der Pressekonferenz anwesend war. Wie die meisten staatlichen Pressekonferenzen in China wirkte auch diese genaustens durchchoreografiert. Sämtliche Fragen schienen den kooperativen Journalisten im Voraus zugewiesen worden zu sein.
Li Lianying, Hus Mutter, galt als die Hauptstimme der Familie. Nach der Pressekonferenz wurden alle ihre Beiträge in den sozialen Medien ohne Angabe von Gründen gelöscht. Von Hus Familie und Mitschülern waren keine weiteren Kommentare zu hören, was wiederum Gerüchte aufkommen ließ, dass ihre Kommunikation mit der Außenwelt streng überwacht werde und die Familie möglicherweise sogar unter Hausarrest stehe.
Hus Familie wurde zum Schweigen gebracht
Auch das ist eine typische Vorgehensweise von Chinas Regierungen auf allen Ebenen, negative Vorfälle zu umgehen: Der Versuch, sie zu kontrollieren. Ihnen ist vermutlich bewusst, dass es innerhalb der Regierung gewisse Dinge gibt, die bei genauerem Hinsehen auffliegen würden. Daher versuchen sie instinktiv – in der Hoffnung, das Problem unauffällig zu lösen – die Dinge zu vertuschen. Ist das nicht möglich, beginnen sie, den Informationsfluss zu kontrollieren und alle zu überwachen, die sich gegen den Willen der Regierung äußern könnten.
Die Welt hat erlebt, wie die Regierung die Informationen über Covid sowohl zu Beginn des Ausbruchs der Krankheit als auch nach dem Ende der Pandemie gehandhabt hat.
Die Behörden gehen davon aus, dass die Menschen mit der Zeit und einem gewissen Grad an Überwachung das Interesse an negativen Vorfällen verlieren. Im besten Fall bricht ein aufsehenerregendes und für die Regierung unbedenkliches Ereignis wie ein Krieg oder ein Erdbeben irgendwo auf der Welt aus und lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit ab. Geschieht dies nicht, könnte auch ein Skandal um einen chinesischen Filmstar oder Entertainer als Ablenkung inszeniert werden.
Dieser Ansatz funktioniert häufig. So ist die öffentliche Diskussion um den Fall Hu tatsächlich nach und nach verstummt. Aber viele Tragödien und die Art und Weise, wie die Regierung damit umgegangen ist, bleiben so manchem im Gedächtnis. Die Skepsis bleibt. Beim nächsten großen Vorfall wird sich das ganze Prozedere dann einfach wiederholen.
Die Glaubwürdigkeit der Regierung steht also immer im Zweifel. Außer in einem speziellen Fall: der nationalistischen Propaganda über Themen wie Taiwan oder irgendeinen heimtückischen Staat.