
Es kam als merkwürdige Koinzidenz: Chinas neugewählter Premier Li Qiang tat auf seiner ersten live übertragenen Pressekonferenz in Peking am vergangenen Montag so, als ob der Journalist das Thema verfehlt habe. Der wollte von ihm wissen, ob ausländische Zweifel über Chinas lange und extrem harte Vorgehensweise gegen Covid-19 berechtigt gewesen seien. „Unsere Strategien und Methoden waren absolut richtig“, verkündete Li und ging nicht darauf ein, wie er Anfang 2022 als damaliger Parteichef von Shanghai 25 Millionen Einwohner zwei Monate lang im Lockdown einsperren ließ. Wie zuvor Parteichef Xi Jinping pries der Premier den „großen entscheidenden Sieg“ der Partei über die Pandemie (取得重大决定性胜利). Weil sie „mehr als drei Jahre dem Grundsatz folgte, dass Mensch und Leben bei uns an erste Stelle kommen.“ (三年多来,我们始终坚持人民至上、生命至上.)

Zur gleichen Zeit durchkämmten staatliche Zensoren Chinas Internet nach allen Nachrichten zum Tod des legendären Arztes Jiang Yanyong, dem es zeitlebens Ernst damit war, das Leben seiner Mitmenschen über alles zu stellen – auch gegen den Willen der Partei. Der ehemalige Chefchirurg starb am Samstag an einer Lungenentzündung im gleichen Pekinger Militär- und Prominentenkrankenhaus 301, wo er 1957 als Arzt angefangen hatte.

Die erste Online-Meldung über seinen Tod verbreitete sich über Weixin (Wechat) Montagfrüh um 6:23 Uhr: „Chinas Arzt Jiang Yanyong ist gestorben. Einst hat er mit einem Satz der Wahrheit das Leben unzähliger Chinesen gerettet. Jeder sollte trauern.“ Zensoren löschten die Nachricht und ersetzten sie durch ihr typisches Verbotssymbol: ein weißes Ausrufezeichen in einer roten Kugel mit einer Warnung vor verbotenen Inhalten.

Anonyme Blogger protestierten am Dienstag gegen die Nachrichtensperre: „Ich trauere! Ewigkeit für Doktor Jiang Yanyong! Gestern ist er gestorben. Wer im Netz sucht, findet diesen Menschen aber nicht.“ (悼!蒋彦永医生千古!昨日去世,全网查无此人.) Die Zensur ging so massiv vor, dass bis Donnerstag kein offizielles Medium Jiangs Tod meldete. Seine Familie durfte am Mittwoch nur mit einer einfachen Zeremonie im Totensaal des Krankenhauses 301 Abschied von ihm nehmen. Alle Kränze für Jiang mussten vorab inspiziert werden.
Prominente Bürgerrechtler nutzten das verbotene Twitter, um zu trauern. Wie etwa der mutige ehemalige Anwalt Pu Zhijiang 浦志强, dem Peking die Lizenz entzogen hat und den sie einsperren ließ. Pu schrieb: „Bevor Corona ausbrach, konnte ich mich mit dem Arzt Jiang noch jedes Jahr treffen. Ich musste beim Wohnblock meine Autonummer anmelden, damit ich durchgelassen wurde. In den letzten Jahren durften weder ich noch die Anwaltskollegen Zhang Zuhua, Mo Shaoping und Shang Baojun zu ihm. Ich hörte, dass sogar seine Schüler strengsten Kontrollen unterzogen wurden, wenn sie den alten Herrn aufsuchen wollten. Da war nichts zu machen. Es gibt Leute, die ihn fürchten.“ (没办法, 有人怕他.)

Damit waren Chinas Parteiführer der vergangenen 20 Jahre gemeint, die ihn isolieren ließen, nachdem Jiang im März 2003 öffentlich aufgedeckt hatte, wie Peking die ausbrechende Sars-Epidemie zu verschleiern versuchte. Zum verfolgten Unruhestifter aber wurde er ein Jahr später, als er 2004 sein Schweigen über den einst von der Partei befohlenen „verbrecherischen Armeeeinsatz“ gegen Studentendemonstrationen brach, der zum Tiananmen-Massaker des 4. Juni 1989 führte. Jiang forderte in einem erschütternden Brief die Parteiführung auf, sich endlich ihrer Verantwortung zu stellen und die unheilvollen Ereignisse aufzuarbeiten.

Er provozierte damit nicht nur die damaligen Machthaber, sondern auch den erst 2012 zum Parteichef gewählten Xi Jinping. Jiang forderte ihn in mehreren Briefen zuerst parteiintern und dann öffentlich auf, endlich die Tiananmen-Proteste vom Vorwurf der Konterrevolution freizusprechen.
Im letzten Brief an Xi vom 10. Oktober 2018, den er im März 2019 an den Volkskongress schickte, schrieb er, die Partei müsse ihre Angst überwinden, dass in China Chaos ausbricht, wenn sie die Ereignisse neu bewertet. Sie wird damit „die Stabilität Chinas absolut nicht gefährden. Im Gegenteil“. Der Armee-Einsatz 1989 sei ihr „schlimmstes Verbrechen“.
Jiang erinnerte Xi dabei an dessen Vater und Politiker Xi Zhongxun während Chinas Reformzeit. Vater Xi habe es selbst gewagt, gegen einen Deng Xiaoping zu protestieren, als dieser den früheren Parteichef Hu Yaobang absetzen ließ, weil er ihm zu liberal war. Der Vater sei in den Raum von Deng gestürzt, er „schlug auf den Tisch und beschimpfte ihn.“ Wie aber verhalten sich Sohn Xi und die heutigen Führer? „Haben sie auch so viel Courage, für eine gerechte Sache einzustehen?“
Jiang machte brisante Details über die Ereignisse 1989 bekannt
Als ich Jiang im Frühsommer 2019 in Peking mehrfach treffen konnte, sagte er mir: „Ich habe fünf solcher Briefe an Xi geschrieben. Antworten habe ich auf keinen einzigen bekommen.“ Sein letzter Brief war besonders brisant. Denn Jiang, der den Rang eines Generalmajors hatte und ein Parteiveteran war, der seit Juli 1952 der KP angehörte, kannte viele chinesische Führer persönlich. Er enthüllte, wie umstritten die von Deng Xiaoping befohlene, blutige Niederschlagung am 4. Juni innerhalb der Parteispitze war. Der damals amtierende Staatspräsident Yang Shangkun hatte auf Befehl von Deng im Mai 1989 zusammen mit Premier Li Peng den Ausnahmezustand über Peking verhängt. Damit konnten die Truppen in die Hauptstadt kommen. Als der Militärarzt Jiang zehn Jahre später Yang Shangkun in seinem Haus aufsuchte, gestand der ihm: „Der vierte Juni war der schwerste Fehler in unserer Parteigeschichte.“ Jetzt sei er nicht korrigierbar, werde es aber in Zukunft sein. Auch von anderen Mächtigen hörte Jiang solche späten Einsichten.
In seinem ersten Brief wegen des Tiananmen-Massakers von 1989, den er im Februar 2004 an die damalige Pekinger Führung schickte, hätte er sich erstmals getraut, Pekings größtes Tabuthema öffentlich anzusprechen, sagte er mir einst. Ihn habe all die Jahre gequält, was er als Chefchirurg in der Nacht auf den 4. Juni miterlebte. Jiangs Militärkrankenhaus 301 lag auf der Einmarschroute der um sich schießenden Truppen, die zu dem von Studenten besetzten Tiananmen-Platz des Himmlischen Friedens vorstießen. Bis Mitternacht wurden ihm 89 Verletzte mit fürchterlichen Wunden eingeliefert. Die Soldaten hätten mit international geächteter Bleimunition geschossen, die beim Aufprall splitterte.

Die damalige Nacht habe ihn verändert und zu seinem Ein-Mann Kreuzzug bewogen, zuerst gegen die Lügen wegen Sars und dann für die Rehabilitierung der Ereignisse und der Opfer des 4. Juni. Nachdem Jiangs Brief öffentlich wurde, sperrten die Behörden ihn und seine Frau am 1. Juni 2004 für 45 Tage ein und stellten sie dann für acht Monate unter Hausarrest. Chinas Partei-Führung beharrte 2004 so wie auch heute unter Xi Jinping, dass die Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 gerechtfertigt gewesen sei. Sie werde diese Vergangenheit niemals neu aufrollen.
Als loyaler Patriot hatte sich Jiang, der aus einer vornehmen Hangzhouer Bankiersfamilie stammte und Verwandte in Taiwan hatte, immer an die KP-Disziplin gehalten. Er schwieg über das, was er in der Kulturrevolution erlitt. Er wurde als Konterrevolutionär brutal verfolgt und verbrachte bis 1971 fünf Jahre lang als Pferdehirt in einem Armee-Straflager auf dem tibetischen Hochplateau Qinghai. Dann brauchte man ihn als Chirurg wieder zurück.
Doch als Arzt geriet er außer sich, als er am 3. April 2003 im Fernsehen mit ansah, wie der damalige Gesundheitsminister Zhang Wenkang die mysteriöse aus Guangdong nach Peking überschwappende Sars-Seuche herunterspielte und log: Sie sei bis auf wenige Einzelfälle „unter Kontrolle“.

Jiang hatte beunruhigt verfolgt, wie täglich immer mehr Neuinfizierte eingeliefert und heimlich auf Pekinger Militärkrankenhäuser verteilt wurden. Er verschickte Brandbriefe an den Staatssender CCTV und den prochinesischen Hongkonger Kabelsender Phoenix TV. Beide ignorierten ihn. Darauf wagte er am 8. April, die Pekinger Korrespondentin Susan Jakes vom US-Magazin Time zu informieren. Zusammen mit Karl Greenfeld, dem Chefredakteur des Asien-Ablegers des Magazins, der Jahre später ein Buch über das Thema veröffentlichte (China Syndrome: The True Story of the 21st Century’s First Great Epidemic), schrieben die Journalisten einen Report, der die Weltgesundheitsorganisation (WTO) alarmierte. Am 20. April gestand die Pekinger Führung auf einer Pressekonferenz 339 SARS-Fälle und viele Tote nur in Peking ein. Sie feuerte den Gesundheitsminister und einen weiteren hohen Beamten.
Peking mobilisierte darauf das Land gegen Sars. Mitte August war die Ausweitung zur pandemischen Gefahr gebannt. Die WHO zählte dank der Zusammenarbeit mit China weltweit nur 8.422 Infizierte und 919 Tote. Mehr als 800 Menschen waren in Festlandchina, Hongkong und auf Taiwan gestorben.
Jiang wurde drei Monate lang als Held gefeiert. Chinas Regierung erließ neue Regeln zur Transparenz und völligen Offenlegung medizinischer Informationen bei Risikofällen. Sie führte 2006 die Meldepflicht für Seuchen und Notfälle ein.
15 Jahre später beim Corona-Ausbruch in Wuhan Anfang 2020 war alles wieder vergessen, wurde wieder verheimlicht, gelogen und getrickst. Der einstige Whistleblower Jiang saß mit seiner Frau Hua Zhongwei im Hausarrest und konnte nur ohnmächtig zuschauen.