
Am 17. April 1978 ist Wenpo Lee Leiter der Forschungsabteilung bei Volkswagen in Wolfsburg. Mit China hatte er abgeschlossen – bis eine chinesische Delegation vor dem Werkstor steht. Wenpo Lee wird in der Folgezeit zu einem der Architekten des China-Geschäfts von VW werden. Damit erlebt er zugleich, wie das Land seinen Aufstieg zur Wirtschaftsmacht gemeistert hat.
„Wenpo, kannst du noch deine Muttersprache?“, rief ein Mitarbeiter der Presseabteilung von Volkswagen am 17. April 1978 aufgeregt ins Telefon.
Wenpo ist mein Vater und zu der Zeit Leiter einer Forschungsabteilung zur Entwicklung sparsamer Motoren bei VW in Wolfsburg. Einspritzmotoren waren eine noch junge Technik, die bis dahin vor allem in teure Fahrzeuge eingebaut wurde. Nun sollte eine Variante entwickelt werden, die für das Massensegment tauglich war, für ein Auto, das jeder bezahlen konnte. Dabei ging es auch um Alternativkraftstoffe. Klimawandel und CO₂-Ausstoß waren zwar noch kein Thema, aber die Ölpreiskrise von 1973 steckte vielen noch in den Knochen. Es gab auch schon die ersten Berichte über sauren Regen und Waldsterben. Und dass es mit den schädlichen Abgaswerten nicht ewig so weitergehen konnte, beschäftigte auch die Abteilung meines Vaters. Zwanzig Jahre später würde der FSI-Motor, an dem sein Team damals arbeitete, im VW Lupo zum Einsatz kommen. Das aber war zu dem Zeitpunkt noch Zukunftsmusik – und auch nicht der Grund des Anrufs an jenem Morgen.
Ob er kommen könne? Am Werktor stünden ein paar Chinesen. Was sie wollen, wisse keiner. Einer von ihnen behaupte, er sei der chinesische Maschinenbauminister.
Deutsche und chinesische Wirtschaftsgeschichte
Natürlich konnte mein Vater noch Chinesisch. Allerdings bezweifelte er, dass ein chinesischer Minister vor dem Werktor stand. Er hielt es nicht einmal für wahrscheinlich, dass es sich um Leute aus der Volksrepublik handelte. Vermutlich waren die Herren eher aus Japan, vielleicht auch aus Südostasien. Sein Kollege aus der Presseabteilung war nicht der Einzige, für den Asiaten alle gleich aussahen. Schon oft war mein Vater für einen Japaner oder einen Vietnamesen gehalten worden.
Auf dem Weg zu den unerwarteten Besuchern beschäftigten meinen Vater Datenauswertungen und Testergebnisse, ein wenig neugierig, wen er antreffen würde, war er auch. Aber dass mit diesem Morgen nicht nur sein Leben ein völlig anderes werden würde, sondern auch deutsche und chinesische Wirtschaftsgeschichte geschrieben würde, ahnte er nicht.
Für meinen Vater gab es bis dahin nur selten Gründe, das berühmte Hauptgebäude des Konzerns mit der braunen Klinkerfassade und dem großen VW-Logo auf dem Dach zu betreten. Es war das höchste Gebäude von Wolfsburg. Ganz oben im zwölften und dreizehnten Stock saßen die Chefs, Vorstandsmitglieder, wie sie offiziell hießen.
Vor dem Werkstor: der chinesische Maschinenbauminister
Als er das Gebäude erreichte, standen dort tatsächlich fünf Chinesen im Eingangsbereich. Man hatte sie inzwischen vom Werktor hierher geleitet. Mit einem Blick erkannte mein Vater, dass es sich nicht um Japaner handelte, auch nicht um Taiwaner oder chinesische Einwanderer aus den USA. Vier von ihnen trugen Anzug und Krawatte, einer hatte eine blaugraue Jacke und eine Hose in derselben Farbe an, einem Einheitsanzug, wie er in China seit Gründung der Republik 1912 üblich war.
Günter Hartwich, Produktionsleiter und Mitglied im VW-Vorstand, hielt gerade eine kurze Begrüßungsansprache. Die Männer wirkten etwas hilflos, aber als sie meinen Vater sahen, hellten sich ihre Gesichter auf. Sie waren sichtlich erleichtert, einen Landsmann zu sehen. Und als mein Vater sie dann auch noch auf Chinesisch ansprach, schienen sie geradezu glücklich zu sein. Einer von ihnen hieß Yang Keng, dem Verhalten nach ganz klar der Anführer. Meinem Vater sagte der Name nichts. Warum auch, China war ihm im Laufe der Jahre fast so fremd geworden, wie es den meisten Bundesbürgern immer schon war. Yang Keng stellte sich als Minister der Volksrepublik China vor, zuständig für Land- und Industriemaschinen.
Yang Keng hatte den Auftrag, Chinas Fahrzeugindustrie, die bis dahin weitgehend aus der Herstellung von Traktoren und Lastwagen bestand, auszuweiten auf Nutzfahrzeuge für den Straßenverkehr, also Busse und große Lkws. Unverhohlen gab der Minister zu, dass sein Land technisch sehr rückständig sei, ihnen das Wissen fehle. Deswegen sei er nach Deutschland gekommen. Er wolle sich deutsche Fahrzeughersteller ansehen und von ihnen lernen. Von PKW oder Kauf war erstmal keine Rede.
Mein Vater war nicht besonders darin geübt zu übersetzen, gab sich aber alle Mühe, zur Verständigung beider Seiten beizutragen. An einigen Stellen musste er etwas weiter ausholen und zusätzliche Erklärungen liefern, simultanes Übersetzen hätte nicht ausgereicht, zu verschieden waren die Welten, in denen die Gesprächspartner lebten.
Vom Flüchtlingsjungen zum VW-Manager
Mein Vater hatte die Welt, aus der die fünf Delegationsmitglieder kamen, vor dreißig Jahren verlassen. In den Wirren des chinesischen Bürgerkriegs war er 1948 als Zwölfjähriger von China nach Taiwan geflohen, hatte sich dort als Flüchtlingsjunge allein durchgeschlagen, bis ihn ein Lehrerehepaar aufnahm und er schließlich zum Studium nach Deutschland ging.
Seit seiner Ankunft in der Bundesrepublik 1962 lief es gut für ihn. Er studierte und promovierte, fand eine Anstellung als Entwicklungsingenieur bei VW. Von seinem ersten Gehalt legte sich mein Vater eine Hi-Fi-Anlage zu. In seiner Studienzeit in Aachen besaß er einen VW-Käfer, den er sich mit einem Kommilitonen teilte, inzwischen fuhr mein Vater einen Passat. In den Siebzigerjahren gab es im Werk nur wenige Ausländer, die es zum Abteilungsleiter geschafft hatten. Und eigentlich war er auch kein Ausländer mehr, seit 1977 besaß er die deutsche Staatsbürgerschaft, war also Deutscher. Als solcher war er vor einigen Monaten erstmals seit seiner Flucht nach China gereist, um seine Eltern wiederzusehen. Seine Heimatstadt Nanjing befand sich, so wie das ganze Land, in einem erbärmlichen Zustand.
Möglich gemacht hatte diesen Besuch die beginnende zaghafte Öffnung Chinas seit dem Tod von Mao Tse-tung im September 1976. Nach ein wenig Machtgerangel war Deng Xiaoping 1978 auf dem Weg an die Staatsspitze und hatte bereits erste Maßnahmen seines Modernisierungskurses eingeleitet. Dass eine chinesische Delegation nach Deutschland reiste, um sich einen Einblick in die hiesige Autoproduktion zu verschaffen, kam also nicht aus heiterem Himmel, sondern war Zeichen einer in den nächsten Jahren stetig voranschreitenden Entwicklung.
VW war von Anfang an mit dabei
Bis zur Grundsteinlegung des ersten Joint-Venture-Werks in Shanghai sollte es zwar noch ein paar Jahre und zahlreiche harte Verhandlungen dauern, 1984 war Volkswagen dennoch eines der ersten westlichen Unternehmen, das in dem aufstrebenden Land mit über einer Milliarde Menschen eine Dependance eröffnete.
Seither hat es Volkswagen geschafft, mehr als drei Jahrzehnte den Spitzenplatz bei den Autoverkäufen in China zu belegen. Diesen Rang verliert VW nun im Zuge der E-Mobilität, bei der die chinesische Konkurrenz erstmals die Nase vorn hat. Die VW-Gesamtstatistik steckt dennoch voller Superlative. Aus den drei Werken, die mein Vater ab 1978 in China mit angeschoben hat, sind inzwischen vierunddreißig Auto- und Komponentenwerke geworden. Jeder fünfte Neuwagen in China stammt aus einer VW-Fabrik. Über 90.000 Arbeitsplätze hat Volkswagen auf diese Weise in China geschaffen. Jedes zweite Auto, das VW 2021 fertigte, wurde an Chinesen ausgeliefert.
Prompt stellt sich die Frage der Abhängigkeit. Sie spielte so lange keine Rolle, solange China ein aufstrebendes, aber immer noch unterentwickeltes Land war und die ausländischen den chinesischen Unternehmen technologisch, finanziell und auch im Management überlegen waren. Und das war China viele Jahre auch: bescheiden, dankbar, zugleich lern- und wissbegierig.
Felix Lee: „China, mein Vater und ich. Über den Aufstieg einer Supermacht und was Familie Lee aus Wolfsburg damit zu tun hat“, Ch. Links Verlag, 256 Seiten, ISBN 978-3-96289-169-5, auch als E-Book erhältlich. Erscheint am 14. März 2023.