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Der große Run ins Ausland

Mitte 1949 standen die Kommunisten kurz davor, ganz China zu erobern; Chiang Kai-shek und seine Regierung der Republik China flohen nach Taiwan. Wohlhabende Chinesen standen vor der Wahl: gehen oder bleiben? Für manche sollte sich ihre Entscheidung als fatal erweisen. Denn die Volksrepublik begann Mitte der 1950er-Jahre, die Ausreise chinesischer Bürger streng zu kontrollieren.

Diejenigen, die das Land vorher schon verlassen hatte, befanden sich in Sicherheit. Diejenigen, die blieben – darunter auch Auslandschinesen, die zu dieser Zeit mit dem Ziel zurückkehrten, das neue China aufzubauen – sollten in den nächsten Jahrzehnten unendliches Leid erfahren: Enteignung von Vermögenswerten, politische Säuberungen, Hungersnöte und die chinesische Version des Gulag. Viele starben durch unrechtmäßige Hinrichtungen, physische Folter oder durch ihre eigene Hand. 

Fliehen, solange die Türen offen sind

Diese Episode der Geschichte war in den vergangenen Jahren häufig Thema in den chinesischen sozialen Medien. Die Lehre daraus: Man muss die Lage nüchtern betrachten und entschlossen handeln, wenn es Zeit ist, fortzugehen. Seit letztem Jahr jedoch scheint es, als sei bereits ein Konsens erreicht: Schnell weg! Es könnte der Tag kommen, an dem das Land seine Türen ganz schließt oder andere Länder Chinesen den Zugang verwehren.

So wurde der Begriff Runologie (润学) geprägt. Dabei geht es um die Wissenschaft vom Wegrennen. Also darum, wohin man fliehen kann, wie man eine Aufenthaltsgenehmigung oder den Pass eines anderen Landes erhält, sowie um praktische Dinge: Die Umgehung der Finanzkontrolle, um sein Vermögen ins Ausland zu verlagern etwa, oder wie man im Ausland eine gute Schule für seine Kinder findet. 

In diesem Beitrag geht es nicht um junge Menschen, die sich für ein Auslandsstudium entscheiden. Einige mögen durchaus die Absicht haben, dieses als Möglichkeit zur Flucht zu nutzen. Es geht hier auch nicht so sehr um fliehende Geringverdiener, die erst in Mittelamerika landen – und dann ihr Leben riskieren, um sich als illegale Einwanderer in die USA durchzuschlagen. 

Stattdessen befassen wir uns hier eher mit vergleichsweise wohlhabenden Menschen ab Mitte Dreißig, die bereits eine Karriere und eine eigene Familie in China haben.

Auswanderung: Korrupte Reiche waren nur die Vorhut

Die durch das Misstrauen gegenüber dem Regime der Kommunistischen Partei ausgelöste Auswanderung begann in den frühen 2000er-Jahren, als die boomende chinesische Wirtschaft Milliardäre hervorbrachte – hauptsächlich Geschäftsleute, korrupte Beamte und Superstars. Ihre bevorzugten Ziele für sich selbst und ihre Ehepartner und Kinder waren Kanada, die Vereinigten Staaten und Australien.

Aber nur die wenigsten hatten vor, sich dort wirklich niederzulassen. Sie erwarben Aufenthaltsgenehmigungen oder Staatsbürgerschaften, um ihr Vermögen vor einem launischen Regime zu schützen und einen sicheren Hafen für den Fall zu haben, dass das politische Umfeld zuhause gefährlicher werden sollte.

Ihre Kinder besuchten dort die Schule oder studierten, manchmal blieben auch ihre Mütter bei ihnen. Die übrigen Erwachsenen kehrten nach China zurück, nachdem ihr rechtlicher Status im Gastland gesichert war. Einige pendelten hin und her. Damals war China noch der Ort, an dem man leicht zu Geld kommen konnte. Korrupte Beamte kehrten natürlich nicht zurück, weil sie ja auf der Flucht waren.

Während sich die Zahl der reichen Chinesen in den folgenden Jahren vervielfachte, eröffneten sich auch mehr Auswanderungsziele, insbesondere in Europa. Im Zuge der Finanzkrise im Jahr 2008 legten Spanien, Portugal, Griechenland und Malta Programme à la „Pässe für Investitionen“ auf. Von diesen Programmen profitierten nicht nur die Superreichen, sondern auch die nur „relativ Reichen“. 

Einer der beliebtesten Vorzüge dieser Länder ist eine hochwertige und kostengünstige Bildung. Tatsächlich ist seit 2013, als die chinesische Regierung die ideologische Zügel auf allen Bildungsebenen enger gezogen hatte, das Thema Bildung zu einem Hauptgrund für die Auswanderung geworden. Gerade viele Menschen aus der Mittelschicht flohen aus Sorge um eine kommende Generation, die einer Gehirnwäsche unterzogen wird.

Der eigentliche Run wurde vom Lockdown ausgelöst

Dann kam Covid mit seinen drakonischen Maßnahmen. Die Überwachung der Menschen wurde verstärkt und ihre Reisefreiheit eingeschränkt, sowohl im Inland als auch außerhalb des Landes. Ängste und Frustration gingen durch die Decke. 

Geboren und zum geflügelten Wort wurde die Runologie aber erst, als Shanghai – Chinas kultivierteste und kosmopolitischste Stadt – drei Monate lang streng abgeriegelt wurde. Berichte, dass viele Menschen in dieser wohlhabenden Stadt wochenlang nicht genug zu essen hatten und von der notwendigen medizinischen Versorgung abgeschnitten waren, erschreckten jeden im Land, der noch einigermaßen unabhängig denken kann.

Die Katastrophe von Schanghai war ein Moment der Wahrheit. Viele erkannten, dass unter einem wahnsinnigen Führer und einer Partei, die nicht in der Lage ist, sich selbst zu korrigieren, von Menschen verursachte Katastrophen wie die große Hungersnot zwischen 1959 und 1961 nicht auszuschließen sind.

Was jetzt auf dem Spiel steht, sind nicht mehr nur das Vermögen, die Ausbildung und die Zukunft der Kinder, sondern auch das Überleben aller Familienmitglieder. 

Die Abriegelung von Shanghai wurde im Juni aufgehoben. Zwei Monate später kamen die Drohungen von einer anderen Front: Taiwan. Nach dem Besuch der Insel durch die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, deuteten eine Reihe von Maßnahmen Chinas und Gegenmaßnahmen der USA und ihrer Verbündeten auf die Möglichkeit einer ernsthaften Eskalation hin. 

Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Xi Jinping von seiner Absicht, ein totalitäres Regime aufzubauen und „Taiwan mit dem Vaterland zu vereinen“, abrücken wird. Ein Gefühl der Anspannung liegt in der Luft, während man auf die nächste Hiobsbotschaft wartet. In einer solchen Atmosphäre ist die Runologie eine nutzbringende Wissenschaft.

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