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1,4 Milliarden Namen – Big Brother kennt sie alle

Von Johnny Erling
Ein Bild von Johnny Erling aus dem Jahre 2017

Der Familienrat trat Wochen vor der Geburt der Tochter zusammen. Eltern und Großeltern suchten einen passenden Vornamen. Er sollte sinnvoll sein, gut klingen, sich leicht schreiben und aussprechen lassen. Der angehende Großvater schlug im Buch der Orakel (Yiqing) und bei Konfuzius nach; der Vater surfte online. Ihre Wahl fiel auf das Doppel-Zeichen „YouYou“ (有有). Es bedeutet „etwas haben, oder etwas ist vorhanden“. Das Zeichen steckt als Glücksymbol im Yiqing und im Sinnspruch der Philosophie: Wu Zhong Sheng You – Aus Nichts entsteht das You. Die Mutter mochte den melodischen Klang, wenn bei der Aussprache von You der dritte Ton durch Verdopplung swingt.     

Das war 2006. Die Beijinger Familie schilderte mir, wie sie auf traditionellem Weg den Rufnamen fanden, der nach chinesischer Sitte hinter dem Familiennamen des Vaters steht. Die Polizeibehörde registrierte die Tochter nach Vorlage ihres Geburtsscheins, dem Nachweis, Einzelkind zu sein und der Meldebestätigung (Hukou) ihres Wohnsitzes mit einer 18stelligen Nummer.   

Die neue Freiheit der Namensgebung

Heute geht es einfacher zu. Zahlreiche preiswerte Apps erleichtern die Suche nach dem passenden Namen. Vor allem haben Eltern erstmals einen Rechtsanspruch, den Nach- und Vornamen (姓名权) ihres Kindes selbst zu bestimmen. Seit 1. Januar ist das erste Zivilgesetzbuch der Volksrepublik China (民法典) in Kraft. Es regelt in mehreren Artikeln, dass Namen natürlicher Personen frei „entschieden, genutzt und verändert“ werden dürfen, solange diese nicht gegen den allgemeinen guten Geschmack verstoßen. Oder, wenn andere gerechtfertigte Gründe dagegen vorliegen. Etwa wie Mitte 2017. Da ließen Parteibehörden im Zuge ihrer Unterdrückung der Uiguren islamistische Reizworte als Teil des Namens verbieten. Sie vermuteten Aufstachelung zum „Heiligen Krieg“ oder Separatismus. 

Immerhin verbrieft das neue Gesetz ein Mehr an Gleichberechtigung. Wegen des „Wandels in den sozialen Normen und dem Ende der „Ein Kind-Familie“ 2016 dürfen Neugeborene den Nachnamen ihrer Mutter übernehmen. Das machte sich bei der im Jahr 2020 geborenen Generation (10,035 Millionen Kinder) schon bemerkbar. Dennoch: Auf jeweils 12 Kinder, die den Nachnamen des Vaters übernahmen, kam erst eines, das den Namen der Mutter trägt.   

Das alles geht aus dem „Nationalen Report über die Namen in China 2020“ hervor, der auf der Webseite der Polizei veröffentlicht wurde. Darin brüstet sich das Ministerium für Öffentliche Sicherheit, die Erfassung der Namen zum Baustein seiner seit 2018 verfolgten „Big-Data-Strategie“ gemacht zu haben. Die Digitalisierung sei so fortgeschritten, dass „wir das weltweit größte Informations- und Verwaltungssystem über die Bevölkerung errichtet haben.“ Chinas heute 1,4 Milliarden Menschen, die mit ihrem Hukou (Bleiberecht) registriert sind, könnten sie über „alle Lebensphasen und landesweiter Migration“ nachverfolgen. Das Problem: Die enorme Fülle an Namen und Daten sind der Rohstoff zur Entwicklung ausgefeilter Überwachungstechniken. China ist heute bereits bei der Identifikation von Gesichtern mit Hilfe Künstlicher Intelligenz weltweit führend.  

Wang heißen 100 Millionen Menschen

Nach dem Polizeireport sollen Chinas Namen seit mehr als 5000 Jahren bestehen. Ein 2010 erschienenes Großwörterbuch für Nachnamen in China (中国姓氏大辞典) erfasst 23.813 Familiennamen. Davon seien heute 6150 noch im Umlauf. Die Namen, die die Mehrheit aller Chinesen (85 Prozent) tragen, fallen unter die „Liste der 100 Nachnamen“ (baijiaxing). 2020 hörte sogar jeder Dritte (30.8 Prozent) unter den 1,4 Milliarden Menschen auf einen unter den ersten fünf Familiennamen aus der Liste: Wang, Li, Zhang, Liu oder Chen  (王,李, 张, 刘, 陈“). Wang – so heißen allein mehr als 100 Millionen Personen in China.  

Weil viele Eltern dann auch noch denselben Vornamen für ihre Kinder auswählen, wird alles doppelt-gemoppelt. Massen gleichnamiger Chinesen bevölkern die Volksrepublik. Kein Wunder, dass die Polizei ihre Landsleute mit einem Online-Service zum Namenscheck in allen 31 Provinzen und Stadtstaaten ermutigen will, damit sie seltenere, oder mehrsilbige Vornamen wählen. Für statistische Erhebungen (auch für die Polizeifahndung) ist der derzeitige Zustand ein Albtraum, solange Hunderttausende unter jeweils nur einem Namen registriert sind.

Weidong – geboren Ende der 50iger Jahre   

Eine Tabelle im Polizeireport analysiert, wie die Wahl der Vornamen vom Zeitgeist zwischen 1949 bis 2019 abhing und sich alle zehn Jahre änderte. Dabei zeigt sich, dass manche Eltern wohl den Rufnamen ihrer Kinder zum Ausweis für ihre öffentlich demonstrierte Begeisterung für das Regime machten.  Chinesen mit Vornamen wie „Jianguo“ (Aufbau des Staates)  oder  „Xinhua“ (Neues China) sind meist um 1950 geboren. Aus Abkürzungen für absurde politische Kampagnen generierten sich viele Vornamen. Wer etwa „Zhaoying“ (Überholt England) hieß, wurde Ende der 50er Jahre geboren. „Weidong“ (Verteidigt Mao Zedong) fiel in die Zeit der Kulturrevolution, ebenso wie gerne als Vornamen verwandte Symbolwörter  wie  „Rote Sonne“, „Roter Fels“  bis zur „Meereswelle“. Erst nach dem Tod Maos 1976 wurde nach und nach die Namensgebung weitgehend entpolitisiert. In Vornamen spiegelten sich Wünsche für die Zukunft ihrer Kinder, Kult aus Film, Musik und Sport, Liebe zur Landschaft und Kultur oder erneut der Rückgriff auf klassische Namen.  

Chinas Wort für Familienname „Xing“ (姓) setzt sich aus den Schriftzeichen für Frau und Geburt zusammen. Es leitet sich vom Matriarchat in Chinas Urgesellschaft ab, schreibt der Polizeireport. Erst vor 2000 Jahren bildete sich nach der Reichseinigung und einheitlichen Verwaltungsreformen das heutige vom Vater geprägte Namenssystem heraus. Die Digitalisierung führt nun zu einer neuen Normierung, die 1,4 Milliarden Chinesen auch über die Erfassung ihrer Namen zu gläsernen Menschen macht. 

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